01.07.2019

Illiberaler Strafrechts-Feminismus

Von Monika Frommel

Titelbild

Foto: Simon Law via Flickr (CC BY-SA 2.0 / bearbeitet)

Das neue Sexualstrafrecht schließt keine „Schutzlücken“, sondern remoralisiert. Freiheitliche Prinzipien wurden durch einen infantilisierenden Schutzgedanken verdrängt

Die Neuregelung des Sexualstrafrechts, das hierzulande im 13. Abschnitt des Strafgesetzbuchs (StGB) zusammengefasst wird, ist folgenreich. Sie trat im November 2016 unter der Überschrift „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ in Kraft. Wohlmeinende finden, man solle dem Gesetzgeber raten, nachzubessern. Davon rate ich ab. Eine Gesetzgebung, die seit fast 20 Jahren (die letzte noch gut durchdachte Reform stammt von 1997) in jeder Legislaturperiode „nachbessert“ und gelegentlich sogar mehrfach (so unter Heiko Maas 2015), geht offenbar von falschen Prämissen aus. Sie sollte also innehalten.

Eine der falschen Prämissen ist die Rede von den „Schutzlücken“. Das Sexualstrafrecht hat nicht mehr oder weniger „Lücken“ als andere Gebiete des materiellen Strafrechts auch. Man nennt das die Ultima Ratio des Strafrechts. Maternalistisch gedacht – also im Sinne einer vor allem auf moralische Bevormundung und Strafrechtsverschärfungen setzenden Spielart des Feminismus – wird Strafrecht zur prima ratio einer auf Empörung zielenden Kampagne. Die letzten Reformen sind von diesem Denken getragen. Auch ist die Selektivität der Strafverfolgung bei Sexualdelikten nicht auffällig, sondern entspricht in etwa dem, was Kriminologen bei Delikten erwarten, die entweder viele unbekannte Verdächtige betreffen oder aus einer komplexen Vorgeschichte heraus begangen worden sind. Erweitert man daher die Strafbarkeit, was 2016 geschehen ist, dann ergeben sich lediglich neue Probleme. Strafrecht wird unbestimmt, die Strafverfolgungsorgane werden überlastet und müssen in erster Linie darauf achten, diese Überlastung zu bewältigen. Auch Feministen, die an die Normen bestätigende Wirkung von Strafrecht glauben, sollten erkennen, dass diese Kraft längst erschöpft ist. Außerdem ist es nicht das System Strafverfolgung, welches versagt. Dieser Eindruck entsteht, wenn Kritiker glauben, von nicht selten medial aufgeblasenen Einzelfällen – wie dem Fall Wedel oder der Kölner Silvesternacht – auf das Ganze schließen zu können. Bevor sie dies tun, sollten auch sie eine interdisziplinäre Studie zu Rate ziehen, eine Studie also, bei der nicht nur Vertreterinnen der Frauenforschung beteiligt sind.1

Von Selbstbestimmung zu Respekt

Völlig neu sind zwei Vergehenstatbestände in § 177 StGB über sexuelle Übergriffe, sexuelle Nötigung und Vergewaltigung. Absatz 1 normiert „sexuelle Übergriffe“ und ist der Kern der „Nein heißt Nein“-Lösung, Absatz 2 ersetzt den gestrichenen § 179 und ist nun ein sehr weit gefasster Missbrauchstatbestand. Er betrifft Behinderte, Jugendliche und auch sonst nur eingeschränkt zu einem wirksamen „Nein“ fähige Personen, was immer das bedeuten soll. Hochproblematisch ist ferner § 184j, der „Straftaten aus Gruppen“ regelt. Der hier formulierte Auffangtatbestand der „Belästigung“ beseitigt die noch aus den 1970er-Jahren stammende Einschränkung des Sexualstrafrechts und stellt nun auch nicht erhebliche sexuelle Belästigungen unter Strafe.

„Die neue Sexualmoral lautet: Sexualität soll in bestimmten Institutionen bewusst tabuisiert werden.“

Dadurch wird die Systematik, welche seit der Großen Strafrechtsreform gegolten hat, nicht nur verändert, sondern völlig beseitigt. Damals war man sich einig, dass die Tatbestände des Sexualstrafrechts nur bei „erheblichen“ sexuellen Handlungen erfüllt sein sollen. Die materielle Einschränkung der Strafbarkeit, welche der künftigen Gesetzgebung an zahlreichen Stellen zu empfehlen wäre, hatte einen guten Grund. Sie sollte zum einen eine Moralisierung des Strafrechts und zum anderen die Häufung strittiger Grenzfälle verhindern. Erreicht werden sollte dies bereits im Wortlaut der Vorschriften. Ausdrückliches Ziel der Reform war es, ein „Bagatell-Sexualstrafrecht“ zu verhindern. Hingegen soll nach dem Willen der Reformprotagonisten von 2016 dieses Paradigma der Großen Strafrechtsreform fallen und durch ein neues ersetzt werden. Dies ist zweifellos gelungen. Ob die Durchsetzung normativ nachvollziehbar ist, bleibt eine ganz andere Frage.

War das Rechtsgut bislang ein Ausschnitt des sexuellen Selbstbestimmungsrechts und beinhaltete das Ziel, frei von Zwang über sexuelle Kontakte mit anderen zu entscheiden, ist das Rechtsgut nun erheblich erweitert worden und könnte mit Respekt vor der selbstbestimmten Sexualität eines jeden Menschen umschrieben werden. Hierbei ging es mitnichten nur darum, sogenannte „Schutzlücken“, deren Existenz freilich eine notwendige Bedingung einer freiheitlichen Rechtsordnung darstellen, zu schließen. Ziel war die Erweiterung des Sexualstrafrechts. Dass die Achtung und der Respekt als Menschenrecht angesehen werden, deren umfassender Schutz insbesondere strafrechtlich zu erfolgen habe, ist folgenreich und soll noch erörtert werden. Hat sich der Verbrechenstatbestand der alten Sexualstrafrechtsfassung noch auf nötigende Einwirkungen beschränkt, sind nun voraussetzungslos jeder Übergriff und jede Belästigung verboten. Auch werden Missbrauch und Nötigung nicht mehr unterschieden. Erwachsene werden seit November 2016 so behandelt wie früher Jugendliche: Sie sollen vor Übergriffen und Belästigungen jeder Art geschützt werden. Das neue System erinnert sogar an Enthaltsamkeitsgebote, wie sie in bestimmten sozialen Kontexten (Therapie, Inhaftierung, Krankenhaus) bereits vor 2016 vereinzelt vorkamen. Die neue Sexualmoral lautet: Sexualität soll in bestimmten Institutionen bewusst tabuisiert werden. Der Schutzgedanke steht im Vordergrund – nicht, wie noch in den 1970er-Jahren, die Freiheit.

Sex als Tat?

Liest man die einzelnen Tatbestände des neuen § 177 unvoreingenommen, wundert man sich darüber, dass im Grundtatbestand des Absatz 1 offenbar daran gedacht ist, sexuelle Handlungen als Tathandlung zu konzipieren. Dieses Verständnis irritiert, da das Unrecht erst durch das Merkmal des entgegenstehenden Willens umschrieben werden kann und bei einem Vorsatzdelikt dieses erst verwirklicht ist, wenn der Tatverdächtige alle Merkmale des objektiven Tatbestandes auch erkennt und dennoch planvoll den entgegenstehenden Willen übergeht. Nach den Motiven der Neuregelung soll diese Einschränkung durch die Annahme, dass dieser Tatbestand auch mit bedingtem Vorsatz verwirklicht werden kann, übergangen werden. Aber verfassungskonforme Auslegung, bei offenkundig misslungenen Tatbeständen nötig, kann hier korrigieren. Sexuelle Handlungen als solche sind aus strafrechtlicher Perspektive zunächst einmal neutral. Dies macht der Zusatz „gegen den erkennbaren Willen“ auch deutlich. Aber der Wille einer Person ist schwer erkennbar. Als objektives Tatbestandsmerkmal ist eine Zuschreibung, welche ja im Auge des Betrachters liegt, äußerst problematisch. Wird an den Vorsatz keine nähere Anforderung gestellt, wie bei dieser Neufassung, muss erneut einschränkend ausgelegt werden. Hätte man formuliert: „ein sexueller Übergriff gegen den erkennbaren und erkannten Willen einer Person wird [...] bestraft“, wären Zweifel ausgeräumt. Nun müssen sie durch Auslegung beseitigt und gegebenenfalls obergerichtlich geklärt werden.

„Der Verdächtigte kann leicht unter Druck gesetzt werden, auch wenn keine belastbaren Beweise vorliegen, einer Einstellung mit Auflagen und Bußgeldern zuzustimmen.“

Der klassische § 177, wie man ihn – über alle Reformen der letzten Jahre hinweg – seit dem Jahr 1871 kannte, ist mit der Neuregelung erheblich erweitert worden und nun eine Qualifikation des Grundtatbestands des „sexuellen Übergriffs“, also eines weit gefassten Vergehens. Das Problem der nicht weiter definierten Tathandlung dieses Grundtatbestandes verschärft sich somit, weil auch die Qualifikationen der Verbrechenstatbestände auf dem Grundtatbestand aufbauen und weil außerdem manche Absätze sehr offen formuliert sind. Wie soll verfahren werden mit einem Verbrechenstatbestand, der lakonisch formuliert: wer „gegenüber dem Opfer Gewalt anwendet“? Was bedeutet dies, um ein Beispiel zu nennen, etwa in einem sadomasochistischen Zusammenhang? Welcher Gewaltbegriff soll genügen? Kommt für den Strafbarkeitsausschluss nur die rechtfertigende Einwilligung in Betracht? Die Liste der Ungereimtheiten lässt sich fortsetzen. In einem Absatz scheint die Tathandlung ein besonders erniedrigender Beischlaf zu sein. Aus dem Kontext ist klar, dass das Merkmal des „erkennbar entgegenstehenden Willens“ die Weite dieser unbestimmten Qualifikation einschränken soll. Aber auch diese Erwartung sprengt die Gewohnheit, welche die Prinzipien eines rechtsstaatlichen und liberalen Strafrechts geformt hatten, die seit den 1970er-Jahren weitgehend unbestritten waren und nun nicht mehr gelten sollen.

Übergriffe und Vorsatz

Die Schwierigkeiten der Auslegung der Verbrechenstatbestände legen es nahe, zunächst einmal zu prüfen, wie der als Grundtatbestand bezeichnete sexuelle Übergriff zu bestimmen ist. Es ist anzunehmen, dass künftig in der Praxis sogar die meisten Fälle diesen Vergehenstatbestand betreffen werden. Auch dies ist aus der Perspektive eines rechtsstaatlich liberalen Strafrechts kritisch zu sehen, denn bei Vergehen hat die Staatsanwaltschaft sehr viel mehr Möglichkeiten zu reagieren als bei einem Verbrechenstatbestand. Sie muss nicht überlegen, ob sie anklagt oder einstellt, sondern sie kann zwischen den diversen Erledigungsarten wählen. Zwar erleichtert dies die Entscheidung der mutmaßlich Geschädigten, eine Anzeige zu stellen, was auch erkennbar das Ziel der Neuregelung war; denn beklagt wurde während des gesamten Gesetzgebungsverfahrens, dass das frühere Recht „Schutzlücken“ habe, was auch immer darunter verstanden wurde. Jedenfalls wollten diejenigen, die für die dann durchgeführte Reform plädiert hatten, auch das Anzeigeverhalten steigern. Betrachtet man das neue Recht aus der Perspektive einer ohnehin überlastenden Staatsanwaltschaft, hat es durchaus Vorteile: Der Verdächtigte kann leicht unter Druck gesetzt werden, auch wenn keine belastbaren Beweise vorliegen, einer Diversion zuzustimmen. Er wird schon deshalb geneigt sein, einer Einstellung mit Auflagen und Bußgeldern zuzustimmen, weil er dann nicht mit der Publizität rechnen muss, welche ein förmliches Verfahren sicher mit sich bringt.

Wie bereits erwähnt, ist die Tathandlung unklar formuliert. Zwar ist der Kern des Vorwurfs des „Übergriffs“ klar, aber er ist nicht begrifflich definiert und scheint darüber hinaus sogar undefinierbar. Verboten ist nach dem Wortlaut eine sexuelle Handlung „gegen den erkennbaren Willen“ der betroffenen Person. Aber mit der ungewöhnlichen Formulierung der „Erkennbarkeit“ kann eine Objektivierung nicht erreicht werden. Dieses objektive Tatbestandsmerkmal kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es bei „sexuellen Übergriffen“ häufig zu Aussage-gegen-Aussage- Konstellationen kommen wird, weil nun einmal die Situation einer ambivalenten sexuellen Zudringlichkeit nicht so eindeutig sein wird, dass sich das fehlende Einverständnis jedem Beobachter aufdrängt. Die Perspektive eines unbeteiligten Dritten (ex ante) hat also nur eine beschränkte Filterwirkung. Auch wird es deutlich seltener belastbare Beweise geben, als bei gewaltsam erzwungenen sexuellen Handlungen.

„Die sexualisierte Gewalt ist in der Neufassung des Verbrechenstatbestandes erweitert worden und dadurch unklar geworden.“

Damit verlagert sich der Schwerpunkt der Prüfung – trotz des Versuchs der Objektivierung – auf den im Einzelnen festzustellenden Vorsatz, also auf die Frage, ob der Verdächtige den entgegenstehenden Willen tatsächlich erkannt hat. Aber auch hier bleibt unklar, welche Anforderungen der Vorsatzlehre konkret zu stellen sind. Zwar genügt nach allgemeiner Auffassung bei Vorsatzdelikten auch bedingter Vorsatz. Aber was bedeutet das bei sexuellen Übergriffen? Zwar könnte man – was die Motive zu dieser Reform nahelegen – konstruieren, dass der Tatbestand immer schon dann erfüllt sei, wenn der Verdächtige es zumindest ernstlich für möglich gehalten hat, dass der für Dritte erkennbare Wille tatsächlich gefehlt hat. Aber kann man das kognitive Element des Vorsatzes so leicht bejahen? Diese Frage soll zunächst dahinstehen. Sehr viel problematischer ist das voluntative Element. Will der Verdächtige diesen (möglicherweise) entgegenstehenden Willen übergehen, wenn er (oder sie) trotz Zweifel eine – darüber hinaus nicht weiter aufgenötigte – sexuelle Handlung vornimmt? Dies lässt sich wegen der oben benannten Ambivalenz nicht so leichthin klären.

Der Grund liegt in der Liberalisierung und Individualisierung der Sexualität, welche etwa seit Inkrafttreten des Grundgesetzes, sicher aber seit den 1970er-Jahren dominiert. Dieser langfristige und stabile Trend sollte nicht einfach normativ ignoriert und rechtspolitisch übersprungen werden. Bezogen auf die sich stellende rechtsdogmatische Frage, bedeutet das, dass ein bedingter Vorsatz auf Konstellationen einer ambivalenten sexuellen Begegnung aus verfassungsrechtlicher Perspektive erkennbar nicht passt. Diese Einsicht rückt das auf den ersten Blick eindeutige Vorsatzdelikt des Absatz 1 bei näherem Hinsehen bedenklich in die Nähe eines Fahrlässigkeitsvorwurfs. So gesehen ist es künftig ratsam, sich des positiven Einverständnisses zu versichern. Aber diese Vorsichtsmaßnahme bedeutet nichts anderes, als dass die neuen Sorgfaltsmaßstäbe, die im Umgang mit Sexualität aufgestellt worden sind, letztlich moralischer Natur sind. Sollte sich das bewahrheiten, dann ist § 177 Abs. 1 wieder ein Sittlichkeitsdelikt.

Sex und Gewalt

Nicht nur das Rechtsgut der neuen Strafbarkeit des sexuellen Übergriffs stellt einen Paradigmenwechsel dar. Es kommen weitere Neuheiten hinzu. Auch die sexualisierte Gewalt ist in der Neufassung des Verbrechenstatbestandes erweitert worden und dadurch unklar geworden. Verlangt wird keine Nötigungshandlung zur Erzwingung des sexuellen Kontakts mehr und auch der final-funktionale Zusammenhang zwischen Gewalt und sexueller Handlung entfällt. Der objektive Tatbestand verlangt nur noch Gewalt „bei der Tat“. Damit kann die Frage, wie in den verschiedenen Tatbeständen des § 177 „die Tat“ zu verstehen ist, nicht offenbleiben. Es muss geklärt werden, was die Formulierung „bei der Tat“ meint. Fest steht lediglich, dass eine Vergewaltigung seit November 2016 kein besonders schwerer Fall des Verbrechens der sexuellen Nötigung mehr ist, wie es noch die letzte Reform 1997/1998 festgelegt hatte. Tathandlung ist somit nicht mehr – wie damals normiert – die sexuelle Nötigung, sondern die sexuelle Handlung ohne erkennbares Einverständnis.

„Strafrecht ist nur ein Mittel, und nicht einmal das der ersten Wahl.“

Dies ist nicht unproblematisch, weil die Umstände, welche ein fehlendes Einverständnis nahelegen, nicht mehr wie früher beschrieben werden (Gewalt, Drohung, Ausnutzen einer schutzlosen Lage und final-funktionaler Zusammenhang zwischen Nötigung und sexueller Handlung). Zum Verbrechen wird die sexuelle Handlung ohne erkennbares Einverständnis in der Neuregelung bereits durch die nicht näher beschriebene „Gewalt bei der Tat“, wobei die Tat dem beschriebenen Vergehenstatbestand des sexuellen Übergriffs zu entnehmen ist. Damit liegt der Schwerpunkt des Vorwurfs auf dem erkennbar fehlenden Einverständnis. Alle Probleme, die der Vergehenstatbestand aufweist, bleiben auch bei den Qualifikationen bestehen. Es kommen noch neue hinzu, etwa die Frage: Welche Anforderungen sind bei der Auslegung des Merkmal „Gewalt bei der Tat“ zu verlangen?

Nun galten sexuelle Handlungen ohne Einverständnis immer schon als moralisch verwerflich, aber nicht unbedingt als strafwürdig, weil es sich nun einmal um schwer beweisbare, letztlich innere Vorgänge beim Täter und beim Opfer handelt. Da die Verantwortung bei der Frage des Einverständnisses letztlich zugeschrieben werden muss, legte die Gesetzgebung vor 2016 großen Wert auf die präzise Umschreibung der Tathandlungen des nötigenden Zwangs und der Gewalt. Eine erhöhte Opferbelastung wurde als Strafzumessungsproblem eingestuft. Die Reformgesetzgebung hat sich über diesen Einwand hinweggesetzt, aber nicht bedacht, dass Übergriffe (und noch deutlicher Belästigungen) nur schwer strafrechtlich definiert werden können. An außerstrafrechtliche Regelungen dachte man überhaupt nicht. Stattdessen ging man davon aus, dass das Grundrecht der sexuellen Selbstbestimmung (in einem weiten Sinne) strafrechtlich geregelt werden müsse. Dies ist problematisch; denn Grundrechte können vielfältig rechtlich abgesichert werden. Strafrecht ist nur ein Mittel, und nicht einmal das der ersten Wahl.

Bei nicht gewaltsam erzwungenen oder anderweitig bedenklichen sexuellen Kontakten genügt es, wenn dem Opfer eine rechtliche Gegenwehr nach der Tat zur Verfügung steht. Es muss nicht Strafrecht sein. Bei Wiederholungsgefahr sind überdies im punitiven, also strafenden, Zivilrecht, flankiert von einem erweiterten Polizeirecht, Platzverweise oder Wegweisungen sehr viel effektiver als das Vertrauen auf die abschreckende Wirkung von Strafnormen. Außerdem sind bei den Reaktionen auf häusliche Gewalt sehr gute Erfahrungen gemacht worden. Zivilrechtliche Gegenwehr, kombiniert mit polizeirechtlichen Befugnissen sind spätestens seit dem Gewaltschutzgesetz 2000 erprobte Wege, welche erweitert werden können auf andere Formen der Belästigung. Wenn man sich gegen Zumutungen in den eigenen vier Wänden auf sehr einfache Weise und äußerst effektiv rechtlich wehren kann, wieso soll das nicht auf den Arbeitsplatz erweitert werden oder auf öffentliche Orte, in denen man nicht ausweichen kann? Punitives Zivilrecht kann empfindliche Sanktionen androhen und einsetzen, bei Wiederholungsgefahr kennt es auch strafrechtliche Reaktionen. Wieso also genügt es nicht, hier Erweiterungen vorzunehmen?

„Die früher für ein liberales Verständnis von Strafverfolgung grundlegende Skepsis gegenüber unbewiesenen und schwer beweisbaren Vorwürfen hat sich in ihr Gegenteil zurückentwickelt.“

Der Unrechtsgehalt, den ein Straftatbestand formuliert, und die sozialen Folgen, die der Vorwurf einer Straftat nun einmal mit sich zu bringen pflegt, sollten in Vergangenheit mit der Konstruktion zivilrechtlicher Sanktionen bewusst vermieden werden. Sie haben gut funktioniert und gewähren einen sehr viel besseren Opferschutz als Strafrecht pur. Was spricht dagegen, diese Erfahrungen auf Übergriffe und Belästigungen zu übertragen? Dass dies unterblieb und nun stattdessen wieder die strafrechtliche Karte gezogen wurde, zeigt leider die Unbelehrbarkeit derer, die auf einen abstrakten Opferschutz durch Strafrecht setzen. Erfüllbar war und ist diese Erwartung nicht.

Punitiver Feminismus

Eine weitere Besonderheit kommt hinzu. Die früher für ein liberales Verständnis von Strafverfolgung grundlegende Skepsis gegenüber unbewiesenen und schwer beweisbaren Vorwürfen hat sich in den Jahren 2014 bis 2016 (der Kampagne vor der Reform) und parallel dazu mit der #Metoo-Bewegung wieder in ihr Gegenteil zurückentwickelt. Nicht mehr Gewalt ist das vordringende Thema, sondern bereits eine neue Sensibilität gegenüber sexueller Respektlosigkeit steht seither im Fokus der verschiedensten Aktivitäten. Umfangreicher Opferschutz verdrängt den Gedanken des Strafrechts als Ultima Ratio.

Der in den 1970er-Jahren noch freiheitsliebende Feminismus hat sich verändert. „Gewalt gegen Frauen“ war zwar schon damals ein Thema, aber nun wird es zur Obsession. Nach 1975 entstand zunächst ein kreativer „Graswurzel“-Feminismus mit Anlaufstellen und guter Beratung. Es folgten feministische Juristinnen-Tage, eine bessere Rechtedurchsetzung, und allmählich begannen Politikerinnen und NGOs regelmäßig Erweiterungen und Verschärfungen des Strafrechts zu fordern. Mittlerweile haben sie auch die Mehrheiten, um diese durchzusetzen. So entstand ein punitiver Feminismus, der die jeweilige Politik berät und zunehmend an Einfluss gewonnen hat. Zwar ist nach einem halben Jahrhundert zu bezweifeln, dass die soziale und ökonomische Benachteiligung von Frauen und die strukturellen Hemmnisse bei der Karriereorientierung immer noch auf den „‚Kleinen Unterschied‘ und seine großen Folgen“ (Alice Schwarzer) zurückzuführen sind, aber die Kampagnen nutzen dennoch die einmal eingeschlagenen und nun ziemlich ausgetretenen Pfade. Die These, dass (nur) Männer über eine dominante Sexualität verfügen und dadurch Frauen unterdrücken, mag vor fünfzig Jahren noch plausibel gewesen sein, sie passt aber nicht mehr in die heutige Zeit, zumal der Ruf nach mehr Strafrecht zu einem Ritual geworden ist. Punitivismus verkennt auch bei Feministinnen Ursache und Wirkung.

„Die neue Sensibilität stellt nur dann einen kulturellen Fortschritt dar, wenn man es vermeidet, haltlose #Metoo-Kampagnen zu inszenieren.“

Die Neuregelung hat in erster Linie keine „Schutzlücken“ geschlossen, sondern die Schutzrichtung verändert. Rechtsdogmatisch ist das neue System eher zweifelhaft. Der neue § 177 ist problematisch, weil er es nahelegt, eine „sexuelle Handlung“ als „Tathandlung“ anzusehen. Auch die Verbrechenstatbestände (Gewalt „bei der Tat“) basieren auf diesem Fehler. Dies kann zwar durch Auslegung bereinigt werden, aber dazu muss erst einmal ein Problembewusstsein geschaffen werden. Nötig ist es, die Handlungen jeweils so zu bestimmen, dass ein gestufter Schutz entsteht: bewusstes Übergehen des erkennbar entgegenstehenden Willens, nötigendes Beugen und gewalttätiges Zwingen zur Vornahme oder Erdulden von erheblichen sexuellen Handlungen. Auch der Paragraf § 184j muss restriktiv ausgelegt werden, um zu gewährleisten, dass nur erheblich belästigendes und planvolles Verhalten sanktioniert wird.

Zwar wurde die Neuregelung als notwendige Konsequenz einer veränderten Sicht auf das als Menschenrecht aufgewertete Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung gefordert und im Bundestag auch mit dieser Begründung nahezu einstimmig – nicht zuletzt auf Grund der Kampagne nach der Kölner Silvesternacht 2015/2016 – durchgesetzt. Doch die zügige Implementation des neuen § 184j und der neuen Vergehenstatbestände der Absätze 1 und 2 zeigt, dass hinter diesem neuen „Bagatellsexualstrafrecht“ ein langfristiger Trend steht. Brachiale Gewalt wurde und wird seit jeher hart bestraft. Aber sie geht zurück. Stattdessen wird mittlerweile alltäglicher Sexismus medienwirksam skandalisiert. Offenbar trifft dieses Bedürfnis mehr Menschen als die Angst vor brutaler Gewalt. Sie betrifft, was ein kultureller Fortschritt ist, nur Einzelfälle, die ebenfalls ausführlich berichtet werden. Die Kampagne für die neuen Regelungen war erfolgreich, schon genau wie der neue Vergehenstatbestand des sexuellen Übergriffs. Es kam also sehr schnell zu einer Verschiebung der Schwerpunkte. Beratungsstellen raten offenbar zum leichter verfolgbaren Bagatelldelikt. Nebenklage-Vertreterinnen setzen diese Forderung um. Noch ist nicht bekannt, wie „erfolgreich“ die sich belästigt Fühlenden vor Gericht sein werden. Auch könnte es sein, dass die neuen Vergehenstatbestände zumindest einzelne Staatsanwaltschaften lediglich dazu ermuntern, auf vielfältige Formen der Diversion zurückzugreifen. Ob dies geschieht, werden erforderliche neue empirische Studien noch zeigen. Jedenfalls hat der 13. Abschnitt des StGB über Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ein neues, erheblich weiter gefasstes Rechtsgut

Die neue Sensibilität ist ein Befund, der ausgesprochen positiv ist. Aber er stellt nur dann einen kulturellen Fortschritt dar, wenn man es vermeidet, haltlose #Metoo-Kampagnen in Europa zu inszenieren. Eigentlich sollte der Einstellungswandel nichts mit strafrechtlichen Forderungen zu tun haben, denn er hat dazu geführt, dass es in Deutschland zunehmend weniger Vergewaltigungen gibt. Wieso suchte angesichts dieser Befunde die Gesetzgebung 2014 bis 2016 nur nach strafrechtlichen Strategien? Offenbar sind die zahlreichen Projekte, welche nahe an den Problemen angesiedelt sind, medial nur schwer als Erfolg darzustellen. Zwar wissen die dort Beschäftigten sehr genau, dass den Ratsuchenden nicht mehr und schon gar nicht ungenaues Strafrecht hilft, sondern nur effektiv verfügbare und ganz konkrete Maßnahmen vor Ort. Aber diese Einsicht geht regelmäßig unter. Jedenfalls sollte die Gesetzgebung in den nächsten Jahren einmal über einen Perspektivenwechsel nachdenken und das Gewaltschutzgesetz erweitern. Neues oder ein angeblich verbessertes Sexualstrafrecht sollte sie erst gar nicht versuchen. Viel besser wäre es, wenn wir mehr über die kriminologischen Zusammenhänge wüssten.

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