01.09.2002

Hilfe, Mord! Achtung, Buch!

Rezension von Bernd Herrmann

Was will uns Martin Walser über Reich-Ranicki sagen? Ist der Tod eines Kritikers ein antisemitisches Machwerk? Und, ganz am Rande: taugt das Buch was? Bernd Herrmann hat nachgelesen.

Ich sollte überhaupt nicht mit Ihnen reden, ich sollte hier ein Maschinengewehr haben und Sie niederschießen.“ So der Autor Rolf Dieter Brinkmann bei einer Diskussion zum Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. Ort: Berlin, Zeit: November 1968.

Damals scheint niemand auf den Gedanken gekommen zu sein, Brinkmanns Ausfall antisemitisch zu nennen. Brinkmann gehörte zu einer neuen Generation von Pop-Autoren, die im Stil der Zeit heftig das Literaturestablishment angriffen.

Reich-Ranicki ist oft vehement beschimpft worden, sei es von Autoren wie Brinkmann und Handke, sei es von Literaturkritikern wie Fritz J. Raddatz, der vor Jahren Reich-Ranicki als „Illiteraten“ bezeichnete, der „mit dem Telefon“ schreibe.

Solche Beschimpfungen gibt es im Literaturbetrieb häufig. Marcel Reich-Ranicki zieht solche Attacken schon deshalb besonders an, weil er seit Jahrzehnten nicht nur der einflussreichste Literaturkritiker ist, er entscheidet auch über die Vergabe zahlreicher Literaturpreise und maßgeblich über Erfolg und Misserfolg einzelner Schriftstellerkarrieren. Seine Urteile sind dabei nie allein Literaturkritik, sie sind auch die selbstherrliche Ausübung einer Vormacht. Dass solche Übermacht, die nicht selten harsch abstraft, auch selbst harte Kritik erntet, versteht sich.

„‚Wer Preise erkennt und Preise stellt, / der will am End’ auch, daß man ihm gefällt.’ (Meistersinger, 3. Akt). In der Preisära Reich-Ranicki stellt sich das Junktim etwas verzwickter dar: Der Preisgeber erwartet vom Gepriesenen, daß dieser jenen fürchtet, so lange, bis jener, ihn malträtierend, diesem am Ende gar gefällt.“ (Eckhard Henscheid: Sudelblätter, S.390)

Eckhard Henscheid hat sich seit Ende der 70er-Jahre mit dem Phänomen Reich-Ranicki auseinander gesetzt. Noch bevor Reich-Ranicki das Fernsehen eroberte, brachten Henscheids Polemiken und Parodien (heute in jeder Comedy-Show nachgeahmt) das Prinzip des fuchtelnden und krächzenden Kritikerdarstellers auf den Punkt. Für eine seiner Persiflagen erntete Henscheid, ähnlich wie Walser heute, den Vorwurf, Antisemit zu sein – „von Lutz Tarnow in der Saarbrücker Zeitung – und zwar deshalb, weil ich bei meiner Reich-Ranicki-Persiflage ‚Herrmann Burrger’ aus dem Jahr 1984, zu der ich bei Lesungen auch jeweils mit bescheidenen Mitteln des Parodierten Stimme und Vortragsduktus ein wenig nachahmte, ‚Biecher’ statt ‚Bücher’ sage. Dies aber sei ein ‚jüdischer Ideolekt’.“ (Henscheid: Sudelblätter, S.132). Der Vorwurf zog damals allerdings keine weiten Kreise.

Was sind also die Gründe für die Aufregung über Martin Walsers Roman Tod eines Kritikers? Reich-Ranicki nannte es ein „Buch, das gegen Juden hetzt“. Ist da etwas dran? Oder liegen heute die Empfindlichkeiten anders?

Walsers Roman ist ein Schlüsselroman, zahlreiche Figuren sind hinter den fiktiven Namen – die Reich-Ranicki-Figur heißt ein wenig albern Ehrl-König – und den etwas abgewandelten Biografien und Beschreibungen leicht zu erkennen.

Was geschieht? Der Erzähler Michael Landolf, Spezialist für „Mystik, Kabbala, Alchemie, Rosenkreuzertum“, versucht nachzuweisen, dass sein Bekannter, der Schriftsteller Hans Lach, nicht der Mörder des Kritikers Ehrl-König ist. Mehr oder weniger unterstützt wird er dabei durch die Autorin Julia Pelz, gleichzeitig die Gattin des Verlegers Ludwig Pilgrim. Er interviewt eine Reihe möglicher Zeugen, tritt in Kontakt zu Kommissar Wedekind, besucht Lach im Gefängnis. Von Lach erhält er Tonbänder mit Aufzeichnungen des Verdächtigen sowie denen eines Psychatrieinsassen namens Mani Mani.

Vorgefallen ist scheinbar Folgendes: Ehrl-König hat, nachdem er sich lange vorgeblich um Lachs Werk bemühte, dessen neuesten Roman in seiner Literatursendung gnadenlos heruntergemacht. Bei der anschließenden Party im Haus des Verlegers erscheint Lach und attackiert Ehrl-König. Lach wird hinausgeworfen. Als Ehrl-König etwas später geht, verschwindet er spurlos. An seinem Auto wird nur sein blutiger Pullover gefunden. Weitere Spuren fehlen, es hat stark geschneit.

Lach wird verhaftet, verweigert die Aussage, bricht schließlich zusammen und wird in die Psychiatrie überwiesen. Fast alle sind von seiner Schuld überzeugt.

Überraschend stellt sich heraus, dass Ehrl-König nicht tot ist. Er hatte nur Nasenbluten, tauchte dann zusammen mit seiner Geliebten unter. Der Verleger Ludwig Pilgrim stirbt und Michael Landolf reist mit dessen Witwe, seiner neuen Geliebten Julia Pelz, nach Fuerteventura. Dort enthüllt er, dass er Hans Lach ist und seine Rolle als Erzähler Landolf Fiktion war.

“Eine Figur in Walsers Roman lässt sich möglicherweise zu einem antisemitischen Satz hinreißen – möglicherweise. Und deshalb soll Walser Antisemit sein?”

Gibt es Anhaltspunkte für antisemitische Tendenzen? Ehrl-König kommt wie Reich-Ranicki aus einer jüdischen Familie. Zu Hans Lachs Angriff auf Ehrl-König heißt es im Roman, Lach habe ausgerufen: „Die Zeit des Hinnehmens ist vorbei. Herr Ehrl-König möge sich vorsehen. Ab heute Nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen.“

Lachs Paraphrase von Hitlers Satz zum Angriff auf Polen löst unter den Partygästen angeblich Entsetzen aus und wird von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zitiert. Zeugen des Zwischenfalls können sich allerdings nicht daran erinnern, den Satz gehört zu haben.

Eine Figur Walsers lässt sich möglicherweise zu einem antisemitischen Satz hinreißen – möglicherweise. Und deshalb soll Walser Antisemit sein?

Ein zweiter Vorwurf gegen Walser wurde von seiner ausführlichen Parodie von Reich-Ranickis Sprechstil abgeleitet. Hier, so der Vorwurf (wie schon gegen Henscheid), werde das Jiddische veralbert, und das sei antisemitisch. Was aber ist einfacher, näher liegend, platter, als Reich-Ranickis Sprechstil nachzuahmen? Er ist eines seiner Markenzeichen, einer der Gründe seines Erfolgs im Fernsehen. Parodien darauf hört man ständig. Es sind Parodien auf die Fernsehfigur Reich-Ranicki und keine Hetze gegen das Jiddische oder gar gegen Juden.

Einen weiteren Vorwurf hat Jan Philipp Reemtsma in der FAZ herausgearbeitet. Reemtsma behauptet, Walser zeichne Ehrl-König als Karikatur eines Juden, als Zerrbild quasi im Stile der Nazi-Propaganda:„Die Ohren, der ,stets das überentwickelte Kinn überwölbende Wulstmund’, die ,so kräftige wie feine Nase’. Kräftige Nase muss sein, aber wieso soll das eine antisemitische Karikatur sein, höre ich jemanden einwenden, da steht doch ,feine Nase’? Eben darum. Weil es auffällt, dass da etwas fehlt am Klischee, fällt es auf. Immer wenn Walser etwas verbergen will, zeigt er es überall herum.“

Das klingt vielleicht nicht überzeugend, dafür wirkt es scharfsinnig. Dann jedenfalls, wenn man davon absieht, dass Reemtsma im Eifer seines schon festen Vorurteils nicht etwa Walsers Beschreibung der Physiognomie des Kritikers Ehrl-König, sondern die des potenziellen Antisemiten Hans Lach zitiert (die Stelle findet sich im Roman auf S.55).

Gibt es sonst Belege dafür, dass der Roman „ein Dokument des Hasses“ (Frank Schirrmacher) ist, ein Buch voll „ungezügelter Mordlust“ (Hellmuth Karasek), dafür, dass „die ganze Story ... nach Judenfeindschaft“ schmeckt (Bernd Lunkewitz)? Man liest und liest und findet – nichts.

Wie ist es hiermit: Der Autor Hans Lach hat ein Buch mit dem Titel Der Wunsch, Verbrecher zu sein geschrieben. Nach den Zitaten zu urteilen, handelt es sich dabei um ein recht ödes Werk. Walser setzt dieses Werk in seinem Roman unter anderem dazu ein, um sich über die auto-biografische Interpretation von Literatur zu mokieren. Nicht nur Kommissar Wedekind, auch eine Reihe anderer Figuren zitieren aus diesem Werk Lachs, um, nachdem dieser unter Mordverdacht steht, kopfschüttelnd zu bemerken, man hätte es ja schon früher wissen können.

Logisch: Bret Easton Ellis ist ein „American Psycho“, in Patricia Highsmith schlummerte immer ein Ripley, und Goethe – hatte Goethe nicht etwas Mephistophelisches? Literatur spricht in Rollen, stilisiert, spielt Möglichkeiten durch. Und keiner der Kritiker Walsers käme auf die Idee, Shakespeare wegen seines Kaufmann von Venedig als Judenhasser abzutun.

"Man liest und liest und findet – nichts.”

Das Geschrei über Tod eines Kritikers hat vor allem eines gezeigt: Kritik, Diskussion, Nachdenken findet nicht statt. Es gibt feste Lager, Klüngel, die deshalb besonders absonderlich wirken, da sie sich selbst nicht mehr glauben – weshalb dann umso lauter geschrien werden muss. Der schlimmste Vorwurf in Deutschland ist der des Antisemitismus – von der Kritik gerne dahingehend verfeinert, es handele sich um ‚latenten Antisemitismus’ (was noch schlimmer zu sein scheint als offener Antisemitismus).*

Mit Argumentation hat das nichts zu tun, das Schema ist bekannt: Irgendjemand sagt, tut etwas, was anderen nicht in den Kram passt. Leider können die anderen nicht so recht sagen, weshalb und wieso – sie glauben ihren eigenen Argumenten nicht mehr. Es folgt Plan B: „Antisemitismus“.

“Das Geschrei über Tod eines Kritikers hat vor allem eines gezeigt: Kritik, Diskussion, Nachdenken findet nicht statt.”

Wie die einleitenden Zitate zeigen, ist diese Tendenz im Laufe der letzten Jahre stark angewachsen. Bei Brinkmanns Ausfall kam noch niemand auf den Gedanken, „Antisemitismus“ zu schreien. Es war klar, dass die Attacke andere Gründe hatte. Man kannte diese Gründe und konnte ihnen beistimmen oder auch nicht. Mit der Degeneration der politischen Auseinandersetzung – heute gibt es in der Politik nur noch eine große, schwammige Mitte – wurden politische Debatten in den Bereich der Kultur, ins Feuilleton verlegt. Und sie wurden in den Bereich der Moral, der verborgenen, vermuteten, unterstellten persönlichen Ressentiments verlegt. Eine öffentliche Debatte findet nicht mehr statt. Es gibt keine Öffentlichkeit mehr. Sie ist ersetzt worden durch kulturwissenschaftliches „close reading“, das inzwischen aus allem jedes ableiten darf. Da aber so vieles beliebig geworden ist, müssen, will man gehört werden, die letzten starken Argumente her. Und das ziemlich letzte Verbliebene ist der „Antisemitismus“. Sagt jemand heute, etwas sei „antisemitisch“, so heißt das nichts Konkretes mehr. Außer: Das mag ich nicht, das gehört verboten.

Und was ist von Walsers Roman zu halten? Das Buch ist – so mittel. Am störendsten ist Walsers alte Macke, immer wieder in Tiefsinn zu verfallen, in bedeutungsschwangere Zitate, die ohne Sinn und Zweck fallen, außer dem, uns zu zeigen: „Ein tiefsinniger Bursche, dieser Walser“. Zu Nietzsche treten dieses Mal die Mystiker Seuse und Blake. Dazu gibt es – der vorgebliche Erzähler ist ja angeblich Spezialist für „Mystik, Kabbala, Alchemie, Rosenkreuzertum“ (warum eigentlich?) – Verweise auf Esoterisches mit einer Prise Saturnismus, beigesteuert von Frau Pelz. All das ist Wichtigtuerei. Im Romanplot spielt es weiter keine Rolle. Noch weniger überzeugt es, wenn sich später herausstellt, dass der Erzähler Landolf eine Maske Lachs ist. Wie sich das mit der Alchemie vereinbaren lässt? Wir erfahren es nicht.

Walsers Dilemma besteht darin, dass er ein volkstümlicher Autor sein will – die Verkaufzahlen belegen seinen Erfolg – und gleichzeitig ein avancierter Intellektueller, ein Avantgardist. Dass seine Bücher meist bestenfalls solides Handwerk sind, künstlerisch auf dem Stand von vor über hundert Jahren, ist an sich kein Makel. Populäre Autoren liefern immer wieder gute Werke ab, die auf Formexperimente verzichten und sich vor allem aufs Material stürzen. Walser genügt das nicht. Er will Volksschriftsteller, Volkstribun und auch noch avancierter Denker sein. Heraus kommen dabei zähe, funktionslose Passagen, die vor tiefem Sinn nur so tropfen wollen.

"Walsers Dilemma besteht darin, dass er ein volkstümlicher Autor sein will – die Verkaufzahlen belegen seinen Erfolg – und gleichzeitig ein avancierter Intellektueller, ein Avantgardist.”

Es gibt in Tod eines Kritikers aber auch sehr Gelungenes, zum Beispiel das zähe Wechselspiel zwischen Landolf und Kommissar Wedekind. Der Kommissar liest Lachs Bücher und versucht daraus Mordmotive zu gewinnen. Der Schriftsteller hingegen macht auf Kriminalist. Dieser Rollentausch ist witzig gestaltet. Und am Ende liegen selbstverständlich beide schwer daneben.

Mitreißend, ergreifend und auch sehr komisch sind die eingestreuten Aufzeichnungen Mani Manis. Hier ist ein Irrer, der Dichter sein will. Seine Vorbilder sind u.a. Rolf Hochhuth und Else Lasker-Schüler. Er ist Bayern-Fan, Abba-Fan und verehrt eine österreichische Fernsehansagerin. Ansonsten sagt er über sich so schöne Sachen wie: „Roy Black hat Abitur. John Lennon nicht. Ich auch nicht.“ Und seine Pubertätskatastrophe schildert er so: „Als Zwölfjähriger einmal vom Dreimeterbrett gesprungen. Einer süßen Dreizehnjährigen zuliebe. Als Nichtschwimmer. Ich hatte ihr gesagt, ich stünde am Anfang einer Agentenkarriere, deshalb müsste ich jetzt vom Dreimeterbrett springen. Das mit den schönen Frauen müsste noch genauer gesetzlich geregelt werden. Das liegt doch vollkommen im argen.“

Bei Mani Mani läuft Walser zu großer Form auf, er ist präzise, originell und witzig. Leider aber – gerade hebt der Roman nach zähem Beginn an gut zu werden – ist der Kriminalfall sogleich aufgeklärt, der Plot abgespult. Dennoch folgt ein dritter Teil, „Verklärung“, der einfach gar nichts mehr sagt, uns aber wieder sehr ausführlich zeigen will, welchen Tiefgang Walser erreichen kann – so tief, dass es tiefer und öder kaum geht. Und zu allem Überfluss wird es dann auch noch erotisch… : Nein! Wozu es diesen dritten Teil braucht? – es wird Walsers Geheimnis bleiben. Ansonsten: streckenweise gar kein so verkehrtes Buch.

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