01.09.2006

Heute schon gebettelt?

Kommentar von Hartmut Schönherr

Über die identitätsstiftende Funktion von Bonusheften und Sozialleistungen.

Sie kaufen noch ohne Kundenkarte ein? Sie tanken mal hier, mal da? Sie sammeln noch keine wertvollen bahn.comfort- oder bahn.bonus-Punkte? Sie kennen Miles & More, Payback, Webmiles und Konsorten nur vom Hörensagen? Sie haben keine Riesterrente, da Sie im Alter vielleicht im Ausland leben wollen? Wissen Sie was, sie sind ein heimatloser Geselle! Denn Heimat, das ist heute nicht mehr die kurz geschorene Wiese oder eine rauchende Fabrikvorstadt, kein Meer und kein Gebirge. Heimat ist, wo ich einkaufe, wenn’s denn sein muss, auch im Internet. Heimat, das ist, wo ich meine Bonushefte abarbeite, wo der Staat mich mit Dableib-, Fortpflanzungs- und sonstigen Prämien versorgt.
 

„Die Umverteilung wird zur letzten Legitimationsbasis der Politik. Und die lässt sie sich nicht so leicht wegnehmen. Auch nicht von Payback.“



Der Zuschussbürger
Die Bonushefte zahlen wir natürlich selbst durch unsere Einkäufe. Und es wird nicht gerne gesehen, dass wir untreu sind beim Einkaufen. Der ideale Kunde verpflichtet sich von der Wiege bis zur Bahre dem gleichen Konzern, die Kundenkarte wird zum neuen Staatsbürgerschaftsdokument. Dennoch, den Staat brauchen wir weiterhin, denn er braucht uns: 50 Prozent unserer Lebensarbeitszeit verbringen wir inzwischen damit, das Staatswesen zu finanzieren – und damit auch das, was uns so großzügig an sozialem Pampering gewährt wird. Nun hat der Staat schon immer auf der einen Seite genommen, was er auf der anderen gab. Neu ist: Die Umverteilung wird zur letzten Legitimationsbasis der Politik. Und die lässt sie sich nicht so leicht wegnehmen. Auch nicht von Payback.
Unaufhaltsam nähert sich der Bundesbürger dem an, was früher einer Minderheit vorbehalten war: dem Modell des „Zuschussbauern“, der nicht überwiegend von der Ernte lebt, sondern von Finanzhilfen, wechselweise für die Anpflanzung oder das Ausroden bestimmter Pflanzen, die Anschaffung oder das Abschlachten bestimmter Tiere, das Düngen oder den Verzicht auf Düngung. Weil wir alle irgendwie Bauern sind, die auf dem Spielbrett der Sozialpolitik hin und her geschoben werden, sind wir inzwischen alle mehr oder wenige Zuschussbauern, pardon: Zuschussbürger geworden.


Nach dem Zusammenbruch der real existierenden Planwirtschaften im Osten ist im Westen kein Halten mehr; es wird geplant wie nie zuvor. Wie viele Zuwanderer wir pro Jahr brauchen und wann uns die Rente ausgeht. Wie viele Kinder gestern, morgen und übermorgen geboren wurden, werden und worden sind. Und wie viele es sein müssten, für die Rente, die Infrastruktur, stabile Immobilienpreise und ausreichenden Nachschub an Dienstpersonal. Wie viele Straßen wir brauchen und Fußgänger und Krankenversicherungen für die Fußgänger. Falls alles so bleibt, wie es nie geblieben ist.
Gelegentlich gibt es einen Lichtblick. Ursula von der Leyen geht als Familienministerin einen richtigen Weg mit der Verlagerung von Finanzhilfen für Familien zu besseren infrastrukturellen Rahmenbedingungen. Allerdings bleibt sie dabei dem planwirtschaftlichen Denken verhaftet. Familienpolitik wird gemacht, um die Reproduktionsquote zu steigern – und nicht, weil es eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist in einer entwickelten zivilen Gesellschaft, dass auch Eltern ein normales Leben führen dürfen und Kinder nicht nur in einzelnen ökologischen Nischen angemessen überleben können. Wer schon mal Mutter oder Vater mit Kleinkind in der Berliner U-Bahn gesehen hat, der weiß: Zu wenige Kinder in Deutschland, das ist auch Folge einer spezifischen Form von Urbanisierung, bei der Kinder strukturell nicht vorgesehen sind. Weil sich Leben eben so schlecht planen lässt.


Ausgedient
Die Sozialausgaben des Bundes haben sich von 10,9 Mrd. im Jahr 1972 auf 116,7 Mrd. Euro im Jahr 2002 mehr als verzehnfacht. Die übrigen Ausgaben des Bundes sind dagegen nicht ganz auf das Dreifache gestiegen. Die teuerste unter den Sozialleistungen ist die Rentensicherung. Mit einem Anteil von über 60 Prozent an den Sozialausgaben sind die größten Sozialhilfeempfänger die Rentner – aber das mag so natürlich niemand sagen. Was im Übrigen nicht den Rentnern anzulasten ist, sondern einem archaischen, agronomischen Rentensystem, das Michael Mitterauer als System des „Ausgedinge“ beschrieben hat.[1]
Das besagt, die Alten haben zu ruhen und das Heft an die nachfolgende Generation abzugeben. Hinzu kommt allerdings die Neigung deutscher Regierungen zur Überregulierung und zur „Verstaatlichung“ – unabhängig von der politischen Richtung. Beispiel Riesterrente: Während einerseits die steuerliche Freistellung der Rentenversicherungsbeiträge zusammengestrichen wurde, bekommt der brave Bürger, der eine private Zusatzrente abschließt und verspricht, den Lebensabend in Deutschland zu verbringen, einen Zuschuss, eine Zulage.
Gegen die feudale Schollenbindung bei der Riesterrente klagt die EU-Kommission. Gegen den bürokratischen Aufwand zur Zertifizierung der Riesterangebote und zur Verteilung der Zulagen klagt niemand. Dabei konzentriert sich in ihm der eigentliche Skandal: das unterschwellig weiter wirksame Bismarcksche Programm zur Aufhebung der Gesellschaft im Staat. Dieses entfaltet mit der Großen Koalition eine ganz neue Dynamik.


Was Riester als ehemaliger Bundesarbeitsminister und damit Spezialist für aufgeblähte Behördenmonster konnte, kann Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt schon lange. Und so bastelt sie an einer neuen Zentralstelle für die Vergabe von Krankenkassenbeiträgen. Angefangen hat es mit Bonusheften für die Zahngesundheit, dann kam die Praxisgebühr, von der sozial weniger gut Gestellte natürlich gegen entsprechenden Antrag und unter Beschäftigung nicht nur der Praxisbürokratie, sondern auch gleich noch der Krankenkassenbürokratie, befreit werden. Inzwischen wird der moderne Kassenpatient mit einem anschwellenden Wust an Bonusleistungen, Zuzahlungen, Rückerstattungen und Sonderprogrammen permanent darauf aufmerksam gemacht, wie gut man es doch mit ihm meint. Nur kann er das leider nicht genießen, da er mit der Planung seiner optimalen Krankenversicherung und mit Antrag
stellen beschäftigt ist.
 

„Wenn der Staat soziale Sicherheit gibt, bekommt er gute Patrioten. So die schlichte Formel, die schlichte Politiker zu immer neuen Verteilungsorgien bewegt.“



Verteilungspatriotismus
Nach etymologischer Definition ist ein Bettler derjenige, der durch Vertrag gezwungen ist, wiederholt zu bitten. Zum Beispiel, wenn der Riesterempfänger jährlich die Familie aufstellen muss, um seine Rentensicherungsbeitragsprämie zu bekommen. Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, ist ein Blick auf die Ursprünge des deutschen Sozialversicherungssystems hilfreich. In der Gründungsphase des Deutschen Reiches träumte Bismarck davon, allen Bürgern das „Gefühl der Pensionsberechtigung“ zu geben – um die damit verbundene „konservative Gesinnung“ zu erzeugen. Bestechen wollte er vor allem die Arbeiter mit seinen Sozialleistungen, damit sie nicht zu den Sozis überlaufen.
Das ist bekannt. Weniger bekannt ist folgende Aussage von Adolf Hitler: „Ich will, dass dem Arbeiter ein ausreichender Urlaub gewährt wird und dass alles geschieht, um ihm diesen Urlaub sowie seine übrige Freizeit zu einer wahren Erfahrung werden zu lassen. Ich wünsche das, weil ich ein nervenstarkes Volk will, denn nur mit einem Volk, das seine Nerven behält, kann man wahrhaft große Politik machen.“[2]


Das immer hysterischer werdende Gerede um Deutschlands Zukunft deutet darauf hin, dass es einerseits um die „Nerven“ derzeit nicht gut bestellt ist, andererseits wohl aber noch jemand vorhat, eine „wahrhaft große Politik“ zu machen. Gewiss nicht im Hitlerschen Sinne, aber doch so, dass Deutschland weiter mitspielt beim Konzert der „Großen“. Ein bisschen Entspannung täte dabei sicherlich gut. Denn ein Patriotismus, der primär auf das Verteilen von Tortenstückchen gebaut ist, wackelt.
Soziale Sicherheit schafft gute Nerven, und wenn der Staat die soziale Sicherheit gibt, bekommt er gute Patrioten. So die schlichte Formel, die schlichte Politiker zu immer neuen Verteilungsorgien bewegt. Es ist dabei gar nicht mehr so wichtig, was verteilt wird – aber gerecht soll es dabei zugehen. Denn Gerechtigkeit schafft weitere Legitimation für den Staat. Auch wenn diese Gerechtigkeit einen Überwachungsstaat beschert, der für die Gesundheitsversicherung unsere Rauchgewohnheiten, für die Rentenversicherung unsere Fortpflanzungsaktivitäten und für die Arbeitslosenversicherung unsere Freizeitbeschäftigungen kriminologisch überwacht.
Dolf Sternberger hat für Deutschland nach der Beschädigung anderer Formen des Patriotismus durch den Nationalsozialismus in den 70er-Jahren den „Verfassungspatriotismus“ empfohlen. Dass dieses intellektuelle Konstrukt nur eingeschränkt tragfähig ist, wurde spätestens beim eifrigen Fahnenschwenken zur Fußball-WM augenscheinlich. Was sich nun als dürftige Alternative abzeichnet, ist ein Verteilungspatriotismus, der die Transferbindung zum wichtigsten gesellschaftlichen Zusammenhalt macht.


Consumers Identity
Was dem Staat recht ist, kann dem Einzelhandel nur billig sein. Das Rabattmarkenheft hatte schließlich nicht nur den äußeren Anschein mit dem Heft zum Einkleben der Rentenmarken gemeinsam. In der Ausbildung der modernen Gesellschaft teilen sie auch das Schicksal der gemeinsamen Krise und der nachfolgenden Wiederbelebungsversuche.
Die Renaissance des Rabatthefts in digitaler Gestalt als Kundenkarte oder Punktekonto trifft sich mit den Überlegungen zur Einführung der Gesundheitskarte, mit der die Kundenkarte für den Staatsbürger zunächst einmal erprobt werden kann. Stand die Rabattmarke wie die Rentenmarke noch für den Erwerb eines Anspruchs, so sind ihre digitalen Nachkommen weit leistungsfähiger. Sie sind essenziell an der Identitätskonstruktion des Inhabers beteiligt – und dies zweifach. Der Kunde wird in seinen Eigenschaften transparent für den Leistungsgewährer. Vor allem aber, und das scheint mir der fatalere Zug, definiert der Kunde sich unabweislich selbst als ein solcher. Fatal wird dies insbesondere dann, wenn andere Wege der Identitätsbildung versagt sind.


Doch vorläufig scheitert das System zumindest im Bereich des Einzelhandels an der Renitenz der Kunden, die spätestens bei der dritten Kundenkarte das Ziel der Kartenausgeber unterlaufen, sich an ein bestimmtes Geschäft binden zu lassen. Das hat findige Marketingexperten dazu geführt, Einzelhandelsverbünde in Städten oder Gemeinden zu bilden und eine Gebietskundenkarte herauszubringen. Augenzwinkernd mag man darin eine Wiedereinführung der Kleinstaaterei erkennen, zumal inzwischen schon Werbegemeinschaften von Provinzmetropolen ihre eigene „Währung“ herstellen und hoffen, damit die Kaufkraft im Städtele zu halten. Das Augenzwinkern vergeht jedoch, wenn die Idee befragt wird, die dahintersteckt. Und das ist die Renaissance des Lokalen auf der Basis des Krämergeistes.


Wal-Mart ist in Deutschland gescheitert – nicht am Popanz „Antiamerikanismus“, sondern daran, dass der Zeitgeist offensichtlich gegen SB-Warenhäuser weht, die den Kunden von der Wiege bis zur Bahre auf sich fixieren wollen. Das macht Hoffung, dass vielleicht auch der SB-Staat bald abdanken muss. Dessen Produktpalette ist zweifellos überzogen – und in seiner Spekulation auf Quantitäten hat er die Qualitäten vollkommen aus den Augen verloren. Wie ein beständiges Schielen auf die Arbeitslosenquote den freien Blick auf neue Arbeitsfelder und eine Neubestimmung von Arbeit verstellt, so blockiert auch das aktuelle Augenmerk auf die Geburtenziffer die notwendige Neubestimmung des Staatswesens überhaupt. Ein Staat, der nicht mehr zu bieten hat als ein SB-Warenhaus, sollte baldmöglichst von der Gesellschaft übernommen werden.

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