18.04.2013

Grüne Milieustudien: Wir Du-Sager

Von Monika Bittl

„Wir sagen doch „Du“ zueinander, oder?“ Für manche steht das gegenseitige Duzen für Brüderlichkeit, Solidarität und Gemeinschaft. Für Monika Bittl hat es auch mit fragwürdiger Gleichmacherei zu tun. Sie betont, welche Vorteile im Siezen liegen: es lässt Raum für höfliche Distanz.

Wir Schriftsteller pflegen manchmal Eigenheiten und Empfindlichkeiten – ich sage es Ihnen! Ich kenne eine Kollegin, die kriegt keinen Einkaufszettel mehr hin, weil sie sich nicht entscheiden kann, ob sie darauf nun „Gelbe Rübe“, „Karotte“ oder „Möhre“ schreibt. Mit „Gelbe Rübe“ würde sie zwar den aussterbenden bayerischen Dialekt pflegen, dagegen spräche aber die Allgemeinverständlichkeit.  „Möhre“ würde zwar vom Stil her als Alliteration wunderbar zum noch einzukaufenden Mehl und Müsli passen – was aber, wenn der Einkaufszettel über dunkle Kanäle versehentlich in die Hände eines Fremden gerät, dieser die Pünktchen auf dem „ö“ übersieht, den rassistischen Begriff „Mohren“ liest und womöglich den Verursacher der Volksverhetzung zurückverfolgen kann? „Karotte“ wiederum klinge doch einfach zu hart und männlich nach Phallussymbol, obwohl man auch im Norden verstünde, was damit gemeint ist. Ein anderer Kollege wiederum sagt, er könne erst wieder schreiben, wenn er mit einer Psychoanalyse das Trauma des persönlichen Anblicks von Claudia Roth überwunden hätte, denn die Realität übertreffe jedes Vorstellungsvermögen, jegliche Phantasie. Genau damit aber, mit Phantasie, habe er doch bisher seinen Lebensunterhalt bestritten und nun sei er in eine tiefe Sinnkrise gestürzt, denn die Realität drücke offenbar viel mehr Wahrheit aus als seine Werke. Sie sehen, so ein Schriftstellerdasein hat wirklich seine ganz eigenen Probleme und Empfindsamkeiten, und unsereiner muss höllisch aufpassen, sich nicht über die feinen Verästelungen der Sprache und die eigene Hypersensibilität der Wirklichkeit zu entfremden.

„ Dass all die „Du-Sager“ automatisch davon ausgehen, dass wir alle im selben Boot sitzen und von „gleich zu gleich“ sprechen.“

Deshalb bin ich auch so froh, dass kürzlich eine ganz patente Nachbarin, Ines-Maria, neben uns eingezogen ist. Ines-Maria hat das Herz auf dem rechten Fleck, obwohl sie beim ersten Zusammentreffen sofort kundtat: „Ich bin durch und durch grün!“ Wirklich, glauben Sie mir bitte, ich schwöre es, es gibt durchaus auch wahnsinnig nette Grüne! Ines-Maria hat unsere Blumen gegossen, als wir im Urlaub waren und meinen Mann nicht angezeigt, als er im Winter das Auto vor dem Haus bei laufendem Motor vom Eis befreite. Sie dürfen da nicht so voreingenommen sein, wie ich es bisweilen bin, wenn ich neue Leute kennenlerne. Denn wenn jemand mir schon bei der ersten Begegnung sagt: „Wir sagen doch „Du“ zueinander, oder?“, weiche ich innerlich sofort einen Schritt zurück. Das mag an meiner Schriftstellerempfindlichkeit liegen oder an der Erfahrung, dass all die „Du-Sager“ automatisch davon ausgehen, dass wir alle im selben Boot sitzen und von „gleich zu gleich“ sprechen und überhaupt Bio gut und der Mensch an sich böse ist.

Dabei ist Ines-Maria auch ganz konsequent – denn den Türken im Haus gegenüber hat sie bis heute noch nicht das „Du“ angeboten. Das wäre auch nicht von gleich zu gleich, im Gegenteil, die Familie mit 24 Stunden am Tag laufenden Fernseher stört entschieden beim Aufbau eines lupenreinen Freiburger Grünmilieus. Nur feinere Geister als Ines-Maria verstehen die Türkenfamilie im Viertel besser zu werten und zu verkaufen, nämlich als wahre Bereicherung zu einem Milieu, das sich nicht „abschottet“ und weltoffen ist. Schwärmerisch berichten feinere Geister als Ines-Maria dann so lange von der Artenvielfalt im Viertel, bis sie schulpflichtige Kinder kriegen, die mit den Kindern des türkischen Müllmanns von gegenüber die gleiche Grundschule besuchen sollen. Da tauchen verschämte Ausflüchte für Gastschulanträge oder Privatschulenvorsprechen auf wie: „Das ADS meiner Kinder muss entsprechend berücksichtigt werden, das, glaube ich, kann diese Schule nicht leisten.“ Oder wahlweise: „Wenn es nur eine richtige Gemeinschaftsschule wäre, das ist ja eine tolle Sache, aber so, nein, ich weiß nicht, das ist doch verwässert!“

Distanz zum türkischen Müllmann von Gegenüber wird übrigens auch gerne in der Quotenfrage gehalten. Einerseits diskutieren feinere Geister zwar untereinander ganz gerne Feinheiten, aber mit dem Türken erst gar nicht darüber. Und anderseits setzt sich eine Ines-Maria mit ihrem ganzen, patenten Herzen für Frauenquoten in Aufsichtsräten und unter Zuhältern ein – aber nein, ein Pochen auf eine Frauenquote bei der städtischen Müllabfuhr ist ihr noch nicht in den Sinn gekommen.

„Das Wir entscheidet.“

Aber wie gesagt, das sind vielleicht auch meine Vorurteile, weil ich das sofort angebotene „Du“ einfach nicht mag, mit Ausnahme von kaum deutsch sprechenden Ausländern, die mir sagen: “Du aufmachen, ich Werbung bringen!“ Was übrigens Ines-Maria auf ihre zupackende Art sofort gelöst hat. Denn der revolutionäre Kampf gegen den „Konsumterror“ gehört natürlich auch zum Duzer vom Schlage der Ines-Maria. Kaum war sie eingezogen, klebte nicht nur auf ihrem Briefkasten „Bitte keine Werbung“, sondern auch auf allen anderen Briefkästen im Haus, die noch nicht mit dem Schildchen gesegnet waren. Ein im Haus lebender „Werbefuzzi“ (schelmisch von Ines-Maria so genannt) entschuldigte sich bei ihr dafür, das Schild wieder weggerissen zu haben, schließlich brauche er Vergleichsmaterial für seine Arbeit. So etwas versteht Ines-Maria natürlich, klar doch, Kreativität genießt höchstes Ansehen, selbst wenn man auf der falschen Seite steht und als Konsumterrorist die Kinder mit Werbung für zuckerhaltige Getränke oder Killerspiele langfristig umbringt.

Mit besagtem Werbefuzzi war Ines-Maria natürlich auch gleich per Du (Akademiker, Kreativer, von gleich zu gleich!) und neulich traf ich im Hausgang zufällig auf beide, als sie das neue Wahlkampfplakat der SPD lobten. „Das Wir entscheidet“, so befanden beide, sei ganz große Klasse, denn in unserer Gesellschaft müsse das Basisdemokratische entschieden mehr Gewicht bekommen! Und überhaupt, der Egoismus in der Gesellschaft, jeder denke doch bloß noch an sich und gar nicht mehr an Mutter Erde (weshalb Ines-Maria auch folgerichtig eine Baumpatenschaft übernommen hat und für das Gewächs ihr Leben lassen würde, sollte es für einen Parkplatz geschlachtet werden). Der Werbefuzzi beschwor die Solidarität, schließlich verdiene er als Freiberufler weniger als so „ein Türke, der bei der Müllabfuhr arbeitet“! Also das ginge jetzt aber entschieden zu weit, warf Ines-Maria erschrocken ein, das sei ja rassistisch, und verwies den Kreativen darauf, dass gegenüber so ein Müllabfuhrtürke lebe, auch wenn der, das müsse sie zugeben, den Kindern hemmungslosen Medienkonsum erlaube und auch noch nie im Bioladen gesehen wurde, sondern im Gegenteil, bloß dem Klischee entsprechend mit Aldi-Tüten heimkomme.

Man beziehungsweise frau fand gottseidank schnell wieder einen ganzheitlichen Konsens und verabschiedete sich freundlich. Bloß ich als empfindliche Schriftstellerin grüble jetzt noch hin und her, warum ich allen außer Ausländern („Du aufmachen, ich Werbung bringen“), alten Bayern (die schon immer „Du“ zu Jüngeren sagten) oder Kindern unter sechs Jahren das selbstverständlich-spontane „Du“ bei der ersten Begegnung verüble. Vielleicht weil ich das daraus resultierende „Wir“ der SPD nicht mag? Vielleicht weil ich da an Gleichmacherei und nicht an wirkliche Gleichheit im Anerkennen der Verschiedenheit denke? Weil unter dem Deckmäntelchen der Gemeinschaft der Du-Du-Gesellschaft die größte anzunehmende Intoleranz der Neospießer daher kommt? Vielleicht weil das „Sie“ noch eine höfliche Distanz zur Weltsicht anderer zulässt und uns nicht alle verschwestern lässt, zu einer – natürlich nur einer! – richtigen Solidargemeinschaft? Oder weil vielleicht einfach Freiburger Mülltrenner und Prenzlauer-Berg-Mütter das Du zur politisch korrekten Umgangsform innerhalb unseres Milieus erklärten und ich eine kleine Aversion gegen Einebnungen in der Sprache habe?

„ Freiheit und wirkliche Brüderlichkeit geraten ins Hintertreffen.“

Ach, ich sage es doch – wir haben vielleicht Probleme, wir Schriftsteller. Erklären Sie das mal einem Baum im Amazonas oder dem Storch im Winterurlaub in Südafrika. Ich schwöre Ihnen, er wird kein Wort davon verstehen! Selbst der türkische Müllmann von gegenüber würde sich – ganz zu Recht – fragen, ob ich noch ganz dicht sei und keine anderen Sorgen habe. Besser ich setze mich jetzt hin, schreibe einen Einkaufszettel und überlege, was meine Familie zum Essen braucht.

Leichter gesagt als getan. Ich grüble schon wieder. Pflege ich denn nicht bloß meine Vorurteile mit dem „Du“ und einer weiteren Beobachtung, die an das sofortige Duzen gekoppelt ist? Diese Beobachtung besagt nämlich, dass die Duzer meist unhöflicher sind, sich nicht beim neuen Nachbarn vorstellen, seltener die Tür aufhalten oder gar einer Frau den Vortritt lassen (#aufschrei! Niemals! Machtgefälle!).  Jaja, ich weiß schon, worüber sich Schriftsteller so alles Gedanken machen ... ha, aber just als ich jetzt „Gelbe Rüben“ auf dem Einkaufszettel schrieb, fiel mir ein, warum ich Höflichkeit und das „Sie“ so schätze.

Das „Sie“ erkennt die Grenze zwischen „Ihnen“ und „mir“ an. Es zieht eine Grenze zwischen dem öffentlichen und dem privaten Raum. Es zeigt Respekt vor dem Anderen und will ihn nicht ins Wir-Boot der rot-grünen Weltenrettung holen. Grenzen, die das „Du“ und „Wir“ aber immer öfter und offensiver überschreiten, wenn das Wasser der Gemeinschaft gepredigt und der Wein des eigenen Milieus gesoffen wird. Grenzen, die überschritten werden, weil wir alle im gleichen Boot sitzen, und also jedem und jeder vorgerechnet wird, was sie der Gemeinschaft kosten, wenn sie eine Limonade und keine Bionade trinken oder gar Wein. Das „Du“ und „Wir“ meint die „Volksgesundheit“ (wortwörtlich übrigens gebraucht, wo bleibt der #aufschrei zur völlig unhinterfragten Übernahme des Nazibegriffs?) und eine Süßigkeiten-Politik, die mit Gestalt- und Machbarem ungefähr so viel zu tun hat wie der türkische Müllmann von gegenüber mit Ines-Maria.

Die Süßigkeiten-Politik schreibt keine neuen Konzepte mehr, sondern geht auf Stimmenfang mit immer neuen Vorschlägen zur Volksgesundheit und Eingriffen in unser Privatleben unter den drei Deckmäntelchen Umwelt, Kinder und Gesundheit. Drei „Werte“, die den grandiosen Parolen der französischen Revolution den Rang abgelaufen haben. Denn so sehr noch von Gleichheit die Rede ist, so sehr gelangten Freiheit und wirkliche Brüderlichkeit ins Hintertreffen. Das Boot, in dem wir alle sitzen, hat eine gefährliche Schlagseite bekommen und droht zu kentern. Deshalb mag ich so patente Personen wie Ines-Maria, auch wenn sie noch so nett sind, irgendwie nicht. Mein deutscher Großvater hatte auch so einen patenten besten Freund, der die Volksgesundheit stramm überwachte und nicht zögerte, Volksschädlinge unverzüglich anzuzeigen. Dabei war er ein wirklich guter Familienvater und Nachbar. Seine Frau goss immer zuverlässig die Blumen, wenn andere im Urlaub waren.

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