01.10.2004

Ground Zero: Himmelhoch trauern oder nach den Sternen greifen?

Analyse von Josie Appleton

Josie Appleton über die Zementierung des Grauens in der New Yorker Skyline.

Als am 4. Juli 2004 der Grundstein des Freedom Tower gelegt wurde, sprachen alle davon, dass New York wieder aufsteigen werde. Bürgermeister Michael Bloomberg sagte: „Zum zehnten Mal in der Geschichte wird in Manhattan das höchste Gebäude der Welt entstehen. Ein Ort der Trauer wird wieder aufgebaut. Heute bekräftigen wir in Ground Zero das Leben.” Und der Gouverneur George Pataki kommentierte: „Wie sehr doch unsere Feinde die Widerstandskraft dieser Stadt und die Entschlossenheit der Vereinigten Staaten unterschätzt haben.“[1]

Die feierlichen Worte übertünchten die harten Auseinandersetzungen, die seit drei Jahren über Ground Zero geführt werden. Der Wunsch, den Ort wiederaufzubauen und zurück in die Normalität zu führen, kämpft an gegen die Absicht, die Spuren des Grauens zu konservieren und das Areal als ewiges Mahnmal zu gestalten. Bis heute bleibt unklar, ob dies nun ein Ort für das tägliche Arbeiten und Leben oder eine Gedenkstätte werden soll. Und obwohl der Grundstein rechtzeitig zum Unabhängigkeitstag enthüllt wurde, wird sich noch herausstellen, was daraus wird.

Für die Hinterbliebenen der Menschen, die am 11. September 2001 starben, ist Ground Zero „heiliger Boden”. Die Vereinigung „Coalition of 9/11 Families“ betrachtet den Schauplatz der Terrorangriffe als „Friedhof ohne Grabsteine”, dessen „strukturelle Gestalt künftigen Generationen stets dem Gedenken an die Ereignisse des 11. September dienen soll“.[2] Sie will nicht, dass neue Bahnstrecken unter dem Fundament des ehemaligen World Trade Centers, das heute ca. 20 Meter unter der Erde liegt, gebaut werden und befürwortet stattdessen die Freilegung der Fundamente.

Das findet Unterstützung bei führenden Politikern. New Yorks ehemaliger Bürgermeister Rudolph Giuliani sagte, Ground Zero müsse „vor allem ein Denkmal sein“. Ginge es nach ihm, würde die gesamte Baufläche von 6,5 Hektar diesem Zweck gewidmet.[3] Gouverneur George E. Pataki versprach, man werde kein neues Gebäude auf dem Fundament der früheren Zwillingstürme bauen.

Es gibt auch Bemühungen, die Überreste des World Trade Centers zu erhalten. In einem Hangar des Kennedy International Airport werden moderne Konservierungstechniken angewandt, um den Verfall der verkohlten Überreste der Türme aufzuhalten. Regelmäßig werden Temperatur und Feuchtigkeit gemessen, und Entfeuchter bemühen sich, dem Rost Einhalt zu gebieten. Ein 58 Tonnen schwerer Pfeiler des südlichen Turms trägt ein Memento an die Polizisten, die an jenem Tag starben; damit die Inschrift nicht abfällt, wird ein stark klebendes Harz unter ihre Oberfläche injiziert.[4]

„Der Freedom Tower soll 1776 Meter hoch werden und seine Dachkonstruktion dem erhobenen Arm der Freiheitsstatue ähneln. Doch die Symbole der Moderne und der Freiheit wirken in diesem Ensemble wie traurige Relikte einer vergangenen hoffnungsvollen Ära.“

Auch der Entwurf des Architekten Daniel Libeskind zur Neugestaltung des Areals zielt auf eine Gedenkstätte. Im Mittelpunkt befindet sich eine tiefe Grube, genau dort, wo früher die Türme standen und tagelang das Feuer wütete. Das Gelände wird umrahmt von einer Schutzwand, die das Wasser des Hudson River zurückhält. Die Hochhäuser von Libeskind haben zerklüftete Ränder, die an Scherben erinnern, als seien sie in einer Explosion zerborsten. Zudem wollte er die Wege markieren, die die Rettungsmannschaften nahmen, um zu den Türmen zu gelangen. Und er entwarf das Ensemble so, dass jedes Jahr am 11. September um 10.28 Uhr, dem Zeitpunkt, als der zweite Turm einstürzte, ein „keilförmiges Licht“ auf die Stelle trifft, ohne Schatten zu werfen.

Der Freedom Tower soll 1776 Meter hoch werden und seine Dachkonstruktion dem erhobenen Arm der Freiheitsstatue ähneln. Doch die Symbole der Moderne und der Freiheit wirken in diesem Ensemble wie traurige Relikte einer vergangenen hoffnungsvollen Ära. Keine Spur hier von dem Stolz und Optimismus, mit dem New York früher seine Rolle als führende Metropole der westlichen Welt zelebrierte. 

Die intensive Beschäftigung mit dem Gedenken an tragische Ereignisse ist ein relativ neues Phänomen. Noch in den 90er-Jahren bereiste der Kulturgeograf Kenneth E. Foote viele Schauplätze historischer Gewalt in Amerika und stellte fest, dass an den meisten die Normalität wieder eingekehrt sei, wenn nicht ohnehin sämtliche Spuren der Ereignisse verschwunden waren. An den Terroranschlag auf die Wall Street im Jahre 1920, der 30 Menschen das Leben kostete und 200 verletzte, erinnern beispielsweise nur noch ein paar Splitter in umliegenden Gebäudefassaden.[5]

„Es scheint uns zunehmend schwer zu fallen, tragische Ereignisse hinter uns zu lassen und einfach weiterzuleben. Stattdessen herrscht die ausgeprägte Neigung, sie zu permanenten Lebensbegleitern zu machen.“

Foote konstatierte, dass sich die Art, in der mit solchen Ereignissen umgegangen wird, in den 90er-Jahren stark wandelte. Man begann, Orte, an denen Menschen ihr Leben lassen mussten, zu markieren. Der erste Gedenkstein, den er fand, wurde im Jahre 1990 zum Gedenken an die Opfer einer wilden Schießerei errichtet, die sich 1984 in einem McDonalds-Restaurant im kalifornischen San Ysidro ereignet hatte. Inzwischen haben wir uns an Gedenksteine am Straßenrand gewöhnt, die anzeigen, dass hier ein Mensch starb. Solche Orte werden zunehmend zu Pilgerstätten – von Ground Zero über Oklahoma, wo 1995 ein Hochhaus in die Luft gejagt wurde, bis zum Bahnhof Atocha in Madrid.

Es scheint uns zunehmend schwer zu fallen, tragische Ereignisse hinter uns zu lassen und einfach weiterzuleben. Stattdessen herrscht die ausgeprägte Neigung, sie zu permanenten Lebensbegleitern zu machen. Die Identifikation mit Leid und Unglück – auch sinnlosem – ist stark. Der Entwurf von Libeskind konserviert die traumatische Erfahrung des ersten Schocks, als noch keiner recht wusste, was eigentlich geschehen war, und zelebriert damit das emotionale Chaos dieses Augenblicks. Er ist die steinerne Verewigung des sinnlosen Verlusts, symbolisiert durch zwei Brunnen, deren Wasser in den Löchern verschwindet, in denen einst die Türme standen.

Die Opfer des 11. September starben tatsächlich einen sinnlosen Tod und nicht für ein heroisches Ziel. Doch wozu muss das auf 1,6 Hektar verewigt werden? Warum baut man nicht neue Hochhäuser, größere und bessere als das World Trade Center, um dazu beizutragen, die peinigende Erinnerung auszulöschen und die Grundlage für eine neue Zukunft zu legen?

Ganz haben sich diejenigen, die Ground Zero erhalten wollen, allerdings nicht durchsetzen können. Der Bauherr Larry Silverstein, der das Gelände des World Trade Centers gepachtet und entsprechend dabei mitzureden hat, was hier geschieht, drängte darauf, so schnell wie möglich neue Büroräume zu errichten. Er hat einen anderen, eher kommerziell orientierten Architekten, David Childs, engagiert, der mit Libeskind zusammenarbeiten und darauf achten sollte, dass seine Wünsche Berücksichtigung finden.

Unterdessen drängten lokale Geschäftsleute Gouverneur Pataki, Downtown Manhattan insgesamt etwas aufzumöbeln, bislang allerdings ohne Erfolg. Thomas A. Renyi, Präsident und Vorsitzender der Bank of New York, beschwerte sich über den „Mangel an Klarheit und verlorenen Schwung“ der Wiederaufbaupläne. Der Gouverneur reagierte mit der Veröffentlichung eines Zeitplans für die Renovierung von Straßen, Parks und Brücken. Längerfristig sollen auch unterirdische Fußgängertunnel und eine Zugverbindung zum Flughafen errichtet werden.[6]

Einige Aspekte des Libeskind-Entwurfs wurden inzwischen modifiziert. Manche zerklüftete Ecken der Gebäudekomplexe wurden geglättet, da man bezweifelte, die ungewöhnlich geformten Büroräume vermieten zu können. Das „keilförmige Licht“ wurde auf das Dach der Zugstation verlegt. Die ursprünglich 21 Meter tiefe Grube, die die alte Schutzwand zum Vorschein bringen sollte, wird nun nur noch 9 Meter tief sein, nachdem Silverstein zu bedenken gegeben hatte, dass Geschäftsleute womöglich wenig Interesse daran hätten, neben einem Erdloch zu arbeiten, das ihnen die eigene Verwundbarkeit vor Augen führe.[7]

Viele Elemente des Konzepts werden nach wie vor mit Skepsis bedacht. Doch Ground Zero wird sicher nicht zu dem 6,5 Hektar großen Denkmal werden, das manche sich gewünscht haben. Es wird mehrere Millionen Quadratmeter Büroraum, Einkaufspassagen und eine moderne Bahnstation umfassen.

Ein Jahr nach den Anschlägen schrieb ein Kolumnist: „Wir müssen bauen, bauen und noch einmal bauen.“[8] Man hätte vielleicht erwartet, dass eine Stadt wie New York auf den barbarischen Akt der Zerstörung mit einem trotzigen und kreativen „Jetzt erst recht!“ reagieren würde. Aber diese Art Idealismus oder schiere Lebensfreude stehen heute nicht hoch im Kurs. Zurzeit zahlen Silverstein und sein Gesellschafter, Westfield America, jeden Monat 10 Millionen US-Dollar Pacht für ein ungenutztes Grundstück.[9] Es ist eher dieses finanzielle Fass ohne Boden, das sie bewog, sich für eine Rückkehr des Lebens in die Gegend zu engagieren.

Nach wie vor werden die Befürworter des Wiederaufbaus von den Trauernden ausgebremst. Die „Wunde“ Ground Zero wirkt aufgrund der ambivalenten Reaktionen, die sie auslöst, wie ein kulturelles Barometer. Früher waren es meist die dynamischeren Städte, die neue Möglichkeiten in den Lücken sahen, die ein Krieg oder eine Katastrophe gerissen hatten. Das Feuer in London im Jahre 1666 fegte die kleinen gewundenen, verdreckten Gassen und hölzernen Gebäude hinweg. Sie wurden schnell durch größere Straßen und Steinhäuser ersetzt. Die Inschrift auf dem Mahnmal, das dem Gedenken an diese Katastrophe geweiht ist, lautet: „Überall ist Eile, London erhebt sich wieder.“ Andere Städte wie Hiroshima oder Dresden nach dem Zweiten Weltkrieg oder San Francisco nach dem Erdbeben von 1906 mussten sogar ganz von vorne anfangen.
Es waren immer die eher undynamischen Städte, die ihre Narben unberührt ließen. Das Erdbeben von 1972 machte Managua, die Hauptstadt von Nicaragua, dem Erdboden gleich; die Stadt hat sich seitdem nie erholt: Überall gibt es ungenutzte Flächen, die aufgegeben wurden und die keiner nutzen möchte. In Osteuropa ließ man vielerorts die Weltkriegsruinen langsam verfallen, statt sie durch Neues zu ersetzen.

Es ist beunruhigend zu sehen, dass eine der dynamischsten Städte der Welt ihre Energie darauf verwendet, die Überreste eines Terroranschlages zu erhalten, statt wieder nach den Sternen zu greifen. Hoffen wir, dass in dem Konflikt um Ground Zero die Befürworter des Wiederaufbaus den Ausschlag geben werden.

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