16.07.2015

Grexit: Euroland ist ausgebrannt

Kommentar von Patrick Zimmerschied

In seinem Gastbeitrag verweist Patrick Zimmerschied auf Deutschlands Beitrag zur Entstehung der griechischen Misere. Für ihn wird es Zeit, dass Deutschland aufhört, Euro-Partner wie Wettbewerbsgegner zu behandeln und auf ihre Kosten unter den eigenen Verhältnissen zu leben

Der Ökonom Rudiger Dornbusch hatte bereits im Jahr 1996 in seinem Essay „Euro Fantasies“ festgestellt, dass das eigentliche Problem der europäischen Währungsunion in der Aufgabe der Wechselkurse liege, da so die Anpassung der Wettbewerbsfähigkeit und der relativen Preise auf den Arbeitsmarkt übertragen werde. Er schrieb, dass eine solche Verschiebung die schwächeren Volkswirtschaften des Euroraumes ins Straucheln bringen würde. Arbeitslosigkeit und soziale Probleme würden dementsprechend zunehmen, und es käme zu Schwierigkeiten in der europäischen Integration. [1]

„Natürlich waren sich die Euro-Konstrukteure der Probleme, die eine einheitliche Währung in Europa mit sich bringen würde, bewusst“

Genau das ist in der Eurozone nun eingetreten. Aus ideologischen Gründen wurde, entgegen den Warnungen von Experten und ungeachtet der Abneigung der Bevölkerung, eine „One Size Fits All“-Währung eingeführt. Helmut Kohl selbst bezeichnete sein Vorgehen in dieser Entscheidung im Nachhinein als das eines Diktators [2].

Natürlich waren sich die Euro-Konstrukteure der Probleme, die eine einheitliche Währung in Europa mit sich bringen würde, bewusst. Offensichtlich sogar mehr als heute, denn einer der wenigen namhaften deutschen Ökonomen, der die entscheidenden Fehler zurzeit in aller Klarheit benennt, ist Heiner Flassbeck [3] – von 1998 bis 1999 Staatssekretär im vom damaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine geführten Finanzministerium. Er wird allerdings von den etablierten Medien größtenteils ignoriert.

Es wurden vor der Einführung des Euro durchaus Bestimmungen in den Verträgen festgehalten, die den heute zu Tage getretenen Schwierigkeiten entgegenwirken sollten. Zentral war hierbei, dass man sich auf eine Inflationsrate von rund zwei Prozent für alle Mitgliedsländer der Währungsunion einigte. Inflation bezeichnet die Steigerung der Güterpreise. Ist die Inflationsrate in einem Land höher als in anderen Ländern, werden die Importe billiger und umgekehrt. Das heißt, die Inflationsrate ist eine entscheidende Größe für die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes, da die Preise der Exporte bzw. Importe durch sie bestimmt werden und sie somit als wichtiger Faktor in die Attraktivität der inländischen und ausländischen Produkte einfließt. Bei Nationen mit verschiedenen Währungen können die Länder sich durch Auf- bzw. Abwertungen schützen. In einer Währungsunion fällt diese Möglichkeit jedoch weg.

„Nichts, was man auf dieser Welt vorfindet, hat bereits einen Preis, erst die menschliche Arbeit, die investiert wird, erzeugt ihn“

Die Inflationsrate hängt eng mit den nominalen Lohnstückkosten zusammen, die man berechnet, indem das Arbeitnehmerentgelt durch das reale Bruttoinlandsprodukt geteilt wird. Die Inflationsrate wird also letztendlich von dem Verhältnis zwischen den Löhnen und der Produktivität eines Landes festgelegt. Es ist ganz selbstverständlich, dass die Höhe der Löhne für die Wettbewerbsfähigkeit so wichtig ist, da praktisch alles unter Einsatz von Lohnarbeit hergestellt wird. Nichts, was man auf dieser Welt vorfindet, hat bereits einen Preis, erst die menschliche Arbeit, die investiert wird, erzeugt ihn.
Solange die vereinbarte Inflationsrate in einer Währungsunion eingehalten wird, spielt es überhaupt keine Rolle, wie verschieden die Wirtschaft in den einzelnen Ländern funktioniert. Anders als häufig behauptet, ist das Ungleichgewicht der Produktivität bei den Problemen der Euro-Zone nicht von Bedeutung. Der einzige relevante Faktor ist, dass die Löhne zur Produktivität des jeweiligen Landes passen müssen, da so die Wettbewerbsunterschiede in Grenzen gehalten werden.

Dieser Punkt der Verträge wurde aber nicht sonderlich ernst genommen. Die „Südländer“ lebten über ihren Verhältnissen, die Deutschen deutlich unter ihnen. Bedenkt man, dass im deutschen Grundgesetz das Recht auf Tarifautonomie verankert ist und gleichzeitig die Schuldenbremse in der Verfassung steht, so braucht es eine Menge Fantasie, sich vorzustellen, wie eine legitime Durchsetzung der EU-Vorgaben im Bereich der Inflationsrate aussehen könnte.

Sparen und Schulden

Die vernünftigste Lösung für Deutschland wäre, die schwarze Null zusammen mit der Agenda 2010 über Bord zu werfen und anzufangen, beispielsweise in erheblichem Maße in unsere Infrastruktur zu investieren. Denn Sparen bedeutet, dass man mehr produziert als man verbraucht und diesen Überschuss an andere verkauft, die nicht sparen, sondern mehr konsumieren wollen, als sie selbst herstellen. Das ist die Logik der Volkswirtschaft. Was geschieht aber in Deutschland? Die privaten Haushalte sparen. Die Unternehmen sparen. Und der Staat spart auch. Doch wenn in Deutschland alle sparen, wer bleibt dann noch übrig, um sich zu verschulden? Nur das Ausland.

„Doch wenn in Deutschland alle sparen, wer bleibt dann noch übrig, um sich zu verschulden? Nur das Ausland“

Die gesamtwirtschaftliche Bruttosparquote Deutschlands beträgt 22,9 Prozent [4]. Diese Bruttosparquote erhält man, indem das BIP ins Verhältnis zum BIP minus dem inländischen Konsum gesetzt wird. Wenn man die inländischen Investitionen von der Sparquote abzieht, kann man sehen, dass der deutsche Finanzierungssaldo im dritten Quartal 2013 190,11 Milliarden Euro betrug. „Ersparnisse gleich Investitionen“ gilt nur in einer geschlossenen Volkswirtschaft. Das heißt, dass das Ausland sich mit 190,11 Milliarden Euro in Deutschland verschuldet hat. [5]

Die Gewinne der deutschen Firmen kommen seit über einem Jahrzehnt zum großen Teil aus dem Export. Die Unternehmen schwimmen im Geld. Gleichzeitig stagniert die Binnennachfrage. Es wird kaum noch im Inland investiert. Es finden sich nur wenige Unternehmer, die bereit sind, Risiken einzugehen und sich zugunsten neuer Investitionen im Inland zu verschulden. Die Unternehmen sind langfristig auf eine stabile Auslastung angewiesen. Zahlen sie aber zu geringe Löhne, ist niemand da, der die Produkte abnehmen kann. Um die gesamteuropäischen Probleme zu lösen, müssen wir die Schulden endlich ins Inland verlagern und das Lohnniveau erhöhen.

Der exorbitante Niedriglohnsektor, das Wachstum von Minijobs, Leiharbeit und Werkverträge und die Einführung von Hartz IV haben durch die Schwächung der Arbeitnehmerposition erheblich dazu beigetragen, einen Lohnzuwachs zu verhindern und müssen wieder rückgängig gemacht werden. Politischer Druck ist hier dringend nötig. Zudem kann ein öffentlicher Sektor, der mehr Aufträge vergibt und vielleicht sogar Bürgern mit wenig Geld finanziell stärker unter die Arme greift, die inländische Wirtschaft ankurbeln. Als größter Arbeitgeber Deutschlands könnte er auch mit gutem Beispiel vorangehen und die Gehälter seiner Angestellten erhöhen.

Der Fehler bei der Konstruktion des Euro-Systems war letztendlich weniger ein ökonomischer als vielmehr ein psychologischer: In jedem bisherigen Währungssystem versuchten die Überschussländer ihre Überschüsse zu verteidigen. Es wäre sicherlich eine interessante Frage, was dabei Ursache und was Wirkung ist. Ist es die puritanische Mentalität solcher Länder, die sie ihre Überschüsse erwirtschaften und auch verteidigen lässt, oder ist es das Vorhandensein der Überschüsse, welches dieses Bedürfnis weckt?

Jedenfalls sind die ökonomischen Kausalzusammenhänge der gegenwärtigen Situation nicht unähnlich denjenigen in der Zeit der Weltwirtschaftskrise, als der Goldstandard aufgrund des Unwillens der Überschussländer, ihren Teil zur Stabilisierung des Systems beizutragen, dazu führte, dass diese Währungsordnung scheiterte. Deutschland war damals übrigens in einer Situation, die mit der Griechenlands heute vergleichbar ist [6].

„Man kann im Euro nicht ständig versuchen, in einem Wettlauf der Nationen die Nase vorn zu haben“

Man kann im Euro nicht ständig versuchen, in einem Wettlauf der Nationen die Nase vorn zu haben. Zwischen Unternehmen funktioniert dieses Konzept. Dann wird die konkurrierende Firma einfach vom Markt gedrängt. Aber mit Nationen geht diese Rechnung nicht auf. Länder werden nicht aufgelöst, nachdem sie bankrottgegangen sind. Deutschland begreift sich zu Unrecht als „Wachstumslokomotive“ Europas. In Wirklichkeit schwächt sich Deutschlands Wirtschafts- und Produktivitätswachstum seit Jahrzehnten ab. Statt die Produktivität spürbar zu steigern und die arbeitende Bevölkerung an den Fortschritten der Wirtschaftsentwicklung mittels Lohnsteigerungen teilhaben zu lassen, die auch die Nachfrage nach ausländischen Produkten erhöhen, kapriziert sich unser Land auf seine Wettbewerbsfähigkeit. Durch die damit einhergehende Politik der Lohnzurückhaltung exportiert Deutschland jedoch nicht nur viele seiner Produkte, sondern auch Arbeitslosigkeit in die anderen Länder.

Produktivität und Wettbewerb

Ein hoher Überschuss in der Leistungsbilanz eines Landes signalisiert dementsprechend genauso ein Missverhältnis in der Volkswirtschaft wie ein Defizit. Hier geht es darum, ein fundamentales, aber häufig anzutreffendes Missverständnis auszuräumen: Die Forderung, dass Deutschland an Wettbewerbsfähigkeit verlieren solle, bedeutet keineswegs, dass die deutsche Wirtschaft „schlechter“ oder „unproduktiver“ zu werden habe. Was einem aber zu denken geben sollte, ist, dass Deutschlands Wirtschaftsstruktur auf Außenhandelsüberschüsse ausgerichtet ist. Ja, dass die deutsche Wirtschaftspolitik in ihrer jetzigen Form sogar undenkbar ist, ohne das hier angesprochene Ungleichgewicht zwischen großen inländischen Ersparnissen, mangelnden inländischen Investitionen und einer zeitgleichen Auslandsverschuldung.

Deutschland baut nämlich darauf, dass andere Länder zu seinen Gunsten immer weiter Defizite machen. Das ist eine Missachtung gegenüber der eigentlichen Idee des Freihandels, der es eigentlich ermöglichen soll, dass eine Nation nicht alles selbst herstellen muss, was die Bevölkerung konsumieren möchte, sondern einen komparativen Kostenvorteil erreichen kann. So wäre allen geholfen.

„Der Euro wird am Außenhandelserfolg Deutschlands scheitern“

Wenn man sich allerdings, wie Deutschland es tut, einen Wettbewerbsvorteil sichert, zugleich im Inland kaum noch investiert und man die ausländischen Märkte mit seinen Produkten überschwemmt, dann läuft da etwas gewaltig schief. Eine hohe Wettbewerbsfähigkeit bedeutet nämlich, dass man die Märkte der anderen infiltriert und die Lebensgrundlage ausländischer Konkurrenten untergräbt. Diese Entwicklung belastet nicht zuletzt unser Verhältnis zu Frankreich, das zwar eine höhere Arbeitsproduktivität aufweist als Deutschland, aber aufgrund von deutschem Lohndumping immer weiter ins Hintertreffen gerät. Der Euro wird am Außenhandelserfolg Deutschlands scheitern. Griechenland ist am Ende, anderen europäischen Ländern geht es auch nicht sonderlich gut: Spanien, Portugal, Italien, Frankreich. Ändert sich nichts, werden diese Länder früher oder später ebenfalls ruiniert sein. Aber bevor es soweit ist, wird die Frustration der Bevölkerung wahrscheinlich schon dafür gesorgt haben, dass die Währungsunion scheitert.

Die Alternative besteht, wie gesagt, darin, dass Deutschland den Export seiner Produkte verteuert. Doch das ist einfacher gesagt als getan. Immerhin genießen wir unsere wirtschaftliche Vormachtstellung ja auch ein bisschen. Man muss allerdings verstehen, dass Wettbewerbsfähigkeit ein relatives Konzept ist. Je konkurrenzfähiger der Eine im europäischen Binnenmarkt, umso weniger konkurrenzfähig der Andere. Deshalb ist es Schwachsinn, wenn Frau Merkel verlangt, dass alle wettbewerbsfähiger werden müssen. Wir können alle zusammen produktiver, aber wir können nicht alle wettbewerbsfähiger als zuvor werden, denn die Wettbewerbsfähigkeit muss ja irgendwoher kommen. Wenn alle wettbewerbsfähiger werden, bleibt keiner übrig, der etwas von seiner Wettbewerbsfähigkeit abgeben könnte. Ein Widerspruch in sich. Deutschland scheint in dieser Hinsicht etwas begriffsstutzig zu sein.

Die Sichtweise, dass dies die Wurzel der ganzen Misere sei, ist unter den führenden amerikanischen Ökonomen wie Ben Bernanke [7], Joseph Stiglitz [8], Amartya Sen [9] oder Allan Meltzer [10] weit verbreitet. In Deutschland hingegen ist diese Meinung eine Seltenheit. Zu den wenigen deutschen Wirtschaftswissenschaftlern, neben Flassbeck, die die Lage korrekt analysieren, zählen Peter Bofinger [11] und Gustav Horn [12].

„In die Krise muss hineininvestiert werden, um neues Wachstum zu generieren“

In Griechenland hat die wirtschaftliche Dominanz Deutschlands die unübersehbare Folge, dass man sich in den Gängen der Supermärkte in seine Heimat zurückversetzt fühlt. Die Regale sind gefüllt mit Produkten deutscher Hersteller. Die Binnenwirtschaft liegt am Boden. Und in dieser Situation werden Forderungen gestellt, die so unrealistisch sind, wie Versailles es einst für Deutschland war.

Die Bedingungen, die den Griechen aufoktroyiert wurden, haben das Bruttoinlandsprodukt bereits um 30 Prozent sinken lassen, und der Ausweg soll nun sein, die gleiche Taktik weiter zu verfolgen? Ganz nach dem Motto: Wir haben uns zwar verlaufen, aber wenigstens kommen wir gut voran. Das ist Irrsinn. In die Krise muss hineininvestiert werden, um neues Wachstum zu generieren. Wenn schon zu wenig Geld von den Unternehmen und den Bürgern ausgegeben wird, um die Wirtschaft am Laufen zu halten, dann kann ein noch stärker als bisher sparender Staat nicht die Lösung sein.

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