01.10.2003

Gesunde Ernährung: voll fett!

Analyse von Ulrike Gonder

Ulrike Gonder über einen der größten Irrtümer in der Geschichte der Ernährungswissenschaften.

Nein, es geht nicht um Nitrofen, Hormone oder BSE. Es geht vielmehr um die ganz „normalen“ Empfehlungen der Ernährungswissenschaft zur „gesunden“ Ernährung: Seit 40 Jahren hören wir, z.B. von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, gesund sei eine möglichst fett-, cholesterin- und salzarme Kost, die dafür reichlich Kohlenhydrate und Ballaststoffe liefern soll. Kaum ein Ratgeber, der nicht vor fettigen Fingern beim Essen warnt und stattdessen Vollkorn-Knäcke und Nudeln empfiehlt. So lernten wir, uns vor Butter und Öl, Sahne und Speck zu fürchten. Und stopfen derweil Brot, Müsli, Kekse und Kartoffeln in uns hinein – von irgendetwas muss der Mensch ja satt werden. Diese Lebensmittel liefern so genannte „komplexe“ Kohlenhydrate, die nach der gängigen Lehre (im Gegensatz zu Zucker) vorteilhaft sind und das Fett vom Teller verdrängen sollen.

Doch wie es aussieht, wurden die Menschen jahrzehntelang falsch beraten. Erste Hinweise hatten zwei große Studien der renommierten Harvard Medical School in Boston erbracht, die Nurses Health und die Health Professionals´ Studie. Sie hatten ergeben, dass ein „gesundes“ Essverhalten im Sinne von „fettarm-kohlenhydratreich“ auch nach vielen Jahren kaum Vorteile bringt: Die Herzinfarktrate der Männer war ein wenig, die der Frauen gar nicht gesunken, und weder die Krebssterblichkeit noch die Lebenserwartung hatten sich verbessert. Und nun? Die Bostoner Forscher rieten keineswegs zu Gleichgültigkeit oder Völlerei, sondern forderten die Fachwelt auf, ihre Ernährungsregeln kritisch zu überprüfen.

Fettarm und kohlenhydratreich zum Infarkt

Das Dogma vom Fett als Gesundheitsrisiko war unter kritischen Wissenschaftlern von Anfang an umstritten – dennoch hielt es sich hartnäckig. In einem spannenden Artikel im Wissenschaftsmagazin Science legte Gary Taubes im März 2001 detailliert dar, dass die Schädlichkeit des Fettes nie eindeutig belegt werden konnte. Er resümiert: „Der ernährungswissenschaftliche Mainstream hat das Fett dämonisiert. Allerdings gelang es der Forschung selbst in 50 Jahren und mit Hunderten Millionen von Dollar nicht zu beweisen, dass eine fettarme Kost dabei hilft, länger zu leben.“

Ein Leben lang sparsam mit Butter, Ei, Öl und Fleisch – und nun soll alles umsonst gewesen sein? Für Gesundheitsbewusste mag das schockierend genug sein, es kommt jedoch noch heftiger: Es häufen sich die Hinweise darauf, dass die althergebrachten Essvorschriften jene Zivilisationsleiden, die sie verhindern sollten, sogar fördern könnten. Die Ergebnisse vieler kleiner Stoffwechselstudien der letzten Jahre lassen sich so zusammenfassen: Je fettärmer und kohlenhydratreicher die Kost, desto schlechter fallen die Werte für Risikofaktoren wie Blutcholesterin, Blutfette, Blutdruck, Blutzucker und Insulin aus. Das gilt in erster Linie für Übergewichtige, Bewegungsfaule und Menschen mit gestörtem Zuckerstoffwechsel. Genau ihnen wird von offizieller Seite aber besonders vehement zum Fettsparen geraten. Diese Verdammung der Fette könnte sich als einer der größten Fehler in der Geschichte der Ernährungswissenschaft erweisen.

Auf der anderen Seite entpuppen sich ausgerechnet die als Gesundheitsgaranten gepriesenen Kohlenhydrate immer mehr als Bösewichter – egal, ob in Form von „komplexen“ Kohlenhydraten wie die Stärke in Brot und Nudeln oder als „einfacher“ Zucker in Süßwaren und Getränken. In großen Beobachtungsstudien mit mehr als 130.000 Teilnehmern zeigte sich: Je mehr Kohlenhydrate verzehrt werden und je stärker diese den Blutzuckerspiegel erhöhen, desto häufiger kommt es zu Übergewicht, Herzkrankheiten und Diabetes. Mit diesen Krankheiten steigt auch das Risiko für Schlaganfälle und bestimmte Krebsformen. Zudem ist die Diabetes eine der häufigsten Ursachen in unserer Gesellschaft für Blindheit, Nierenschäden und Amputationen.

Seltsam nur, dass die Öffentlichkeit von Studienergebnissen, die negativ für die „guten“ Kohlenhydrate (und positiv für die „bösen“ Fette) ausfallen, kaum etwas erfährt. Zumal die Verdachtsmomente keineswegs neu sind: Ärzte wie etwa der Österreicher Wolfgang Lutz oder der durch seine „Diät-Revolution“ in den 70er-Jahren bekannt gewordene US-Arzt Robert Atkins warnen seit Jahrzehnten vor der „Kohlenhydrat-Falle“ und empfehlen eine fett- und eiweißreiche Kost. Statt die Beobachtungen dieser Mediziner einmal kritisch zu überprüfen, tat man sie all die Jahre hochnäsig als Außenseitermeinungen ab und brandmarkte ihre Kostempfehlungen als gefährlich.

Die vermeintlichen Außenseiter erleben derzeit immer mehr Zulauf, vor allem in den USA und in Großbritannien. Kein Wunder, denn dort explodieren die Zahlen der Dicken und Zuckerkranken förmlich – trotz eines rückläufigen Fettverzehrs. In den USA ist bereits jedes vierte Kind übergewichtig, und mindestens jeder dritte Erwachsene über 50 Jahren leidet an Störungen im Fett- und Zuckerstoffwechsel. Weltweit wird bis zum Jahr 2025 mit einer Verdopplung der Diabeteskranken auf über 300 Millionen gerechnet. Alarmierend ist auch, dass schon Kinder am so genannten „Altersdiabetes“ erkranken. Mit etwas weniger Ignoranz gegenüber Andersdenkenden wäre diese Entwicklung vielleicht zu verhindern gewesen.

Artgerechte Nahrung – auch für Menschen

Auch ein Blick in die Geschichte der Menschheit hätte helfen können, die jetzt zutage beförderten fundamentalen Irrtümer der Ernährungswissenschaft zu verhindern: Menschliche Wesen gibt es seit etwa zwei Millionen Jahren. Analysen von Knochenfunden und die Untersuchung von noch heute lebenden „Naturvölkern“ lassen den Schluss zu, dass wir 99,5 Prozent unserer Zeit auf Erden als Jäger und Sammler lebten, das heißt von Fett, Fleisch, Innereien, Hirn, Knochenmark und Eiern, ergänzt durch ein paar Nüsse, Früchte, Wurzeln, Blätter und gelegentlich wohl auch etwas Honig. Müsli, Brot, Nudeln, Kartoffeln, Milch und Zucker gab es in all diesen Jahrtausenden nicht – natürlich auch keine Cola und kein Fast Food, aber das ist eine andere Geschichte.

Erst mit der Einführung des Ackerbaus vor rund 10.000 Jahren wurden unsere Vorfahren sesshaft und aßen zunehmend mehr Kohlenhydrate anstelle von Fett und Eiweiß. Ausgrabungen belegen, dass sich ihr Gesundheitszustand dadurch zunächst dramatisch verschlechterte: Erstmals trat Karies auf, die Menschen blieben kleiner und ihre Lebenserwartung sank.

Erst ganz allmählich entwickelten sie Techniken wie Brauerei und Bäckerei, mit denen sie das schwer verdauliche Getreide aufschließen und besser verdaulich machen konnten. Wir sind die Nachfahren jener, die diese drastische Veränderung der Nahrungsgrundlage überlebt haben. Führt man diese Gedanken weiter, wird klar, dass der Mensch genetisch an eine eiweiß-, fett- und cholesterinbetonte Kost, kombiniert mit Früchten, stärkearmem Grünzeug und Nüssen gut angepasst sein muss. Dagegen tut er sich mit (vielen) Kohlenhydraten in Form von Stärke und Zucker noch immer schwer, vor allem wenn er, bar jeder Muskelaktivität, sie nicht laufend verbrennen kann.

Der Mensch ist genetisch an eine eiweiß-, fett- und cholesterinbetonte Kost, kombiniert mit Früchten, stärkearmem Grünzeug und Nüssen gut angepasst.

Kopfstand für die Gesundheit

An der Harvard Medical School in Boston ist man seit einiger Zeit dabei, all die neuen Erkenntnisse in praktische Tipps umzusetzen. Die „Ernährungspyramide“, die Ernährungsberater zur Veranschaulichung ihrer Ratschläge nutzen, muss demnach umgebaut werden: Kartoffeln und Getreide – bislang noch die Basis einer gesunden Ernährung – sollen nach oben in die schmale Spitze der Pyramide rutschen, also deutlich seltener verzehrt werden.

Dafür werden fette Nüsse, fette Fische, Milchprodukte (sofern sie vertragen werden) und mageres Fleisch aufgewertet und rutschen deutlich nach unten. An die Basis gehören nach dem derzeitigen Kenntnisstand Gemüse, Salate und Obst sowie bestimmte Öle (vor allem Oliven- und Rapsöl). Damit steht das, was uns die Ernährungswissenschaft bisher empfohlen hat, förmlich auf dem Kopf. Doch so wie es aussieht, steigen damit unsere Chancen, gesund und schlank zu bleiben.

Fazit: Ausprobieren!

Natürlich sind auch heute noch viele Fragen zur „gesunden“ Ernährung offen. Besser belegt als die herkömmlichen Theorien sind die neuen Erklärungsmodelle jedoch allemal. Was ist zu tun? Wer ein unauffälliges Körpergewicht und keine Probleme mit seiner Ernährung (Blähungen, Völlegefühl) und seiner Gesundheit hat (z.B. hohe Blutfettwerte), möge mit Genuss und Freude so weiterschmausen wie bisher!

Alle anderen sollten einmal kritisch in sich hineinhorchen, insbesondere, wenn viel Brot, Nudeln, Kartoffeln, aber auch Kuchen, Süßigkeiten und Softdrinks (Limo, Cola, Eistee, etc.) konsumiert werden. Wer bei dieser Kohlenhydrat-betonten Kost dick und krank oder aufgebläht und müde ist, kann einmal eine Fett- und Eiweiß-betonte Kost mit reichlich Gemüse und Obst ausprobieren. Dies gelingt z.B., indem ein Teil der Kohlenhydratträger durch Gemüse, Obst, mageres Fleisch und Geflügel, Fisch (auch die fetten Sorten), Milch und Milchprodukte (sofern verträglich) oder Nüsse ersetzt wird. Bei den Fetten bietet sich Butter als Streichfett an – davon benötigt man jedoch automatisch weniger, wenn weniger Brot gegessen wird. Dagegen darf bei Olivenöl, Rapsöl, Gänse- und Schweineschmalz ruhig etwas kräftiger zugelangt werden. Aufgrund ihrer Fettsäurezusammensetzung gelten diese Fette als günstig für die Cholesterin- und Blutfettwerte. Da es jedoch nicht eine einzige „richtige“ Ernährungsform für alle gibt, sollte man auch diesen neuen Empfehlungen gegenüber kritisch bleiben und versuchen, einen individuellen Weg zu finden. Das Ziel heißt im Grunde Gewichtskonstanz bei größtmöglicher Sättigung und Zufriedenheit.

Die Ernährungswissenschaft ist derweil aufgerufen zu überprüfen, ob nicht eine Brot- und Nudel-arme, Fleisch-, Ei- und Fisch-betonte Kost mit ausreichend Gemüse und Obst viel gesünder ist als das, was sie derzeit empfiehlt. Die bisherigen Empfehlungen basieren nicht auf wissenschaftlicher Evidenz, sondern auf Expertenmeinungen und fragwürdigen Konsens-Beschlüssen.

Es ist höchste Zeit zu handeln: Dortmunder Ernährungsforscher berichteten kürzlich stolz im British Journal of Nutrition, dass deutsche Kinder immer weniger fetthaltige Lebensmittel verspeisen und dafür (während ihre Muskeln vor den Bildschirmen Dauerpause haben) bei kohlenhydratreichen Getreideflocken und Brot kräftiger zulangen. Wer diese Entwicklung weiter unkritisch vorantreibt, muss sich womöglich bald vorhalten lassen, Übergewicht und Diabetes in der jungen Generation nach Kräften gefördert zu haben.

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