30.10.2014
Gesellschaft vor dem Burnout
Analyse von Nicolaus Heinen
Die Eurokrise ist längst nicht beendet. Die Gesellschaften in der Europäischen Union laufen vielmehr Gefahr, dass sich durch eine Abwärtsspirale von Realitätsverweigerung, Resignation und Angst ihre Situation verschlimmert
Der Schock steckt Europa noch in den Knochen: Bei den letzten Europawahlen konnten populistische Kräfte in zahlreichen Ländern der Europäischen Union (EU) ihre Stimmanteile steigern. Dies mag auf den ersten Blick verwundern. Hat die Schlagzahl politischer Krisen und Turbulenzen an den Kapitalmärkten nicht zuletzt abgenommen? Haben Irland, Portugal und Spanien nicht ihre Hilfsprogramme verlassen? Ist jüngst nicht sogar der Eindruck neuer Stabilität entstanden?
Dies alles trifft sicher zu. Doch die neue Stabilität ist in erster Linie dem Sicherheitsnetz der Eurorettungsschirme geschuldet. Zugleich ist die Europäische Zentralbank (EZB) mit ihrer bedingungslosen Bestandsgarantie für die Eurozone und ihrer Politik des billigen Geldes schon längst zum Spielmacher des wirtschaftlichen und politischen Geschehens geworden und hat sich damit in faktische Zwänge begeben, was zuletzt berechtigte Zweifel an ihrer Unabhängigkeit genährt hat. Die Politik nutzt die Zeit jedoch nicht, die ihr die Rettungsschirme gekauft haben. Dies ist kein Wunder, denn das primäre Ziel der Rettungspolitik war und ist es, abrupte Veränderungen abzubremsen und den Status quo zu wahren. Reformen wurden – wenn überhaupt – kontrolliert eingeleitet. So verkommt der Wunsch nach Veränderungen zum Sekundärziel.
Die Nutznießer dieser gekauften Zeit sind nicht jene, die sie bezahlen müssen. Profiteure sind in erster Linie jene Verantwortlichen und organisierten Interessenvertreter, die sich erfolgreich gegen Anpassungsprozesse zur Wehr zu setzen wissen. Die Hauptlast tragen hingegen die Steuerzahler, die indirekt für Rettungspakete haften und Sparer, die durch das Niedrigzinsniveau ebenfalls von den Auswüchsen der EZB-Geldpolitik betroffen sind. Für die Politik zahlt sich in diesem Umfeld strategisches Spielen auf Zeit oft in barer Münze aus: So haben die Sparbemühungen der öffentlichen Haushalte, so sie denn jemals ernsthaft betrieben wurden, in den letzten Quartalen abgenommen. Und auch der Reformwille hat in vielen Euroländern nachgelassen. Deutschland gibt spätestens seit dem Regierungsprogramm der großen Koalition ohnehin kein gutes Vorbild mehr ab. Und so kommen trotz sicherer Marktlage und dauerhaft komfortabler Niedrigzinsen die Investitionen nicht wieder auf die Beine. Das Wachstum bleibt niedrig.
Dies schlägt zunehmend auch auf die Laune der Bürger und Unternehmen. Sie stellen ernüchtert fest: Von großen Lösungen ist die Politik meilenweit entfernt. Es wird ihnen bewusst, dass das allgemeine Wohlstandsversprechen des europäischen Projekts nicht mehr zu halten ist. Die dauerhafte Zugewinngemeinschaft, als die die europäische Integration und auch der Euro den Bürgern stets vertraut war, kann nicht mehr das leisten, was sich viele Menschen von ihr erhoffen. Und so wird zunehmend die Zweckmäßigkeit europäischer Integration hinterfragt – der Idealismus hat sich ohnehin schon längst verflüchtigt. Die monetären Verluste aus Bankenrettung und Staatshilfen sind messbar, doch die moralischen Verluste lassen sich nicht beziffern: Es fehlen Perspektiven, Mut und Zuversicht.
Fatal ist in diesem Zusammenhang, dass sich mit der Zeit ein gewisser Gewöhnungseffekt eingestellt hat. Die mediale Berichterstattung spiegelt und verstärkt diese Entwicklung. Da eine Profilierung im täglichen Wettbewerb um Aufmerksamkeit nur mit neuen Themen gelingt, tritt die Krise in den Redaktionen immer öfter in den Hintergrund und wird immer mehr zum B-Thema. Die Gesellschaft gewöhnt sich zunehmend an die Hiobsbotschaften, und die Krise wird zum Normalzustand – medial und mental.
Gesellschaft vor dem Burnout
Die Konsequenzen könnten dramatischer sein, als wir uns das heute vorzustellen wagen: Die Bereitschaft und der Wille einer Gesellschaft, sich umzuorientieren und auf Herausforderungen der Zukunft einzustellen, kann nachlassen, wenn Ausweglosigkeit über Jahre hinweg Fatalismus und Resignation genährt haben. Dies kann ganze Gesellschaften lähmen, ja davon abhalten, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen. In Schicksalsergebenheit kann man sich zwar gemütlich einrichten. Aber zu produktiven Weiterentwicklungen führt sie nicht. Im Gegenteil: Für die Gesellschaft besteht die akute Gefahr, dass sie angesichts der trügerischen Ruhe einerseits und der hoffnungslosen Lage andererseits ihren Antrieb verliert und wichtige Chancen verschläft. Es droht eine Kaskade der Entmutigung, die sich in drei Schritten vollzieht:
- Realitätsverweigerung: Zunächst verschließt die Gesellschaft die Augen vor der Realität. Wenn eine Gesellschaft spürt, dass sie die Zukunft nicht gewinnen kann, richtet sie sich bald darauf ein, aus dem Status quo das Beste zu machen. Bestandswahrung und Umverteilung werden zu Zielen menschlichen Handels – nicht jedoch die Fortentwicklung im weiten Raum der Möglichkeiten. Dies verstellt den Blick auf Chancen der Weiterentwicklung. Alle Kräfte werden dann dafür eingesetzt, den Status quo zu sichern. Hat die Gesellschaft diesen Punkt erreicht, ist ihr Optimismus verloren. Sie befürchtet, dass sich am Status quo etwas ändern könnte und investiert nicht mehr in die Zukunft. Sie lebt im Hier und Jetzt. Sie schmiedet keine langfristigen Pläne mehr. Sie gibt sich keine Mühe mehr, besser zu werden. Der Mut zum Risiko lässt nach.
- Resignation: Eine Gesellschaft, die an dieser Schwelle steht, verliert im nächsten Schritt schnell das Gefühl der Selbstwirksamkeit. Die Gesellschaft merkt dann zwar, wie zerbrechlich die Lage ist, doch sie steht nicht mehr auf, um zu handeln. Menschen glauben dann nicht mehr daran, etwas selbst bewirken zu können und handlungsfähig zu bleiben. Sie erwarten dann nicht mehr, den Lauf der Dinge beeinflussen und dadurch die Welt verändern zu können. Studien der Verhaltensforschung belegen, dass Menschen, die an ihre eigenen Fähigkeiten glauben, auch eine höhere Ausdauer bei Problemlösungen haben und gleichzeitig mit weniger Angst durchs Leben gehen. Eben diese Selbstwirksamkeit muss ständig geübt werden. Eine Gesellschaft ohne sie entwickelt keinerlei Visionen, entlang derer sie ihre Zukunft denken, debattieren und definieren kann. Fortschritt findet nicht mehr statt, und die Resignation verstärkt sich.
- Angst: Wenn nicht gegengesteuert wird, erwächst aus Risikoaversion und mangelnder Selbstwirksamkeit im nächsten Schritt konkrete Angst: Je weniger Wagnisbereitschaft eine Gesellschaft hat und je weniger sie übt, auf eigenen Beinen zu stehen, desto mehr nimmt die Furcht vor der eigenen Courage zu. Der Wille zum Handeln und die Muskeln der Kreativität erschlaffen sehr schnell. Die Angst verstärkt sich. Sie ist zugleich bequem, da sie Menschen aus der Verantwortung für eigenes Fehlverhalten entlässt. Ist der eigene Wirkungskreis einmal dadurch eingeschränkt, lassen sich bleierne Antriebslosigkeit, mangelnde Aktivität und Mutlosigkeit leichter rechtfertigen. Leistungskultur stirbt ab, da sich Leistung nicht mehr lohnt.
Bald haftet der Nimbus der Krise zäh an der Gesellschaft: In Krisensituationen schränkt man gerne seine Aktivität ein, der Appetit auf Sicherheit nimmt zu. Wo Menschen die Freiheit nicht mehr gewohnt sind, beginnen sie, Berechenbarkeit zu schätzen. Nur kein Risiko eingehen, nur keine Fehler machen. Den Status quo sichern. Ebendieses Ziel verfolgt auch die aktuelle Rettungspolitik erfolgreich. Ihr langfristiger Preis ist Starre und ein Mangel an Visionen. Und ihr Preis ist auch, dass Veränderungen nur noch im Druck und Eindruck der Krise zu schaffen sind, nicht mehr jedoch aus eigenem Antrieb, Willen oder durch mutige Führung.
Gleichzeitig lässt die Inaktivität den Handlungsdruck noch weiter steigen. Denn spätestens wenn die Illusion von Stabilität und Sicherheit zerbricht, die die aktuelle Rettungspolitik verfolgt, wird die Gesellschaft umso stärker enttäuscht – weil nichts vorangekommen ist und wertvolle Zeit vergeudet wurde. Die Gesellschaft gerät so in einen Zustand der dauerhaften Erschöpfung und Enttäuschung. Der Vorgang erinnert an ein Burnout-Syndrom: Es muss immer mehr Anstrengung aufgewendet werden und letztlich wird doch nichts erreicht. Besonders jene, die die Probleme hautnah erleben, fühlen sich auf verlorenem Posten. Europa ist von dieser Schwelle zur Lethargie nicht mehr weit entfernt.
Es ist höchst beunruhigend, dass sich diese Entwicklung nur schwer zurückdrehen lässt. Die Entmutigung der Gesellschaft Europas ätzt sich tief in das gesellschaftliche Bewusstsein ein – denn sie wird von den Menschen individuell erlebt und in Erzählungen weitergegeben. Wir in Deutschland wissen nur allzu gut, was gesellschaftliche Traumata sind: Hyperinflation, Krieg und Überwachungsstaat leben als Angstszenarien bis heute in den Köpfen der Menschen fort – sie wurden als Teil unseres kollektiven Gedächtnisses von Generation zu Generation als Narrative der Oral History weitergegeben und damit zum Teil unseres Selbstverständnisses. Wir müssen Acht geben, dass die Krise nicht ein neues Narrativ schafft, das uns Europäer bald auf Mutlosigkeit eicht und uns schon in naher Zukunft das kosten könnte, was eines unserer wichtigsten Güter ist: Unseren Mut und unseren Willen zum eigenständigen Handeln.
Die allgemeine Lethargie und gesellschaftliche Mutlosigkeit sind ein fruchtbarer Humus, auf dem die Thesen populistischer Menschenfänger schnell verfangen können – vor allem dann, wenn etablierte Parteien diesen nur Altbekanntes entgegensetzen können. Der aktuelle Ansatz der Eurorettungspolitik, Zeit zu kaufen, der gesellschaftliche Fatalismus und der Zuspruch, den populistische Parteien zuletzt erhalten haben, sind somit ursächlich miteinander verbunden.
All dies wirft die Frage auf, was zu tun ist, um das Ruder herumzureißen.
Was ist zu tun?
Jede weitere Polarisierung der Debatte wäre schädlich: Die nachhaltige Lösung der Eurokrise verlangt mehr als einen unreflektierten Lagerkampf zwischen jenen, die eine Fortführung des aktuellen Kurses befürworten und jenen, die eine Auflösung der Eurozone fordern. Vielmehr muss ein dritter Weg gefunden werden, der zu einem Neuanfang führt, ohne die Auflösung der Eurozone zu verfolgen. Dieser Weg sollte drei Schritte umfassen, mit denen die aktuelle Blockade aufgelöst werden kann.
Der erste Schritt ist die Rückkehr zum Haftungsprinzip. Die bisherige Rettungspolitik, die auf einer Übernahme von zwischenstaatlichen Haftungen beruhte, hat Begehrlichkeiten geweckt, Verteilungskämpfe provoziert und sich damit als Irrweg erwiesen. Allein die strikte Kopplung von Risiko und Haftung kann bewirken, dass die Euroländer sich in ihrer Haushaltspolitik in Zukunft aus Eigeninteresse und Eigenverantwortung wieder am Prinzip der Nachhaltigkeit orientieren. Einfacher würde es dadurch sicherlich nicht: Rettungsprogramme für Staaten würden auslaufen, und die Finanzierung einiger Staaten stünde kurzfristig auf der Kippe. Um Marktturbulenzen zu verhindern, müssten marode Finanzinstitute konsequent abgewickelt und zugleich ein Insolvenzmechanismus für Staaten geschaffen werden. Dieser könnte dann die Grundlagen für einen konzentrierten Interessensausgleich zwischen Gläubigern und Schuldnern legen.
Es mag in Zeiten umfangreicher Rettungsschirme mit Vollkaskofunktion unpopulär sein, ein Ende mit Schrecken im Rahmen einer solchen multilateralen Umschuldungsinitiative zu fordern. Die Rückführung von Risiken zu Haftung und die Beseitigung von Altlasten dürften sicherlich auch für private Haushalte mit kurzfristigen Wohlstandseinbußen verbunden sein. Diese werden langfristig jedoch ohnehin nicht zu verhindern sein. Besser ist es daher, sie vorzuziehen und zugleich einen strukturellen Neubeginn zu wagen. In diesem Falle wären diese Strapazen jenem Schrecken ohne Ende einer permanenten Insolvenzverschleppung der Krisenpolitik mit all ihren Verhandlungsrunden und dem ständigen Risiko wechselseitiger Blockaden vorzuziehen. Die starken Länder der Eurozone müssen hier Verantwortung übernehmen und führen. Die Rückkehr zum Haftungsprinzip dient neben den zuvor dargelegten Vorteilen noch einem weiteren Zweck: Sie versetzt die EZB in die Lage, sich aus ihren faktischen Zwängen zu befreien und macht den Weg frei für eine Renaissance stabilitätsorientierter Geldpolitik.
Für viele Menschen ist die Eurokrise auch zum persönlichen Schicksal geworden. Überregulierte Arbeitsmärkte und starre Bildungssysteme haben Arbeitslose und Jugendliche in eine Verliererrolle gedrängt. Ihnen müssen neue Perspektiven der wirtschaftlichen Teilhabe geboten werden. Aktuelle Vorstöße gegen die Arbeitslosigkeit sind zwar gut gemeint, doch sie basieren noch immer zu stark auf Betreuung und Umverteilung, die in überregulierten Arbeitsmärkten jede Lust nimmt, sich einzubringen. Und auch Bildung und Ausbildung spielen sich immer noch zu stark im nationalen Rahmen ab und setzen zu selten auf den geheimen Trumpf Europas: Die Möglichkeit zur grenzüberschreitenden Bildungsmobilität. Auch hier muss umgedacht werden: Allein flexible Arbeitsmärkte und grenzüberschreitend offene Bildungssysteme gewährleisten wirtschaftliche Teilhabe europaweit und geben Perspektiven.
Das allein reicht jedoch nicht. Neue Dynamik kann sich langfristig nur dann entfalten, wenn wirtschaftliche und politische Akteure ihre besitzstandwahrende Blockadehaltung aufgeben und gemeinsam nach vorne blicken. Wirtschaftspolitische Empfehlungen und Brüsseler Dirigismus können politische und mentale Reformblockaden jedoch kaum abbauen – im Gegenteil: Schulmeistertum führt selten zu Selbsterkenntnis; sehr oft jedoch zu Abwehrreaktionen und Freund-Feind-Denken. Das bessere Rezept ist Wettbewerb. Gesellschaften und Volkswirtschaften gewinnen an Leistungsfähigkeit, wenn sie sich im fairen Wettstreit an den Kapitalmärkten und im Europäischen Binnenmarkt aneinander messen. Gerade der Binnenmarkt hat noch enormes Ausbaupotenzial, denn weite Teile des Dienstleistungssektors und der öffentlichen Beschaffung sind immer noch abgeschottet. Der weitere Ausbau des Binnenmarktes sollte daher von den hinteren Plätzen Brüsseler Tagesordnungen wieder hervorgeholt werden und fortan oberste Priorität genießen.
Diese drei Schritte können in Europa neue Dynamik entfalten und den Gesellschaften jenes Maß an Selbstwirksamkeit zurückgeben, das sie in den letzten Jahren verloren haben. Sie können zugleich ein verlässliches materielles Fundament für eine neue europäische Wagniskultur sein, die die europäischen Gesellschaften stärker und mit Blick auf künftige Krisen widerstandsfähiger macht. Diese Dynamik tut Not, denn schon bald warten weitere Herausforderungen, denen wir Europäer nur hilflos entgegensehen können, wenn wir uns weiter selbst blockieren: Strukturelle Anpassungen nach der Krise, unabweisbare Entwicklungen der Globalisierung und der demografische Wandel müssen gemeistert werden, wenn unser Kontinent seinen aktuellen Lebensstandard halten möchte.
Nicht zuletzt dürften diese Schritte auch im Sinne derer sein, die mit bangem Blick auf die Wahlerfolge populistischer Kräfte den gegenwärtigen Kurs der Europolitik vorschnell gutheißen: Um Stabilität und Stärke dauerhaft zu erreichen, müssen die Gesellschaften Europas Wandel akzeptieren, Risiken annehmen und vor allem auch den Wert ihrer Freiheit neu entdecken. Hierdurch gewinnen sie an Kraft, werden auch in Krisenzeiten wirtschaftlich und mental widerstandsfähiger und dadurch weniger anfällig für die Heilsversprechen populistischer Menschenfänger.
Die eigentliche Eurorettung muss erst noch beginnen. Wann fangen wir an?
Dieser Artikel ist zuerst in der Novo-Printausgabe (#118 - 2/2014) erschienen. Kaufen Sie ein Einzelheft oder werden Sie Abonnent, um die Herausgabe eines wegweisenden Zeitschriftenprojekts zu sichern.