19.11.2009

Geschichte als Konservendose

Von Tobias Prüwer

Das Jahr 2009 zeigt uns deutlich: Wir sind in der antiquarischen Geschichtspflege verhaftet.

„Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen: aber es gibt einen Grad, Historie zu treiben, und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet.“ – So fasste Friedrich Nietzsche sein Credo für einen angemessenen Umgang mit der Geschichte zusammen. Um einen solchen zu pflegen, sei ihm zufolge auch eine „kritische Historie“ vonnöten, die er gegen das verbreitete Monumentalisieren und Konservieren der Geschichte abgrenzt. Nietzsches zweite Unzeitgemäße Betrachtung zeigt sich angesichts des aktuellen großen Jubiläenjahrs (von Schiller, Asterix und Barbie soll hier gar nicht gesprochen werden) als höchst aktuell. Wird doch 2009 deutlich: Wir sind in er antiquarischen Geschichtspflege verhaftet.

Der Mauerfall/Deutsche Einheit, 89/90, lässt die Deutschen nicht nur in den vergangenen Wochen nicht los, sondern hält sie schon seit den Vorbereitungen gefangen. Spektakulär wurden sie dann mit zwei zentralen Ereignissen auf verschiedene Weisen begangen, die je für sich fragwürdig sind.

9. Oktober, Leipzig: Die Einweihung der Freiheitsglocke, das „Lichtfest“ von der Tourismusmarketing GmbH ausgerichtet, auf dem verschiedene künstlerische Installationen an die entscheidende Montagsdemonstration erinnern und Leipzig internationale Gäste wie Aufmerksamkeit zuführen sollten. Im Dreiklang Erinnerungskitsch, Standortförderung, Erinnerungspolitik wird ein revolutionärer Impuls vermessen und gleich an „die Ereignisse von damals sind untrennbarer Teil der demokratischen Tradition der Bundesrepublik Deutschland“ angedockt. Frage: Was ist faul, wenn Marketender die Erinnerung an individuelles Begehren nach Freiheit und Mitbestimmung dirigieren?

9. November, Berlin. Als nicht minder absurde Bricolage ist der Tag des Mauerfalls als „Fest zur Freiheit“ gestaltet. Das Gedenken wurde als Pop-Show inszeniert, ins TV-Format gepresst und mit Dampfplauderer Thomas Gottschalk dekoriert. Am Rande sprachen auch ein paar Politiker. Das Mauer-Domino, bei dem 1.000 Styroporplatten der Reihe nach umkippten, erinnerte nicht grundlos an eine „Wetten, dass…?“-Idee. Der Einzelne muss bei einer solchen Massenveranstaltung ausgeblendet bleiben. Das Brandenburger Tor etwa war symbolträchtig für den Durchgangsverkehr, das „Volk“, gesperrt. Individuelles – also der Sache angemessenes – Erinnern sieht anders aus. Oder sollte gar nicht den damals beteiligten Menschen gedacht werden? Frage: Wer erinnert eigentlich, darf erinnern?

Kollektives Erinnern ist einmal mehr nur als Konstruktionsleistung, als Legitimierung der Gegenwart zu haben. So wie schon Karl der Große vor einigen Jahren absurderweise als erster Europäer gefeiert wurde, was nur durchs Arminius’/Hermans-Lob als großer Deutscher getoppt wurde, steht nun die „Wende“ als Mahnmal deutsch-deutscher Demokratie da. Auch im ausufernden Denkmalbau zeigt sich pure Zukunftslosigkeit. Hinzu kommen zahlreiche Wiederaufbauideen: In Dresden bleibt sie bei der Frauenkirche nicht stehen, in Berliner soll das Stadtschloss wieder entstehen – nachdem der Palast der Republik als Artefakt der DDR weichen musste. Brüche und Zäsuren lassen sich aber nicht kitten, auch nicht durch Rekonstruktion. Von Harmoniesucht bewegte Architektur führt zur Disneysierung. Ein nachgebildetes Gebäude steht für nichts anderes als das Nachahmen, die Lust an der Restauration, dem des Kult als Ob.

Wenn Historiker Jürgen Kocka – kurz vor dem Datum der Weltenwende – in seinem 1988 erschienen Text „Geschichte als Aufklärung?“ formulierte: „Nicht das – zum Kern von Aufklärung gehörende – Bedürfnis nach rationaler Kritik speist gegenwärtig die Hinwendung zur Geschichte, sondern das Verlangen nach Identität“, dann hält dieses gegenwärtig an. Kocka fährt fort: „Erinnerung ist gewünscht, Erklärung viel weniger.“ Offene Fragen: Wie beschreiben, sehen wir und selbst, entwerfen wir uns und wo wollen wir eigentlich hin? Wie beschränkt vom Verharren an der Geschichte ist unser Gesichtsfeld? Wo bleibt – mit Nietzsche gesprochen – die kritische Geschichte, die auch das Leben im Blick hat?

Dienten Jubeljahre einst nur der Kirche, um dann und wann den speziellen Sündenablass zu ermöglichen, so scheinen Jubiläen ihre heilige Kraft heute besonders im Profanen zu entfalten. Geschichtsprojektionen frischen an jedem Ehrentag neu das zeitgenössische Selbstbewusstsein auf, wirken erbaulich und als Rückversicherung, auf dem richtigen Pfad der Geschichte zu wandeln. Doch wohin eigentlich? Angesichts all der annis domini, die nicht dem Vergessen anheim fallen dürfen, verschwimmt die Gegenwart samt ihrer Verhältnisse. Bei aller Fixiertheit auf die Sternstunden des Zeitstrahls verliert sich das Bewusstsein, dass dieser gottlob noch nicht abgeschlossen ist. Es gibt noch Zukunft und wie immer diese auch ausfallen mag, sie besteht nicht nur aus kommenden Jubiläen.

Das Morgen scheint aber nicht weiter zu kümmern, wenn heute ein Ereignis bereits zeitgleich mit seinem Stattfinden als „historischer Moment“ bezeichnet wird – man denke nur an Angela Merkels Rede vor dem US-Kongress in Washington. Große Ideen kommen heute offenbar nicht mehr auf Taubenfüßen daher, sondern mit Ansage. Den Tag können wir uns dann schon einmal auf Jahre im Kalender anstreichen. Visionen waren gestern. Das Besinnen auf eine „gemeinsame Geschichte“ ist eine Form jenes beliebten Imperativs, sich in einer Konsensgesellschaft einzurichten. Politik aber darf genau dies nicht sein. Statt weiterhin die Erinnerungskultur als Orientierungspunkt zu hegen und pflegen, sollte mehr Bedacht auf kritische Geschichtsbetrachtung und historische Bildung – inklusive Streitkultur und Möglichkeitssinn – gerichtet werden.

Das lässt sich aber nicht so schön inszenieren. In Leipzig jedenfalls soll das „Lichtfest“ nun ständige Tradition werden und auch für das nächste Jubiläum wird bereits kräftig getrommelt: die vermeintlich ganz Europa vereinigende Völkerschlacht jährt sich 2013 zum 200. Mal. Und vor zwei Jahren begann in Wittenberg eine ganze Luther-Dekade zu Ehren des Reformators.

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