01.09.2003

Gericht und Gerechtigkeit

Essay von Germinal Civikov

Über die erste Runde im Verfahren gegen Slobodan Milosević berichtet Germinal Civikov.

Das Verfahren gegen den ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosević vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag wurde häufig mit den Nürnberger Prozessen gegen die Nazis verglichen. Der Prozess gilt gemeinhin als erster, entscheidender Schritt hin zu dem jüngst ins Leben gerufenen Weltgerichtshof, der Menschrechtsverletzungen weltweit verfolgt. Doch nach der ersten Verhandlungsrunde über die Kosovo-Politik des Angeklagten verschwand der Prozess letztes Jahr schnell aus den Schlagzeilen. Für viele Beobachter aus Politik und Medien verlief das Verfahren enttäuschend, für die Vertreter der Anklage mitunter peinlich.
Die Verantwortung hierfür liegt wesentlich bei der Chefanklägerin des Tribunals, Carla del Ponte. Sie gab sich in der Öffentlichkeit stets als Verkörperung eines neuen, internationalen Rechtsbewusstseins und ließ vor Prozessbeginn keinen Zweifel daran aufkommen, dass Milosević unter den von ihr vorgelegten Beweisen in Kürze zusammenbrechen werde. Das schweizerische Tagblatt vom 5. März 2002 bemerkte allerdings schon nach wenigen Verhandlungstagen: „Wie ein Angeklagter sah Milosević bisher nicht aus, eher wie ein Inquisitor, der Belastungszeugen beim Kreuzverhör in Widersprüche verwickelt, um sie unglaubwürdig erscheinen zu lassen.“ Zahlreiche Beobachter erkannten alsbald, dass es Milosević immer wieder gelang, das überforderte Team der Chefanklägerin und ihre Zeugen in Bedrängnis zu bringen. Die für viele Medien enttäuschten Erwartungen vom Prozessverlauf haben mit Sicherheit auch dazu beigetragen, dass das öffentliche Interesse an dem Prozess in Den Haag stark gesunken ist. So ist der Eindruck entstanden, es gäbe von dort nichts von Interesse zu berichten. Doch das ist ein Trugschluss.
 

Der Fall Milosević
24.3.99: Beginn der Nato-Luftangriffe gegen Jugoslawien (bis 1.6.99)

24.5.99: erste Anklageerhebung des Tribunals gegen Milosević zu Ereignissen im Kosovo (erweitert am 29.6.01 und am 29.10.01)

24.9.00: Vojislav Koštunica wird zum neuen Präsidenten Jugoslawiens gewählt

5.10.00: Milosević wird nach Ausschreitungen in Belgrad zum Rücktritt gezwungen

29.6.01: Festnahme Milosevićs in Belgrad und Überführung nach Den Haag

8.10.01: Anklageerhebung des Tribunals gegen Milosević zu Ereignissen in Kroatien (erweitert am 23.10.02)

22.11.01: Anklageerhebung des Tribunals gegen Milosević zu Ereignissen in Bosnien und Herzegowina

12.2.02: Prozessbeginn zu Ereignissen im Kosovo

26.9.02: Prozessbeginn zu Ereignissen in Kroatien und Bosnien



Bei dem ersten Teilverfahren über die Verbrechen im Kosovo ist Slobodan Milosević angeklagt worden, für den Tod von etwa 900 Kosovo-Albanern und die Vertreibung von 600.000 bis 800.000 Albanern zwischen März und Juni 1999 mitverantwortlich zu sein. Um dem von Milosević angeblich geplanten und vollstreckten „Völkermord“ Einhalt zu gebieten, wurde Jugoslawien im Frühjahr 1999 drei Monate lang bombardiert. Die Tribunalsanklage will nun beweisen, dass Milosević für die damaligen Verbrechen persönlich die Verantwortung trägt. Die Anklage hat hierzu über 100 Zeugen berufen. Die meisten davon waren Kosovo-Albaner, die über Verbrechen der serbischen Sicherheitskräfte ausgesagt haben. Eine kleinere Gruppe von Zeugen sollte außerdem durch ihr Fachwissen belegen, dass die genannten Verbrechen geplant waren und dass die Befehle dafür direkt von Milosević kamen, beziehungsweise, dass Milosević von den Verbrechen unterrichtet war und nichts unternahm, um sie zu unterbinden.

„Milosević ist es vor Gericht gelungen, Anschuldigungen gegen ihn zu entkräften und den Spieß umzudrehen. Er hat in den ersten Monaten des Verfahrens wesentlich mehr punkten können als die Vertreter der Anklage.“

Milosević hat das Tribunal von Anfang an nicht anerkannt. So hat er auch keinen Verteidiger bestellt und sieht sich nicht als Angeklagten. Für ihn handelt es sich um ein politisches Verfahren, das nicht der Wahrheitsfindung, sondern den Interessen der USA und der Nato dient. Ungeachtet dieser Haltung nimmt Milosević aktiv am Verfahren teil – was von manchen als eine De-facto-Anerkennung des Tribunals interpretiert worden ist. Milosević hat erklärt, er werde die Verhandlungen dazu nutzen, die Unehrlichkeit des Verfahrens aufzudecken und zu zeigen, dass die Nato Kriegsverbrechen begangen hat. Seine großspurigen Ankündigungen wurden zunächst nur belächelt. Vor Gericht ist es ihm dann aber in der Tat gelungen, Anschuldigungen gegen ihn zu entkräften und den Spieß umzudrehen. Jedenfalls hat er in den ersten Monaten des Verfahrens wesentlich mehr punkten können als die Vertreter der Anklage – obwohl er hinter Gittern sitzt, nur eingeschränkten Zugang zu Fax und Telefon hat und über nur wenige Helfer verfügt. Die Anklagevertretung hingegen kann auf ein 300-köpfiges Team und einen großen Kommunikationsapparat zurückgreifen.
Das Tribunal lässt bei der Anhörung der Zeugen nur „relevante“ Fragen zu. Das bedeutet, dass nur Fragen, Erklärungen oder Argumente zugelassen werden, die sich unmittelbar auf die Anklage beziehungsweise auf ganz konkrete Zeugenaussagen beziehen. Fragen und Aussagen, mit denen Milosević seine Schuldzuweisung gegen die Nato zu untermauern versucht, werden umgehend als irrelevant zurückgewiesen. Der Angeklagte wurde häufig ermahnt, sich an diese Spielregeln zu halten.
Die Aussagen der ersten Gruppe der Zeugen im Februar und März 2002 behandelten die Apartheid im Kosovo, das heißt die zur Last gelegte umfassende politische und kulturelle Diskriminierung der Kosovo-Albaner. Hier zeigten sich sofort Probleme für die Anklagevertretung. Milosević war auf das Thema gut vorbereitet, und es fiel ihm nicht schwer, mit Fakten und Zahlen zahlreiche Behauptungen zu widerlegen – beispielsweise, die albanische Sprache sei im Kosovo verboten gewesen und Kosovo-Albaner seien vom Erziehungssystem ausgeschlossen und generell als Ethnie diskriminiert worden.
Mit den Zeugenaussagen zu Übergriffen der serbischen Sicherheitskräfte gegen Kosovo-Albaner tat sich Milosević schwerer – speziell dann, wenn es um die Massendeportationen vor und während des Krieges ging. Dennoch gelang es ihm, eklatante Widersprüche und Unstimmigkeiten in vielen Zeugenaussagen aufzudecken. Wiederholt konnte er nachweisen, dass Zeugen nur vom Hörensagen aus zweiter oder dritter Hand berichteten, wodurch ihre Aussagen an Wert verloren. Doch wenn sich Zeugen in allzu haarige Widersprüche verwickelten, kamen ihnen häufig die Richter zu Hilfe, indem sie ihre Aussagen interpretierten oder die Richtigkeit der Übersetzung anzweifelten, wodurch die Nähe des Tribunals zur Anklagevertretung deutlich wurde.
Doch es gab auch ganz andere Szenarien: Wenn die Aussagen eines Zeugen außer Frage standen, drückte Milosević den Betroffenen sein Mitgefühl aus, um anzufügen, dass es sich um Verbrechen Einzelner handele – um Verbrechen, die die jugoslawischen Behörden, wären sie bekannt geworden, entsprechend verfolgt hätten. Der Anklagevertretung ist es nicht gelungen, diese Behauptung zu widerlegen, denn Milosević führte eine ganze Reihe von Verordnungen an, in denen die Sicherheitskräfte im Kosovo angewiesen wurden, Übergriffe auf Zivilisten zu unterlassen und nicht auf Kämpfer der Kosovo-Befreiungsarmee UCK zu feuern, wenn die Gefahr bestünde, dass dabei Zivilisten verletzt würden. Des Weiteren wurden laut Aussagen des Angeklagten etwa 500 Fälle, bei denen sich Soldaten oder Polizisten Verstöße gegen solche Anweisungen hatten zuschulden kommen lassen, juristisch verfolgt. Milosević argumentierte, er könne nicht für Vergehen seiner Soldaten oder Polizisten verantwortlich gemacht werden, die diese in Zuwiderhandlung seiner Anweisungen begangen hätten.
Milosevićs Argumente der ersten Verhandlungsrunde zielten darauf ab darzulegen, dass hinter dem Exodus von Hunderttausenden von Kosovo-Albanern im Frühjahr 1999 keine gezielte Vertreibung durch jugoslawische Sicherheitskräfte stand, sondern dass die Menschen vielmehr vor den Kämpfen zwischen der UCK und den jugoslawischen Sicherheitskräften geflohen waren, dass die UCK die Menschen zum Teil sogar selbst in die Flucht getrieben hatte, um die Schreckensbilder mit den Flüchtlingstrecks an den Grenzübergängen für die eigene Propaganda nutzen zu können, und dass letztlich auch viele Zivilisten vor den Bomben der Nato Reißaus nahmen. Zwar habe die Polizei gelegentlich auch Dörfer evakuiert, wenn in der Region Kampfhandlungen gegen die UCK anstanden; von Vertreibung könne aber nicht die Rede sein.
Der Angeklagte hakte energisch nach, wenn Zeugen von Dutzenden oder Hunderten Ermordeten und von niedergebrannten Dörfern berichteten. Dabei versuchte er, die seiner Meinung nach vielschichtigen Gründe für diese Ereignisse aufspüren. Die Zeugen wiesen das Nachfragen des Angeklagten meistens empört zurück. Sie beteuerten, von Milosevićs Truppen angegriffen und von der Nato verteidigt worden zu sein. In vielen Fällen verhielt es sich jedoch um einiges komplizierter. Der Auftritt zahlreicher Zeugen entpuppte sich als für die Anklage wenig dienlich.

„Einige Zeugen warteten mit Berichten auf, die wegen ihres hohen Maßes an Unglaubwürdigkeit dem Angeklagten in die Hände spielten.“

Mehrere Zeugen behaupteten beispielsweise explizit und wenig glaubhaft, sie hätten noch nie von einer UCK gehört. Sie hätten auch nichts davon mitbekommen, dass serbische Polizisten oder Kosovo-Serben jemals von der UCK getötet worden waren. Viele Zeugen folgten dieser Argumentationslinie. Jede Tötung und jede Vertreibung wurde ohne Umschweife den jugoslawischen Sicherheitskräften angelastet. Einige Zeugen hatten jedoch 1999, im sicheren Gefühl des Sieges, bei ersten Vernehmungen stolz von ihrer Tätigkeit für die UCK berichtet. Vor Gericht wollen sie davon nichts mehr wissen. Milosević fiel es in solchen Fällen leicht, auf die Widersprüche zwischen Einvernahme und Aussage hinzuweisen und die Glaubwürdigkeit der Zeugen in Frage zu stellen.
Des Weiteren wurde von Belastungszeugen behauptet, sie hätten während der drei Kriegsmonate seit dem 24. März 1999 nichts von Nato-Angriffen gesehen oder gehört. Der Eindruck, der durch solche unglaubwürdigen Aussagen entstand, war, als seien die Zeugen auf bestimmte Kernbotschaften eingeschworen worden und die Mitarbeiter der Anklage bei der Auswahl ihrer Zeugen sehr nachlässig gewesen.
Manche Zeugen berichteten sogar, sie seien von jugoslawischen Flugzeugen bombardiert worden. Die Anklagevertretung reagierte daraufhin nervös, der Angeklagte gelassen, denn allen Seiten war klar, dass wegen der absoluten Luftüberlegenheit der Nato während der drei Kriegsmonate keine jugoslawische Maschine den Boden verlassen konnte. Wenn Zeugen demnach von Dörfern, die bei Luftangriffen zerstört wurden und von Dutzenden von Getöteten als deren Folge berichteten, wertete Milosević dies als Indiz dafür, dass Kosovo-Albaner auch vor den Bomben der Nato geflohen waren.
Als der französische Pathologe Eric Baccard, der zum forensischen Pathologen des Tribunals bestellt worden war, aussagte, kam es zu äußerst blamablen Szenen für das Team von Carla del Ponte. Baccard hatte 1999 mit einem Expertenteam ein Massengrab mit 97 Leichen nahe des Gefängnisses von Dubrava untersucht. Laut Zeugenaussagen handelte es sich um die Opfer einer Massenerschießung albanischer Gefangener durch die Bewacher des Gefängnisses. Baccard stellte aber fest, dass viele der Opfer keine äußeren Verwundungen aufwiesen und offensichtlich an den Folgen von Explosionen gestorben waren. Milosević fragte nach, ob diese Explosionen durch Bomben ausgelöst worden sein könnten. Baccard antwortete, dies sei möglich, aber nicht zwingend der Fall. Die Anklage wollte ihren Zeugen retten und fragte nach, ob es sich auch um Explosionen von Handgranaten handeln könnte. Auch dies sei möglich, meinte Baccard. Mit Sicherheit bestätigt wurde aber dies: Zur Zeit der angeblichen Massenerschießung wurde das Dubrava-Gefängnis gleich zweimal von der Nato schwer bombardiert, und auch in der Verwaltung gab es Tote.
Einige Zeugen warteten mit Berichten auf, die wegen ihres hohen Maßes an Unglaubwürdigkeit noch unmittelbarer dem Angeklagten in die Hände spielten. So erzählte ein Mann, er habe eine Massenerschießung überlebt und sei unter einem Berg von Leichen hervorgekrochen. Als er dann seine Jacke ausgezogen habe, seien drei Kugeln herausgefallen. Er zeigte dem Gericht das Foto seiner von Kugeln durchlöcherten Jacke und erklärte, er sei wohl nur deshalb unverletzt geblieben, weil Gott es wollte, damit er später vor Gericht über die serbischen Gräueltaten berichten kann.

„Nach welchen Kriterien Chefanklägerin Carla del Ponte ihre Zeugen auswählen ließ, bleibt rätselhaft. Offenbar ging sie einfach davon aus, dass eine große Zahl von Zeugen automatisch viel belastendes Material einbringen würde.“

Ein weiterer Zeuge (ein ehemaliger Richter, der mittlerweile als Anwalt arbeitet), berichtete von der Korruption im serbischen Justizsystem. Er führte über ein Dutzend Fälle an, bei denen er nur durch Bestechung die Strafen der Angeklagten habe reduzieren können. Milosević fragte daraufhin die Richter des Tribunals, was sie von ihrem korrupten Kollegen hielten und für wie glaubwürdig sie den Rest seiner Aussage betrachteten, angesichts seines Eingeständnisses, bei früheren Strafprozessen eigenhändig geschmiert zu haben.
Nach welchen Kriterien Carla del Ponte ihre Zeugen der Anklage auswählen ließ, bleibt rätselhaft. Möglicherweise ging es vorrangig um Quantität. Offenbar ging sie einfach davon aus, dass eine große Zahl von Zeugen automatisch viel belastendes Material einbringen würde.
Wie sehr man damit daneben lag, zeigt besonders drastisch der Fall der drei Zeugen, die das angebliche Massaker von Račak am 15. Januar 1999 wie durch ein Wunder überlebt haben wollen. Sie erzählten unabhängig voneinander an unterschiedlichen Tagen, serbische Truppen hätten mit Messern den Opfern die Augen ausgestochen und ihre Herzen aus dem Leib geschnitten. Milosević erinnerte sie daran, dass es sich bei den 40 Leichen um die wohl weltweit forensisch am besten untersuchten Leichen handelt und dass an ihnen keine solchen Verletzungen festgestellt worden waren. Aber die Zeugen beharrten auf ihren Augenzeugengeschichten.
Auch in anderer Hinsicht war der Fall Račak von großer Bedeutung. Die Anklage berief den örtlichen Kommandanten der UCK, Shukri Buja, in den Zeugenstand. Dieser berichtete detailliert über die schwere Bewaffnung seiner Männer und die heftigen Kämpfe um Račak. Milosević war sichtbar zufrieden, dass der Kommandant aussagte, die UCK habe über Mörser und schwere Maschinengewehre verfügt. Er sagte: „Ich bin froh, dass sie das klargestellt haben, denn ... ein Zeuge aus Račak hat ausgesagt, ihre Männer seinen nur mit Jagdgewehren bewaffnet gewesen.“ Weiter merkte er an, dass der Bericht des Kommandanten sehr genau mit dem damaligen Bericht der serbischen Polizei übereinstimme.
Die Zeugenaussage des UCK-Kommandanten warf also erneut Zweifel auf an der offiziellen Darstellung des Massakers von Račak, derzufolge unschuldige Zivilisten von serbischen Militärs brutal hingerichtet worden seien. Auch der häufig gehörte Vorwurf, die serbischen Sicherheitskräfte seien mit exzessiver Gewalt gegen die unterlegene UCK vorgegangen, erschien angesichts der Angaben über die Bewaffnung der UCK in anderem Licht. Offenbar gab es im Januar 1999 schwere Kämpfe in der Region Račak, und die Vermutung liegt nahe, dass anschließend ein „Massaker“ inszeniert wurde, indem gefallene UCK-Kämpfer in einen Graben gelegt und die internationale Presse eingeladen wurde. Das Račak-Massaker und seine offizielle Interpretation war im Frühjahr 1999 ein bedeutender Meilenstein, den Bombenkrieg gegen Jugoslawien zu eröffnen.
Durch die Präsentation ihrer Zeugen wollte die Anklage zweierlei darlegen: Zum Einen, dass die Massendeportation der Kosovo-Albaner von oben herab geplant wurde, und zum Anderen, dass es eine zweite, direkte Befehlskette gab, durch die Milosević unmittelbar Polizei und Armee im Kosovo befehligte. Mit beiden Vorhaben gab es alsbald Probleme.
Der pensionierte britische General Karol Drewienkiewicz berichtete als Zeuge der Anklage aus freien Stücken, vor den Luftangriffen nichts von einem serbischen Plan zur Vertreibung der Kosovo-Albaner gehört zu haben. Drewienkiewicz war bis Kriegsbeginn stellvertretender Kommandeur der OSZE-Beobachtermission im Kosovo und kannte sich im Land sehr gut aus. Der britische Leutnant Colonel Richard Ciaglinski, ein Verbindungsoffizier in Drewienkiewicz’ Stab, sagte hingegen aus, er habe von einem serbischen Offizier von solchen Plänen gehört. Er weigerte sich aber, den Offizier namentlich zu nennen, da er ihm sein Ehrenwort gegeben habe.
Ganz im Unterschied dazu berichtete der Zeuge Ratomir Tanić detailliert über einen Vertreibungsplan. Der Anklage unbekannt war aber wohl, dass Tanić in Serbien als politischer Abenteurer bekannt ist. Er stammt aus Belgrad und lebt momentan als Geschäftsmann in Italien. Im Vorfeld des Prozesses war es ihm offenbar gelungen, die Anklage davon zu überzeugen, er habe vertrauliche Kontakte zu Milosević und könne daher einiges an Beweisen liefern. Vor dem Tribunal berichtete er dann detailliert über den so genannten „Hufeisenplan“ zur Vertreibung aller Kosovo-Albaner, obwohl dieser Plan längst als Erfindung westlicher Geheimdienste entlarvt worden ist. Der ehemalige deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping, der seinerzeit den „Hufeisenplan“ als Legitimation für eine Nato-Intervention präsentierte, war in erhebliche Schwierigkeiten geraten, als dies nach Kriegsende aufgedeckt wurde. Die Anklage hatte offenbar im Vorfeld die Angaben des Zeugen Tanic, der unter dem Decknamen K3 wochenlang als Starzeuge angekündigt worden war, nicht untersucht. Vor Gericht wurde es dann abermals peinlich.
Am 9. Juni 2002 trat ein weiterer Insider-Zeuge auf. Er hatte den Decknamen K25 und machte die Situation aus Sicht der Anklage noch schlimmer. K25 war serbischer Polizeioffizier bei der berüchtigten Spezialeinheit PJP im Kosovo. Heute ist er Polizeichef einer Kleinstadt. K25 wurde in den Zeugenstand gerufen, um die Ermordung von sechs in Gefangenschaft geratenen UCK-Kämpfern im Ort Mala Krusa zu belegen. „Die sechs“, so erklärte der Zeuge, „wurden vermutlich von örtlichen Polizisten getötet.“ Eindeutig festlegen wollte er sich nicht. Auf Nachfragen von Milosević wurde K25 dann auf einmal zum Zeugen der Verteidigung. Er gab zu Protokoll, dass vor jeder Polizeioperation gegen die UCK die Bewohner der betroffenen Orte zu ihrer eigenen Sicherheit evakuiert wurden. Es habe darüber hinaus klare Befehle gegeben, denen zufolge Zivilisten nicht verletzt oder getötet werden durften und nach denen auf UCK-Kämpfer nicht gefeuert werden durfte, wenn dadurch Zivilisten in Gefahr geraten konnten. Der Zeuge selbst habe nie einen Befehl erhalten, der gegen die Gesetze oder Verordnungen verstoßen habe. Kein Offizier unter seinem Kommando habe je ein Verbrechen begangen wie zum Beispiel Brandstiftung, Plünderung oder gar die Tötung von Zivilisten. Das Wort „Säuberung“ sei nur in dem Sinn verwendet worden, dass ein Gebiet von Terroristen, die alle Bürger, unabhängig von ihrer Ethnizität, bedroht hatten, gereinigt werden sollte. Ob er nichts von Deportationen gehört habe, fragte ihn ein sichtlich frustrierter Vertreter der Anklage. Das habe er, erwiderte der Zeuge, aber nichts Genaues. Es sei seinerzeit viel gemutmaßt worden.
Weitere Informationen von Zeugen, die während der Kampfhandlungen im Kosovo waren, wird es wahrscheinlich nicht mehr geben. Die Anklage wird sich stattdessen auf Dutzende von Zeugenaussagen von nach Mazedonien und Albanien Geflüchteten verlassen müssen. Diese Zeugen bestreiten allesamt, dass sie vor den Nato-Bomben oder den Kämpfen zwischen UCK und serbischen Einheiten geflohen sind. Milosevićs Gegenargument ist, dass zeitgleich auch etwa 100.000 Serben aus dem Kosovo flohen, ohne dass sie irgendjemand vertrieb. Umgerechnet auf den jeweiligen Bevölkerungsanteil im Kosovo ergibt sich bei der Zahl der Geflüchteten kein Unterschied, mit der einen bedeutenden Ausnahme, dass die serbischen Flüchtlinge in der westlichen Öffentlichkeit damals wie heute keine Rolle spielen, so, als habe es sie nie gegeben.
Das Gericht wird sich aller Voraussicht nach diesen Schilderungen der Kosovo-Albaner anschließen. Eine Aussage von General Klaus Naumann, der während der Bombardierungen Vorsitzender des Militärkomitees der Nato war, deutet in diese Richtung. Auf die Frage von Milosević: „Gut, dann lassen Sie mich eine Frage stellen. Sie sind jedenfalls ein Soldat und ich bin Zivilist – Sie sollten das also besser beantworten können als ich. Gibt es Kriege ohne Flüchtlinge? Haben Sie je von einem Krieg ohne Flüchtlinge gehört? Sie haben ja jede Art von Militärwissenschaft studiert. Ja oder Nein?“, antwortete Naumann: „Es gab, denke ich, nie einen Krieg ohne Flüchtlinge. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Flüchtlingen, die vor Kriegsfolgen fliehen und zwischen Flüchtlingen, die aus ihren Häusern und Städten von den eigenen Militär- und Polizeikräften vertrieben werden, also aus ihrem eigenen Land vertrieben werden.“ Diese Argumentation wird sich wahrscheinlich auch das Gericht zu eigen machen.
Weniger Erfolg versprechend läuft es mit der zweiten Argumentationslinie der Anklage, es habe eine zweite, direkte Kommandostruktur von Milosević zu den Militär- und Polizeikräften im Kosovo gegeben. Die Behauptung steht im Raum, Milosević habe unter Umgehung der regulären Befehlskette Menschenrechtsverletzungen im Kosovo unmittelbar angeordnet. Es war erneut der umstrittene Zeuge Tanic, der zur Existenz einer solchen zweiten Befehlskette aussagte. Da er sich aber bereits unglaubwürdig gemacht hatte, verzichtete Milosević auf ein Kreuzverhör.
Am 5. Juli 2002 sagte dann Shukri Aliu, ein ehemaliger Oberst der jugoslawischen Armee, aus. Er gab an, als Mitglied der Zivilverteidigungseinheit in der Kosovo-Hauptstadt Pristina von einem geheimen Generalstab, der aus Vertretern von Armee, Polizei, Zivil- und Landesverteidigungskräften bestand, Wind bekommen zu haben. Der Stab, dem auch der stellvertretende Ministerpräsident Nikola Sainović und General Nebojša Pavković angehört haben soll, habe im Geheimen jeden Dienstag um fünf Uhr in Pristina getagt, um militärische Operationen gegen Kosovo-Albaner zu planen. Der südkoreanische Richter O-Gon Kwon fragte zweimal nach, woher der Zeuge dieses Wissen habe, wo er doch bei diesen geheimen Treffen nicht dabei war. Der Zeuge antwortete, sein Vorgesetzter habe ihm davon erzählt. Die Anklage versicherte daraufhin, klarere Beweise für ihre Vorwürfe vorzulegen, darunter eine geheime Verordnung von 1997, die es Milosević ermöglichte, die normale Befehlskette zu umgehen. Dies wäre das erste Schriftstück, das Milosevićs unmittelbare Verantwortung für Übergriffe im Kosovo belegen würde. Doch von der geheimen Verordnung von 1997 hat man seither nicht wieder gehört. Es wird immer deutlicher, dass sich die Anklage weit gehend auf Vermutungen stützen muss. Stichhaltige Beweise ist sie bislang schuldig geblieben, und die präsentierten Zeugen haben weite Teile der Anklageschrift relativiert oder gar widerlegt.

„Es scheint, als habe die Tribunalsanklage mit fortschreitender Prozessdauer ihre Strategie geändert. Offenbar ist man neuerdings verstärkt darum bemüht, einen offenen politischen Prozess zu führen.“

Deshalb, so scheint es, hat die Tribunalsanklage mit fortschreitender Prozessdauer ihre Strategie geändert. Offenbar ist man neuerdings verstärkt darum bemüht, einen offenen politischen Prozess zu führen. Das ist nicht ganz neu; dieser Aspekt ist aber ab Sommer 2002 immer deutlicher in den Vordergrund getreten. Politische Figuren, die nichts Konkretes zu den Anklagepunkten aussagen können, die jedoch gerne über Milosević als ihren einstigen politischen Gegner referieren, sind vermehrt in den Zeugenstand gerufen worden.
Der ehemalige Präsident des Tribunals, Antonio Cassese, hatte bereits im März 2002, wenn auch in anderem Zusammenhang, vor einer solchen Entwicklung gewarnt. Doch Hauptanklägerin Carla del Ponte scheint keine andere Option mehr zu sehen. Mit ihren großspurigen Auftritten vor den internationalen Medien, bei denen sie von einer überwältigenden Beweislast gegen Milosević sprach, hat sie erheblich dazu beigetragen, dass das Tribunal einen politischen Schaucharakter angenommen hat.
Neben Paddy Ashdown, dem ehemaligen Vorsitzenden der britischen Liberaldemokraten und derzeit noch umstrittenen Hochkommissar des UN-Protektorats Bosnien und Herzegowina, lud die Anklage auch General Klaus Naumann, den ehemaligen Vorsitzender des Nato-Militärrats, Wolfgang Petrisch, Ashdowns Vorgänger in Bosnien und ehemaliger österreichischer Botschafter in Belgrad, sowie Knut Vollebaeck, den ehemaligen Vorsitzenden der OSZE und norwegischen Botschafter in Washington, in den Zeugenstand. Alle berichteten, dass sie Milosević vor dem Krieg getroffen und ihn vor einem Nato-Militärschlag gewarnt hatten. Ashdown gab sogar an, Milosević darüber belehrt zu haben, wie human und zivilisiert die Briten mit der IRA umgegangen seien. Naumann erklärte hingegen mit wenig Achtung vor dem Völkerrecht, die Nato-Angriffe seien auch ohne UN-Mandat rechtens gewesen, da der Sicherheitsrat schlicht seinen Aufgaben nicht nachgekommen wäre. Und Petrisch führte aus, Milosević hätte seinerzeit in Rambouillet wählen können zwischen der Unterschrift und der Bombardierung seines Landes. Solche markigen Sprüche machen deutlich, dass es in Den Haag weniger um Rechtsprechung in einem internationalen Strafrechtsprozess geht als darum, ein a priori definiertes Weltbild auf der juristischen Weltbühne zu verankern.

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