03.09.2015

Gehört der Islam noch zu Frankreich?

Essay von Patrick Jütte

Die widersprüchlichen Reaktionen der französischen Öffentlichkeit auf das Charlie Hebdo-Attentat. Weltoffenheit und Misstrauen gegenüber Muslimen stehen sich gegenüber. Ein Erfahrungsbericht

Die symbolische Sprengkraft des Attentats auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo Anfang Januar ging über die Unterdrückung der Meinungsfreiheit weit hinaus. Durch den Gewaltexzess stand die Idee der französischen Republik, alle seine Bürger unabhängig von Glaubensgegensätzen friedlich und frei in sich vereinigen zu können, zur Disposition. Es war darum verständlich, dass so viele Franzosen zur Verteidigung dieser Idee auf die Straße gingen. Da ich mich zum Zeitpunkt der Großdemonstrationen in Paris aufhielt, konnte ich diese Solidaritätswelle mit „Charlie“ aus der Nähe mitverfolgen. An seiner Figur hat sich in Zeitungen und Parlamentsreden die aktuelle Frage nach der Realität und Einheit der französischen Wertegemeinschaft aufgehangen.

Die Bürger wollten ein Zeichen für diese Einheit setzen. Der Marsch der Republik war weniger als Trauermarsch gemeint denn als Treuemarsch für die Werte der Republik. Ihr Freiheitsversprechen kannte an diesem Tag keine kulturellen Grenzen – ebenso häufig wie „Ich bin Charlie“ habe ich damals während der Demo „Ich bin Jude“ und „Ich bin Muslim“ plakatiert gesehen. An politisch weniger aufgeheizten Tagen sind mir während meines Aufenthalts allerdings vor allem Integrations-Pessimisten begegnet. Angesichts mancher hoffnungsloser Vorstadtghettos resignieren sie über die Vorstellung, an randstänige Migranten- und Sozialgruppen republikanische Werte herantragen zu wollen. Das ist vielleicht weniger ein Vorwurf, als vielmehr das Eingeständnis, dass das Versprechen von Freiheit und Gleichheit aller französischen Bürger in ihrer Lebenswirklichkeit bislang noch nicht angekommen ist.

Charlie als Franzose – Der reservierte Republikaner

Dass die Franzosen also lauthals nach Offenheit verlangen und zugleich selbst nicht an die Integrationsfähigkeit von Marokkanern, Algeriern und Tunesiern glauben, kann nicht in erster Linie dadurch erklärt werden, dass ihr Teilhabeangebot von niemandem wahrgenommen würde. Den wenigsten Migranten wird man wohl totale Verweigerung vorwerfen dürfen. Der Pessimismus vieler „eingeborener“ Franzosen rührt eher daher, dass sie sich eine offene Gesellschaft vor allem und vorrangig unter ihresgleichen vorstellen können. Die Charlie-Bewegung mag den Wert der Freiheit ganz in französischer Tradition als universellen Wert vorgetragen haben. Im öffentlichen Bewusstsein sind die Ideen von der Liberté, der Egalité und Fraternité aber zugleich eng mit der nationalen Geschichte verknüpft. Die aufklärerischen Grundwerte dienen auch als Beschwörungsformel der ganz eigenen französischen Identität und ihrer moralischen Superiorität.

„Die Republik ist durchaus aufnahmefähig für Religionen und Migrationshintergründe“

Die politischen und ökonomischen Rückschläge der letzten Jahre haben dem Selbstbewusstsein und dem Führungsanspruch Frankreichs sichtbar zugesetzt. Wohl auch deshalb hat Premierminister Manuel Valls die Anschläge möglichst gewinnbringend für das symbolische Prestige seines Landes in Anspruch nehmen wollen, indem er davon sprach, die Terroristen hätten die „Symbole“, den „Geist“ oder die „universelle Botschaft“ Frankreichs angegriffen. [1] Während sich die Französische Republik so als erste Anwärterin und letzte Verteidigerin der Freiheit inszeniert, kam es im Land vereinzelt zu Angriffen allzu „flammender Patrioten“ gegen muslimische Einrichtungen. [2] In der französischen Öffentlichkeit ist man sich derweil bewusst, dass solches Tun das freie Frankreich nicht retten, sondern verstümmeln würde. „Ich bin Charlie“ war nicht als antiislamisches Bekenntnis gedacht, sondern als solches zum friedlichen Auskommen verschiedener Kulturen in einem Raum der Meinungsfreiheit.

Charlie als Muslim – Der bemüht Tolerante

Dass die Republik durchaus aufnahmefähig für Religionen und Migrationshintergründe ist, habe ich während meiner Zeit in einem Pariser Vorort selbst erfahren dürfen. Dort habe ich bei einer muslimischen Familie gelebt. Die Mutter eines Informatikstudenten kam ursprünglich aus Marokko, war mit einem Tunesier-Franzosen verheiratet und arbeitete für das Innenministerium. Aus Rücksicht auf religiöse Traditionen trank man bei ihnen zuhause nur mäßig Wein und aß kein Schweinefleisch, dafür gab es aber am 6. Januar zum Fest der Heiligen Drei Könige wie überall im katholisch geprägten Frankreich den Galette des Rois, sprich: den Dreikönigskuchen. Als die Mutter als junge Frau nach Frankreich ausgewandert ist, hat sie abends nach der Arbeit staatliche Sprach- und Geschichtskurse besucht und sich mit der Zeit in diesem Land eine Existenz aufgebaut. Nach den Anschlägen brachte sie von ihrer Arbeit „Je suis Charlie“-Aufkleber mit, die jetzt an allen Türen der Wohnung hängen.

An diesem Beispiel zeigt sich für mich ein Grundgedanke der Republik, dass nämlich jeder an ihr teilhaben kann, der ihre Grundwerte teilt. Ankommenden soll keine Kultur aufgezwungen werden, sondern es geht darum, die Bedingungen des Zusammenlebens verschiedener Kulturen zu akzeptieren. Darum muss es arabisch-stämmigen Franzosen auch erlaubt sein, ihre religiösen und nationalen Teilidentitäten weiter fortführen zu wollen.

Unter dem Hashtag „Ich bin Ahmed“ hatten sich im Januar diejenigen Muslime Frankreichs versammelt, die mit den vulgären Darstellungen ihres Propheten durch Charlie Hebdo absolut nicht einverstanden waren und sich dennoch für den Schutz der Redaktion aussprachen, den auch der muslimische Polizist Ahmed Merabat zu leisten versucht hatte. Auf den Marsch der Republik haben sich die Ahmeds jedoch nur verhältnismäßig wenig getraut, denn die lautstarken Forderungen nach totaler Meinungsfreiheit mögen auf sie auch wie eine Art Drohung gewirkt haben – nach der Art: ‚Lach mit oder flieg raus!’ [3]

„In Frankreich gibt es auch ein Klima des Misstrauens und der politischen Sonderbehandlung des Islams“

In der französischen Öffentlichkeit wird auf muslimische Statements und Symbole empfindlich reagiert, wie im Oktober in der Pariser Oper, als eine Frau aufgrund ihres (offiziell strafbaren) Gesichtsschleiers der Vorstellung verwiesen wurde, weil sich die Sänger andernfalls geweigert hätten, weiter aufzutreten. [4] Das tolerante Bekenntnis „Ich bin Muslim“, das auf dem Marsch der Republik das Prinzip und die Bereitschaft zur Offenheit bekunden sollte, kontrastiert in Frankreich mit einem Klima des Misstrauens und der politischen Sonderbehandlung des Islams. Dieses Klima setzt einer Gesellschaftsdebatte auf Augenhöhe spürbare Grenzen, ungeachtet aller juristisch garantierten Religions- und Redefreiheit.

Charlie als Gendarme - Muskelspiel statt Wahrung der Haltung

Die sozialistische Regierung hat versucht, hier wieder mehr gegenseitiges Vertrauen zu stiften, indem sie in ihren Reden nach den Anschlägen an die Einigkeit der Republik appellierte. Frankreich lasse sich seine Freiheit nicht nehmen, in ihrem Bewusstsein seien alle Citoyens des Landes unabhängig von ihrer Religion vereint. Dieses angeschlagene Idealbild glaubten Premierminister Valls und Präsident Hollande vor allem durch ständiges Wiederholen erhalten zu können. [5] Anstatt aber nun das Problem der sozialen Separation politisch an der Wurzel zu packen, scheint es so, als ließen sich die Franzosen in Zeiten der Schwäche lieber für simplere Zeichen der Stärke begeistern. Die einzig wahrnehmbare Konsequenz für mich damals in Paris war die Beförderung gegenseitigen Generalverdachts durch nicht enden wollende Aufmärsche des Militärs an allen belebteren Orten.

Vor allem Manuel Valls hat großen Aktionismus an den Tag gelegt, die Republik vor ihren vermeintlichen Feinden zu schützen. Darum hatte er bereits wenige Tage nach dem Marsch der Republik angekündigt, außergewöhnliche, aber doch nicht außerordentliche Maßnahmen ergreifen zu wollen. [6] Allen lag da bereits der Begriff Patriot Act à la francais im Munde und man mochte leicht vergessen, dass erst im November von derselben Regierung eine konkrete Reform der Antiterrorgesetze beschlossen worden war. In Reaktion auf die vermehrte Rückkehr von Dschihadisten aus Syrien wollte man damals die Mittel zur Inlandsbeschattung verbessern. Dabei ist das Arsenal zur Terrorismusbekämpfung bereits seit 2006 beachtlich. Seitdem ist die Vorratsdatenspeicherung eingeführt, und auf die Telefondaten hat man als „qualifizierte Person“ – das heißt als dazu befugter Polizist – bereits ohne richterliche Prüfung Zugriff. [7] 2013 wurde dieses Recht auch auf das Mittel der Echtzeitlokalisation und die Anwendung gegen organisierte Verbrecher ausgeweitet. Im Falle einer richterlichen Erlaubnis sollen nun nach der beschlossenen Reform bei einer Abhöraktion auch Privaträume und vor allem Computerdaten zugänglich gemacht werden, beispielsweise Skypegespräche. [8]

Ein derart ausgreifender Überwachungsapparat ist kein unverzichtbares Aufklärungsmittel mehr, sondern wirkt vor allem als Drohung gegen potenzielle Unruhestifter – ganz gleich mit welchem religiösen oder politischen Hintergrund. Mir scheint es, dass die Verunsicherung der Bürger hier zu einem gewissen Grade ausgenutzt wird, um die staatliche Kontrolle über sie auszuweiten, auch jenseits der Rechtsstaatlichkeit. Sei es auch aus Sorge um dieselben, diese Politik gibt dem Terror erst seine freiheitsbedrohende Wirkung. Gerade die patriotischsten Anhänger der freien Republik lassen sich darauf ein, sie zu ihrem eigenen Schutze nach innen wie nach außen zu verschließen und abzuschotten.

„Die französische Gesellschaft darf von der muslimischen Gemeinde demokratische Grundvoraussetzungen einfordern“

Dabei ist die bedeutendste Weise, die Freiheit zu verteidigen, sie schlichtweg unbeeindruckt weiter zu praktizieren. Die Charlie-Sympathisanten haben das verstanden. Die islamistischen Extremisten selbst haben nicht die Macht, eine freie Gesellschaft nach ihren Regeln zu deformieren. Ihr Mittel ist es, sie durch Angst dazu zu bringen, sich aus Konfliktscheue selbst einzuschränken. Dagegen hat sich ihre Bewegung gewehrt, der Kult um Charlie ist letztlich derart gehypt worden, dass nicht mehr viel dazugehörte, sich zu ihm zu bekennen – und das ist auch gut so, denn niemand sollte Angst davor haben, in aller Öffentlichkeit für Meinungsfreiheit und kulturelle Offenheit einzustehen, eben weil es alle anderen auch tun.

Das ist Charlie!

Der Republikanismus der Franzosen hätte es nicht nötig, in Misstrauen gegen „verdächtige“ Milieus umzuschlagen, der von scheinfürsorglichen Autoritäten zum Kontrollausbau ausgenutzt werden will. Die Mordanschläge islamistischer Franzosen an linken und jüdischen Franzosen wurden von Manuell Valls zu Recht als innergesellschaftlicher Konflikt bezeichnet. Hier steht kein freies Land gegen eine von außen einbrechende repressive Religion, sondern eine Republik steht vor dem Problem, einen Teil seiner Bevölkerung nicht in seine Wertewirklichkeit integriert zu haben. Die Radikalisierung junger Muslime lässt sich darum auch nicht mit Schleierverboten und Skypeüberwachung verhindern, das bleibt hilfloseste Symptombekämpfung.

Das universelle Freiheitsversprechen Frankreichs darf im Bewusstsein der Menschen nicht vor der muslimischen Gemeinde Halt machen. Im Gegenzug für ihre Offenheit darf die französische Gesellschaft schließlich von dieser Gemeinde demokratische Grundvoraussetzungen einfordern. Komplementär dazu ist natürlich die Bereitschaft der Franzosen nötig, sich damit inhaltlich wie auch mit der sozioökonomischen Separation insgesamt auseinanderzusetzen.

Aktuell ist die nationale Diskussion über den Islam in Frankreich in vollem Gange. Es bleibt schwer zu sagen, ob sich daraus wirklich Konsequenzen im Geiste des 11. Januar ergeben werden. Unabhängig davon kann man aber bereits die Leidenschaft bewundern, mit der die Franzosen an dieses Problem herantreten. Ihr Pathos um die ebenso simplen wie zeitlosen Prinzipien ihrer Republik mag dem Test an der sozialen Realität nicht immer gewachsen sein, aber der französische Elan hat es dafür mal wieder geschafft, ein selbstvergessenes Europa für seine eingestaubten Werte neu zu begeistern. Und das ist beispielhaft.

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