01.03.2005

Gefährliche Mahlzeiten

Essay von Thilo Spahl

Über Empörung und Vorsorge.

Das Öko-Institut in Freiburg hat uns ein Menü der beliebtesten Ernährungsrisiken aufgetischt. Der Autor hat gekostet und konnte ohne Umschweife vermerken, dass es ihm nicht mundete: fad, zerkocht, wenig kreativ, der Gesundheit abträglich. Als TOP-Gefahren wurden die „bovine spongiforme Encephalopathie“ (BSE) sowie hormonell wirksame Substanzen (zum Beispiel in Beschichtungen von Konservendosen) serviert, gefolgt von transgenem Allerlei und Pestizidrückständen.[1]
Natürlich braucht man sich über dieses Resultat nicht zu wundern. Denn die Studie ist Teil eines größeren Unterfangens namens „Ernährungswende“, dessen Ziel es ist, die Anhängerschaft von Öko-Essen zu mehren. Es sei daher auf die „Erkenntnisse“ nur kurz eingegangen.
Die Botschaft lautet: BSE ist deshalb höchstgefährlich, weil der Erreger sehr wahrscheinlich auf den Menschen übergehen und die tödlich verlaufende neue Form der Creutzfeld-Jakob-Krankheit verursachen kann. So weit so gut. Dass dies jedoch in Deutschland bisher noch kein einziges Mal geschehen ist, da es sich durch einfache Maßnahmen leicht verhindern lässt und daher keinerlei Grund zur Annahme besteht, dass es je geschehen wird, findet leider in der Risikobewertung keine Berücksichtigung. Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens wird stattdessen vorsorglich als hoch angesehen. Aus der Multiplikation von höchstmöglichem Schaden und höchstmöglicher Auftretenswahrscheinlichkeit ergibt sich maximales Risiko.
Noch abenteuerlicher geht es bei der Untermauerung der Gefährdung durch hormonell wirksame Stoffe zu. Hier ist keinerlei negative Wirkung beim Menschen belegt. Deshalb kommt das Vorsorgeprinzip sowohl bei Schadenshöhe als auch bei Wahrscheinlichkeit zur Anwendung. Mit anderen Worten: Es sind negative Wirkungen weder aufgetreten noch bekannt. Wir müssen daher vorsichtshalber so tun, als ob die gesundheitlichen Schäden besonders gravierend und die Auftretenswahrscheinlichkeit besonders hoch seien. In der Multiplikation ergibt sich wiederum maximales Risiko.
Als einzig denkbare Gefahren von „Genfood“ werden Allergien angeführt. Diese Gefahr wird als mittelgroß eingestuft. Die Auftretenswahrscheinlichkeit wird wiederum als „ungewiss“ bezeichnet, wofür es vorsorglich natürlich die maximalen fünf Punkte gibt. Dass Allergien bei den Milliarden regelmäßiger Konsumenten der entsprechenden Produkte bis heute nicht aufgetreten sind, was leicht damit zu erklären ist, dass die Produkte vor ihrer Zulassung auf allergenes Potenzial getestet werden, bleibt bemerkenswerterweise unberücksichtigt. Auch bleibt unerwähnt, dass sich infolge konventioneller Züchtungen die Proteinzusammensetzung der Pflanzen ebenfalls verändert und auch neue exotische Früchte und Speisen aus fernen Ländern eine Vielzahl neuer Proteine enthalten. Neue Allergene sind also keineswegs ein spezifisches Merkmal gentechnisch veränderter Pflanzen.
Auf Platz vier landen Pestizidrückstände, für die ebenfalls bisher von der Wissenschaft keine negativen gesundheitlichen Wirkungen belegt werden konnten, sowie Bakterien und Viren, die in der ganzen Liste der denkbaren Risiken das einzig reale und bedeutsame Problem darstellen. Immerhin erkranken in Deutschland rund 60.000 Menschen im Jahr allein an Salmonelleninfektionen.
So viel zu den alarmierenden Ergebnissen der Risikostudie – genauer gesagt, der Risikopotenzialstudie, denn es wird eigentlich nicht vor Risiken, sondern vor „Risikopotenzialen“ gewarnt, worunter wir wohl das Risiko eines Risikos verstehen dürfen. Aber warum dann nicht gleich mit einer Risikopotenzialsmöglichkeitsdenkbarkeitsstudie die ahnungslosen Verbraucher wachrütteln?

„In unserer Kultur wird das gesellschaftliche Interesse auf Risiken gelenkt, die nicht unbedingt die größten oder wichtigsten sind, sondern bei den Menschen die Alarmglocken läuten lassen. Und es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, es habe sich auch schon eine kleine Empörungsindustrie mit gut gefüllten Auftragsbüchern etabliert.“

Risikobewertung

Nun zur eigentlich interessanten Frage: Warum kümmern wir uns überhaupt um ominöse Pseudogefahren der erwähnten Art, anstatt durch geeignete Maßnahmen dort, wo bekannte Gefahren lauern, reale Schäden für Leib und Leben zu reduzieren? Was ist los mit Risikowahrnehmung, Risikoforschung, Risikokommunikation in diesem Land?
Es gibt da zunächst ein paar gut bekannte psychologische Probleme, die sich am besten mit dem Begriffspaar „Optimistischer Fehlschluss“ und „Empörungsfehlschluss“ beschreiben lassen. Dem optimistischen Fehlschluss entspricht die Aussage: „Ich weiß, Motorradfahren / Rauchen / Bergsteigen etc. ist gefährlich. Aber mir wird schon nichts passieren.“ Dieser Fehlschluss führt zu leichtsinnigem Verhalten und kostet jedes Jahr viele Menschen das Leben. Er hat aber auch sein Gutes: Er bewahrt uns davor, zu einer Gesellschaft von Angsthasen zu degenerieren, die sich nicht mehr aus der eigenen Wohnung trauen.
Der Empörungsfehlschluss betrifft dagegen exotischere, unsichtbare, furchterregendere Risiken wie Mobilfunkstrahlung oder Lebensmittelkontamination, denen man machtlos ausgeliefert zu sein scheint und die von den vermeintlich Verantwortlichen bzw. den Wissenschaftlern zudem oft geleugnet oder als unbedeutend klassifiziert werden, was natürlich geeignet ist, die Empörung noch zu steigern.
In einer Kultur, in der der Empörungsfehlschluss zum festen Bestandteil des Weltbilds geworden ist, wird das gesellschaftliche Interesse auf Risiken gelenkt, die nicht unbedingt die größten oder wichtigsten sind, sondern bei den Menschen die Alarmglocken läuten lassen. Genau dies ist in der so genannten Risikogesellschaft der Fall. Der Empörungsfehlschluss ist heute in Deutschland recht gut institutionalisiert. Und es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, es habe sich auch schon eine kleine Empörungsindustrie mit gut gefüllten Auftragsbüchern etabliert. Denn damit der Empörungsfehlschluss gesellschaftliche Wirkung entfalten kann, bedarf es eines gewissen Ausmaßes an Propaganda.
Regiert der Empörungsfehlschluss das individuelle Bewusstsein, so geht man aus Angst vor BSE zum Ökofleischer, obwohl man besser daran täte, beim Hausarzt die Grippeschutzimpfung mitzunehmen. Schließlich sterben jährlich Tausende von Menschen in Deutschland an einer Grippeinfektion und genau Null in Folge der Übertragung des BSE-Erregers auf den Menschen.
Regiert der Empörungsfehlschluss das gesellschaftliche Bewusstsein, so werden beispielsweise in Deutschland rund 2,5 Millionen Rinder pro Jahr auf BSE getestet, obwohl von den gesund geschlachteten nur 0,00098 Prozent infiziert sind (Zahlen von 2003) und aufgrund des Fütterungsverbots von Tiermehl, der geringen Infektiosität und den Verarbeitungsvorschriften für Rindfleisch eine Übertragung auf den Menschen praktisch ausgeschlossen ist. Hierfür werden jährlich weit über 100 Millionen Euro ausgegeben. Würde man dieses Geld umwidmen und beispielsweise für Darmspiegelungen zur Krebsvorsorge ausgeben, könnten die Leben von Krebspatienten damit in Summe um über 30.000 Jahre verlängert werden.
Wie kommt man auf solche Zahlen? Es gibt Ökonomen, die rechnen aus, wie viel Dollar ein gerettetes Menschenleben oder ein gewonnenes Lebensjahr kosten. Das mag manchem kalt und unangemessen vorkommen, ergibt aber interessante Ergebnisse. Beispielsweise, dass bei Reihenuntersuchungen mittels Darmspiegelung im Zehn-Jahres-Intervall rund 3500 Euro aufgewendet werden müssen, um das Leben eines Patienten um ein Jahr zu verlängern, oder dass in Entwicklungsländern ein zusätzliches Lebensjahr schon für rund 50 Euro zu haben ist.
Da in der Welt, in der wir leben, immer nur ein Bruchteil dessen getan wird, was zu mehr Glück, mehr Gesundheit und einem längeren Leben von Menschen beitragen könnte, muss die Gesellschaft Prioritäten setzen und tut dies Tag für Tag. Leider folgen wir beim Thema Risikovermeidung falschen Vorgaben, weil wir uns eben nicht daran orientieren, wo mit welchem Aufwand was erreicht werden kann und wir hypothetischen Gefahren oft größere Bedeutung einräumen als realen.
Auf einer von der Europäischen Kommission veranstalteten Konferenz von Risikoexperten hat John D. Graham vom Harvard Center for Risk Analysis in Boston verdeutlicht, warum wir zur Risikovermeidung an Tatsachen orientierte Prioritäten setzen müssen:

„Besonders problematisch ist die Allianz aus Empörungskultur und Vorsorgeprinzip. Sie führt dazu, dass jede Empörung ohne Umschweife in einer pauschalen Verbotsforderung mündet.“

„Ich will Ihnen sagen, warum uns diese Wahrscheinlichkeit interessiert: In den Vereinigten Staaten versuchen wir, das Krebsrisiko durch Lebensmittel und die Umwelt auf 1:1.000.000 je Menschenleben zu senken. Bei der jetzigen Sterblichkeitsrate beträgt das durch Flugzeuge bedingte Risiko 4:1.000.000, also erheblich weniger als unsere Sicherheitsstandards für Lebensmittel und Chemikalienbelastung. Ich könnte noch hinzufügen, dass ich den Eindruck habe, dass man der Europäischen Kommission mit gutem Grund Fahrlässigkeit vorwerfen könnte, weil sie diese Veranstaltung nicht unterirdisch durchführt, um einen zusätzlichen Schutz gegen diese vom Menschen entwickelte Technologie zu bieten.”[2]
Wenn das Öko-Institut uns glauben machen will, BSE, beschichtete Dosen und genetisch veränderte Nahrungsmittel seien große Gefahren, manifestiert sich die Kultur des Empörungsfehlschlusses gleich auf zweifache Weise: Erstens befördert das Institut mit seinen Wertungen diese Kultur, zweitens profitiert es von dieser Kultur, denn ohne sie wäre es wohl kaum denkbar, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die Finanzierung der Studie übernommen hat.

Vorsorge

Ein besonders problematisches Paar bildet die Allianz aus Empörungskultur und Vorsorgeprinzip, die dazu führt, dass jede Empörung ohne Umschweife in einer pauschalen Verbotsforderung mündet. Doch auch das Vorsorgeprinzip hat den guten Ruf, den es offenbar genießt, nicht verdient, und es hat nicht zu allen Zeiten jene Wertschätzung erfahren, die es heute erfährt. Vor allem ist es nicht in absolutistischer Art und Weise interpretiert worden. Es war Werkzeug des Ingenieurs, nicht Leitbild der Politik. Die Vorsicht war eine das Handeln begleitende, nicht das Handeln verhindernde.
In nicht-absolutistischer Lesart besagt das Vorsorgeprinzip, dass, wenn ein Schaden droht und ein begründeter Anlass zur Sorge besteht, der Mangel an vollständiger wissenschaftlicher Gewissheit uns nicht daran hindern sollte, Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Im Falle von gentechnisch veränderten Nahrungsmitteln zählen zu diesen vorsorglich ergriffenen Maßnahmen umfangreiche Umweltverträglichkeitsprüfungen, strenge Zulassungsverfahren für den Anbau, staatlich geförderte Sicherheitsforschung sowie eine anbaubegleitende langfristige Beobachtung der in die Umwelt ausgebrachten GV-Pflanzen. Nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft ist ein solcher Aufwand übertrieben, und viele fordern daher, ihn zu verringern und die Mittel stattdessen für andere Maßnahmen einzusetzen, bei denen man für jede hineingeflossene Million Euro eben 500 oder 50 oder auch nur ein gerettetes Menschenleben verbuchen kann. Kaum jemand fordert jedoch, überhaupt keine Vorsichtsmaßnahmen walten zu lassen. Zweifellos ist das sinnvolle Ausmaß nicht einfach zu bestimmen.
Klar sollte jedoch in dieser Sache sein, dass eine Auslegung des Vorsorgeprinzips in der Manier von Greenpeace, Öko-Institut und ähnlichen Organisationen, die schlicht einen vollständigen Verzicht auf die grüne Gentechnik fordern, vollkommen indiskutabel ist. Wir brauchen nicht radikalere, sondern rationalere Vorsorge.

Wie ist es so weit gekommen?

Die Verunsicherung der Menschen in westlichen Ländern ist heute außerordentlich groß, wir verfügen nicht mehr über soziale Einbindungen, in denen früher kohärente und stabile Weltsichten entwickelt wurden. Das Vertrauen in die Politik, in Unternehmen und in die Wissenschaft hat drastisch abgenommen. Entsprechend leicht konnten sich subjektive Ängste als konstitutive Bestandteile neuer fragmentierter Weltbilder etablieren, die für rationale Kritik nicht mehr offen sind. Befördert wird dieser Prozess fatalerweise durch Teile der ihrer Autorität und Souveränität verlustig gegangenen Eliten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, die bereitwillig in die ihnen offerierte Rolle als Risikomanager, Risikoforscher oder Verbraucherschützer schlüpfen.
In diesem Zusammenhang müssen wir auch ein Ungleichgewicht in der Risikoforschung beklagen. Mit viel Eifer werden immer neue Risiken identifiziert, indem sie entweder statistisch aus Korrelationen ermittelt oder hypothetisch postuliert werden. Die frisch entdeckten oder mit neuen Verdachtsmomenten ausgestatteten Risiken werden anschließend hypostasiert und kommuniziert und verbleiben in jenem Gefahrenpool, aus dem die Medien sich jederzeit bedienen können. Zu kurz kommt die Bewertung, die gründliche Klassifizierung und Gewichtung und schließlich auch die Bereinigung der rasant länger werdenden Gefahrenliste.
Die Autoren der besagten Ernährungsrisiken-Studie behaupten, es könne „beobachtet werden, dass laufend mehr soziale, ökologische, individuelle und politische Risiken in Industrienationen entstehen, als die bestehenden staatlichen Sicherungsmechanismen und Kontrolleinrichtungen bewältigen können“. Richtig ist, dass immer mehr Risiken postuliert werden, sich aber niemand darum kümmert, den Gefahren-Saustall kontinuierlich auszumisten.
Schuld an dieser misslichen Situation ist auch, dass in Deutschland ein eklatanter Mangel an kreativen „think tanks“ und unabhängigen Medien herrscht, die in der Lage wären, die Meinungsbildung durch gute Analyse und Bewertung der wissenschaftlichen und sozialen Entwicklungen zu unterstützen. Auch dies ist ein unmittelbarer Ausdruck der Desorientierung der Eliten, insbesondere der Wirtschaft, die sich kaum aktiv für rationalere Diskurse engagiert, um den das Land überziehenden Nachhaltigkeitsvereinen etwas entgegenzusetzen. Das entstandene Vakuum füllen Organisationen wie das Öko-Institut, die, öffentlich finanziert und kaum kritisiert, die Empörungskultur anheizen.

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