03.10.2012
Gaucks Freiheit
Analyse von Tobias Prüwer
Eine Auseinandersetzung mit dem fragwürdigen Freiheitsverständnis unseres Bundespräsidenten, Joachim Gauck. Allem Gauck’schen Unken zum Trotz: Freiheit ist gerade nicht Einsicht in die und Akzeptanz der Notwendigkeit
„Heute nun haben Sie, die Wahlfrauen und -männer, einen Präsidenten gewählt, der sich selbst nicht denken kann ohne diese Freiheit, und der sich sein Land nicht vorstellen mag und kann ohne die Praxis der Verantwortung“, lobte Joachim Gauck nach der Wahl die Anwesenden wie sich selbst. Die Jungle World interpretiert seine Sentenz so: „Anders gesagt: Für mich die Freiheit und fürs Land, also für euch da draußen, die Verantwortung.“ [1]
Seit Gauck sich als Bundespräsident empfahl, hat das Wort Freiheit Hochkonjunktur. Von Bildung bis Breitensport, Gesundheit bis Energiepolitik gibt es kein Thema, bei dem Gauck nicht Freiheit und Verantwortung betont – letztlich fallen bei ihm, wie zu sehen sein wird, beide zusammen. In seiner Denunziation etwa der Montagsdemonstrationen genannten Hartz-IV-Proteste hat Gauck aber eines offenbart: Statt einer konsistenten Freiheitsauffassung liefert er in einer Mischung aus (auto-)biografischem Bericht und Psalmenpoesie lediglich Versatzstücke. Kostprobe aus seinem frisch erschienen Buch Freiheit. Ein Plädoyer: „Wir können Ja sagen zu den vorfindlichen Möglichkeiten der Gestaltung und Mitgestaltung.“ [2]
Akzeptanz der „vorfindlichen Möglichkeiten“: Gaucks Freiheitsidee – so kann man sie am treffendsten bezeichnen – beinhaltet kein Veränderungspotential. Vielleicht bieten ein paar Stellschrauben noch kleinen Spielraum, aber im Grunde ist Freiheit für ihn schon realisiert und es gilt, sie unter dem Label Verantwortung zu leben. Dass man selbstverständlich eine Verantwortung gegenüber sich selbst hat, muss man an dieser Stelle wohl nicht extra herausstreichen, aber das völlige Subsumieren von Freiheit unter das Sich-Fügen in die Gebote der Gemeinschaft, in der es mal wieder den Gürtel enger zu schnallen, zusammenzurücken gilt etc., bedeutet eine Anrufung von Autorität. Diese Rückbindung von Freiheit an Regierung und Staat aber lässt keinen Freiheitsbegriff mehr zu, der dazu anregt, den Rahmen des eigenen Tuns mit zu bedenken, zu kritisieren und auch praktisch in Frage zu stellen.
In dieser Begriffskonstruktion ist für eine Kultur zur Freiheit kein Platz. Auch wenn ich keine Möglichkeiten habe, dann darf ich einem solchen Freiheitskonzept zufolge aber nicht Nein sagen, der Bürger hat schließlich Verantwortung. Gauck ist Dogmatiker und das muss er als Theologe auch sein, für einen politischen Repräsentanten ist das kritischer zu sehen. Denn er argumentiert nicht, kennt keinen problematisierenden Begriff von Freiheit. Es ist geradezu die plumpe Anrufung eines Vulgärliberalismus, die hier zur Geltung kommt. Aber: Wer von Freiheit spricht, darf von Machtstrukturen nicht schweigen. Daher sollen Gaucks Freiheitsgesten hier als Aufhänger dienen, um nach Freiheit und ihrem gegenwärtigen Status zu fragen.
Meine Freiheit ja, deine Freiheit nein
„Meine Freiheit muss noch lang nicht deine Freiheit sein! Meine Freiheit: Ja! Deine Freiheit: Nein!“ – In Georg Kreislers [3] berühmtem Lied kommt das Ringen um die Verwirklichung jeweiliger Freiheitsvorstellungen erhellend zum Ausdruck. So birgt gerade der bürgerlich-liberale Imperativ Freiheitsbeschränkungen, wenn es um Mitbestimmung geht, die ein Mindestmaß übersteigen soll. Oft werden solche libertäreren Ansprüche altväterlich abgebügelt. Wenn etwa Gauck vom „anarchische[n] Antlitz“ spricht, „das Freiheit immer hat, wenn sie jung ist“ [4], und er sie daher als naiv ablehnt, dann klingt er – nolens volens – wie Lenin, der einer solchen Position den Status einer „Kinderkrankheit“ attestiert. [5] Und auch wenn Gauck sagt: „Ich nenne die Freiheit der Erwachsenen ‚Verantwortung’“ [6], dann ist er damit nicht allein. Denn es ist allgemeinhin die preußische Freiheit, die im politischen Tagesgeschäft propagiert wird. Wie bei Hegel, der in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts den Staat „als die Wirklichkeit des substantiellen Willens“ charakterisiert: „[A]bsoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt, sowie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staates zu sein.“ [7] Es ist nicht ohne Ironie, dass eine solchermaßen formulierte Freiheit heutzutage auf der Kritik an Stalinismus und DDR-Realität fußt; ist sie doch selbst mit Repression verbunden und führt in logischer Konsequenz ins Umerziehungslager. Fassbarer als solche abstrakte, sich auf den Staat als Ultima Ratio berufende Freiheit wird ein Begriff von Freiheit, den man inhaltlich bestimmt. Denn erst, wenn gesagt wird, wer wovon und wozu frei ist, erhellt sich, was Freiheit jeweils meint.
Es gibt zwei Konzepte der Freiheitsbestimmung: die positive und die negative Freiheit. Nach letzterer operiert etwa folgende Rechnung, die bei Gauck immer wieder anklingt: In der DDR regierte die Zwangsjacke, ergo ist die Bundesrepublik das Reich der Freiheit – und wer bundesdeutsche Zustände kritisiert, ist dementsprechend ein Befürworter der Knechtschaft. Negative Freiheit ist also zuallererst die Freiheit von Bevormundung und die Absenz von Zwang und Gewalt und kann so weit reichen, dass gewisse Handlungen erlaubt, staatlich legitimiert sind. Die positive Freiheit hingegen ist die Freiheit zur Selbstbestimmung, sie bedeutet Teilhabe und Partizipation, also Gestaltungsmöglichkeit – und das in einem größtmöglichen Rahmen.
Wenn Gauck etwa in seinem Freiheits-Plädoyer zunächst historisch darlegt, wie der Zwang in der DDR aussah und dann für die gegenwärtige BRD-Gesellschaft Verantwortung einfordert, dann bedient er vorrangig die Aspekte negativer Freiheit. So rief er in einer Rede auf: „Den Regierten, unseren Bürgern, muten wir zu: Ihr seid nicht nur Konsumenten. Ihr seid Bürger, das heißt Gestalter, Mitgestalter. Wem Teilhabe möglich ist und wer ohne Not auf sie verzichtet, der vergibt eine der schönsten und größten Möglichkeiten des menschlichen Daseins: Verantwortung zu leben.“ [8] Der Wahlgang und das Ehrenamt werden dann zu den Mitteln der Teilhabe und Mitbestimmung; ein enger Rahmen.
Doch verstummen die Ansprüche der positiven Freiheitsforderung nicht, nur weil eine Etappe erreicht ist. Stehen negative und positive Freiheit selbstredend immer miteinander in Dialektik, so trifft das nicht nur auf der analytischen Ebene, sondern auch auf der des politischen Diskurses zu. [9] – „Die Demokratie hat nicht aufgehört, von den Demokraten selbst verdächtigt zu werden.“ [10]
Macht geht nicht allein vom Staate aus
„Ja, es gibt auch Mängel in unserer Demokratie und Marktwirtschaft“, schreibt Gauck, und weiter: „Wenn wir politische Freiheit gestalten wollen, gibt es nicht allzu viele Varianten. Ich jedenfalls kenne keine, die den Grundsätzen dieser westlichen Variante von Eigenverantwortung vorzuziehen wäre.“ [11] Er erkennt sogar selbst an einer Stelle in seinem Freiheits-Plädoyer einen springenden Punkt an der Freiheitsidee: „Entscheidend ist die Teilhabe an der Macht oder die Unterwerfung unter die Macht, die uns zu Bürgern oder Nichtbürgern macht.“ [12] Nur ist bei ihm die Teilhabe schon erfüllt, wenn der von ihm historisch erlebte staatliche Zwangscharakter wegfällt. „Nie wieder DDR“ mag als Losung reichen, vor sozialistisch gefärbten Repressionsapparaten zu warnen, als Perspektive zur Bestimmung von politischer Freiheit reicht sie aber nicht hin. Denn es gibt neben staatlichen Strukturen – auch diese zeigen gegenwärtig zur Genüge repressive Aspekte – zum Beispiel eine systemische oder strukturell zu nennende Gewalt, die an Zwang nichts vermissen lässt, und andere Machtgefüge, die Freiheit (noch) einschränken.
Diese wären noch hinnehmbar, wenn jeder Zugang dazu hätte; immerhin ist Freiheit ohne Gerechtigkeit ziemlich leer, was auch Gauck sieht. [13] Aber – und das ist das ideologische Astloch hinter der Freiheit-Verantwortung-Kopplung – es stimmt eben nicht, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben, die jeden belohnt, der etwas aus seinem Leben machen will, etwa seine Pflicht tut, um dann auch Arbeit zu bekommen etc. Die Welt ist gewiss nicht fair – dann soll man aber auch nicht so tun, als ob sie es wäre.
Das Beschwören der freien Akteure auf einem freien Markt ist plausibel, solange man nicht die Empirie bemüht. Die mittels Leistungsideologie untergeschobene Chancengleichheit existiert bis dato nicht. Wenn die ungleiche Beteiligung am Wohlstand immer ungleich ist, dann drückt sich hier kein Verhältnis aus, in dem alle Menschen gleichsam autonome Akteure sind. Subtiler, aber auch erkennbar funktionieren andere Machtaspekte, die an sich nicht „böse“ sind oder von irgendjemandem zu seinem Vorteil installiert. Zur Kenntnis nehmen muss man sie aber: So ist es für Unternehmer in bestimmten Regionen einfach nicht nur von Vorteil, einer bestimmten Partei anzugehören, sondern es geriete für sie zum besonderen Nachteil, es nicht zu tun. Die Freiheit der Rede wird auch in dem Maße eingeschränkt, in dem die Interdependenzketten, in denen man beruflich wie privat steckt, in negativer Rückkopplung feuern. Was mögen die Kollegen, der Chef, die Kunden und die Nachbarn denken, wenn man an einer politischen Demonstration teilnimmt? Solche „weichen“ Aspekte der Macht werden auch in den Warnungen an Jugendliche deutlich, in privaten Netzwerken nicht zu viel von sich preiszugeben: Potentielle Arbeitgeber könnten sich an der einen oder anderen Vorliebe stören.
Nur wenn man sich folglich auf absolut regierende Staaten, Diktaturen etc. als Abgrenzung stützt, kann der Liberalismus „westlicher“ Demokratien die Freiheit als Emblem benutzen. Immerhin zielt er nicht auf die totale Beherrschung des Subjekts ab. Thomas Lemke bringt dies in seiner vorzüglichen Studie Eine Kritik der politischen Vernunft wie folgt auf den Punkt: „Das Prinzip der Regierung erfordert die ‚Freiheit’ der Regierten, und der rationale Gebrauch dieser Freiheit ist die Bedingung einer ‚ökonomischen’ Regierung. Die Kunst der liberalen Regierung besteht darin, an die Stelle einer äußerlichen Begrenzung über das Recht eine interne Regulation zu setzen: die Politische Ökonomie. [...] Der Liberalismus räumt also der Freiheit nicht mehr Nischen ein als andere Regierungspraktiken; er beschränkt sich nicht darauf, diese oder jene Freiheit zu respektieren. Sondern er ‚konsumiert’ Freiheit. [...] Der Liberalismus kann Freiheit nur in dem Maße operationalisieren, wie er zugleich sicherstellt, dass ein klar abgegrenzter Gebrauch von der Freiheit gemacht wird.“ [14] Das ist der Grund, warum das Lob der real existierenden, kapitalistischen Demokratie so eng mit dem Verweis auf Verantwortung, Pflichtgefühl und Treue für die Gemeinschaft verzahnt ist. Letztlich wird hier Friedrich Engels’ Anti-Düring das Wort geredet: „Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit“. Und Einsicht meint nicht allein das Gewahrwerden, was erst einmal nichts Schlechtes ist, sondern zielt auf das Akzeptieren ab.
Dass Ausbeutung oder Unfreiheit nicht allein staatlich organisiert sein muss, sondern andere, höchst marktförmige Ausprägungen haben kann, macht auch eine relativ neue Formation ersichtlich, für die der Freiberufler – nicht alle per se – emblematisch steht. Im Zuge der Neoliberalismusprägung hat ein Umschlag von Freiheit in Selbstausbeutung stattgefunden, der sogar als Mehr an Freiheit empfunden wird – wie im Folgenden zu skizzieren ist.
Die spätmoderne Internalisierung der Gewalt
„Begriffe wie Autonomie, Selbstorganisation, Dissidenz oder auch Befreiung haben die Fronten gewechselt, und es ist unklar, wo überhaupt die Fronten verlaufen. Fanden der liberale wie der anarchistische Einspruch gegen ‚Regierbarmachung der Gesellschaft und der Individuen’ ihren gemeinsamen Nenner darin, das passive Regiertwerden durch ein aktives Sich-selbst-Regieren ersetzen zu wollen, so verliert dieses Programm in dem Maße seinen Stachel, in dem Freiheit nicht die Antithese von Herrschaft darstellt, sondern den avancierten Modus ihrer Ausübung.“ [15] – Ein diskursiver Wechsel hinsichtlich zentraler Botschaften emanzipatorischer Bewegungen ist eingetreten. Heute ist es das Management, das ebensolche, mit Aspekten von Autonomie und Freiheit verbundenen Formulierungen fürs Projektmanagement vorsieht. Man kann skeptisch sein, ob bei den klassischen Liberalen ein positiver Freiheitsbegriff herrschte oder sie sich „nur“ gegen absolutistische Allmachtsansprüche wandten, aber richtig an obiger Feststellung ist, dass in der ökonomischen Einspannung des Freiheitsbegriffs – ebenso wie er von Konservativen wie Gauck als Verantwortungs-Camouflage den Einzelnen in die Schicksalsgemeinschaft sperrt – das Individuum potenziell in die freiwillige Selbstentäußerung getrieben wird; und dabei auch noch denkt, ganz bei sich zu sein, sich „zu verwirklichen“.
In seinem unlängst erschienenen Buch Topologie der Gewalt schließt Byung-Chul Han an solche Überlegungen an. Ihm zufolge ist Gewalt, die wohl gravierendste Freiheitsverletzung, etwas Urmenschliches, das trotz allem Gerede von Fortschritt und Zivilisiertheit nicht zu existieren aufgehört hat. Sie hat aber je nach gesellschaftlicher Formation ihre eigene Gestalt. War in früheren Gesellschaften die externe Gewalt typisch, so ist sie heute wesentlich subkutan, schlägt sich als Selbstverletzung des Subjekts viral, medial und psychisch in den Individuen nieder. Das Gewalttätige hat sich im Leistungsprinzip verinnerlicht und kann sich als Selbst-Exploitation bis zur Entkräftung auswirken. Weil sie von innen kommt, ist diese Gewalt von einer scheinbaren Positivgestimmtheit getragen: Das Subjekt sieht sich vor unzähligen Möglichkeiten und Freiraum und entwirft sich dahin, wird selbst zum Projekt. Dass das nicht immer gut ist fürs Individuum, dem auf diese verquere Weise Freiheit zum Zwang werden kann, darauf scheint die gesellschaftliche Sensibilisierung für die Phänomene Ausgebranntsein und Depressionen hinzuweisen. „Wenn man sich zu sehr mit der Arbeit identifiziert und keine Identität neben der Arbeit hat, dann wird es in dem Moment destruktiv, wo Niederlagen auftreten“ [16], warnt etwa der Arbeitssoziologe Reinhold Sackmann.
Von solchen Auswüchsen im Zeichen der Freiheit, die in Wahrheit ihr genaues Gegenteil sind, zeigt sich etwa ein Herr Gauck unbeeindruckt. Lieber kritisiert er eine angeblich glückssüchtige Gesellschaft, die nicht schnurstracks für deutsche Interessen in den Krieg ziehen will. [17] Aber gerade in Zeiten, in denen Freiheit und Selbstverwirklichung so oft das Wort geredet wird, muss auf den emanzipatorischen Aspekt hingewiesen werden. Freiheit bedeutet weit mehr als wirtschaftliche Freizügigkeit. Das Lob der Freiheit zielt nämlich auch auf den Rahmen des möglichen Tuns, eignet neben einem Wirklichkeits- auch einen Möglichkeitssinn. Und das bedeutet im Sinne einer „kommenden Demokratie“ Jacques Derridas, immer mehr Freiheitshürden unmöglich zu machen.
Hieran schließt an, was der junge Gottlieb Fichte „Kultur zur Freiheit“ nannte: „[N]iemand wird kultiviert, sondern jeder hat sich selbst zu kultivieren.“ [18] „Der Staat geht, ebenso wie alle menschlichen Institute, die bloße Mittel sind, auf seine eigene Vernichtung aus: es ist der Zweck aller Regierung, die Regierung überflüssig zu machen“ [19], er ist „eine Kerze, die sich durch sich selbst verzehrt, sowie sie leuchtet, und welche verlöschen würde, wenn der Tag anbräche.“ [20] Oder, um John Stuart Mill zu bemühen, der übrigens ähnliche Möglichkeitsspielräume für alle Individuen als Voraussetzung von Freiheit begriff: „Der Wert eines Staates ist auf lange Sicht der Wert der Individuen, die ihn bilden. Und ein Staat, der die Interessen der geistigen Entwicklung dieser Individuen vernachlässigt zugunsten einer etwas besser funktionierenden Verwaltung [...], ein Staat, der seine Menschen verkümmern lässt, um an ihnen – selbst für nützliche Zwecke – gefügige Werkzeuge zu besitzen, wird merken, dass mit kleinen Menschen wahrlich keine großen Dinge vollbracht werden können“. [21]