01.03.2003
Fußballprofis wie Erwachsene behandeln
Kommentar von Stefan Chatrath
Stefan Chatrath fordert weniger Strafen und mehr Platz für Fingerspitzengefühl. Dann klappt’s auch mit dem Schiedsrichter.
Ein alte Fußballer-Weisheit lautet: Ein Schiedsrichter, der nicht auffällt, hat gut gepfiffen. Legt man diesen Spruch zugrunde, dann haben Deutschlands Unparteiische eine katastrophale Saison hinter sich. Selten wurden ihre Leistungen so kontrovers und emotional diskutiert wie in den vergangenen Monaten. „Auf die Fresse“ gehöre dem Schiedsrichter, schwadronierte Mario Basler unlängst im ZDF-Sportstudio. Jens Lehmann, der Dortmunder Torhüter, schimpfte nach seinem Platzverweis im Spiel gegen die Bayern: „Michael Weiner ist der blindeste Schiedsrichter, den ich je hatte.“ Das Klima ist vergiftet – auch auf dem Platz. Bei jeder Aktion wird Foulspiel, Elfmeter oder Gelbe Karte gefordert. Stetes Lamentieren und Protestieren: die Entscheidungen des Unparteiischen unterliegen ständiger Kritik – nicht nur von Spielerseite. Achtmal wurden Trainer in der Hinrunde auf die Tribüne geschickt – ein neuer Bundesliga-Rekord.
„Je mehr Befugnisse die FIFA in die Hände der Unparteiischen legte, desto mehr schwand deren Autorität.“
Auch wenn sich die Situation zu Beginn der Rückrunde wieder beruhigt hat, die Autorität der Schiedsrichter ist ohne Frage stark beschädigt. „Dann müssen wir eben härter durchgreifen“, empfiehlt Manfred Amerell vom DFB-Schiedsrichterausschuss. Doch ob das hilft, die Lage langfristig zu beruhigen, muss stark bezweifelt werden. Jede Maßnahme, die das Regelwerk und den Strafkatalog verschärft, läuft vielmehr Gefahr, die gegenwärtige Situation noch weiter zu verschlimmern.
Verwarnungen für jede Kleinigkeit ...
Verantwortlich für die missliche Lage und für die endlosen Diskussionen über die Referee-Leistungen ist der Weltfußballverband FIFA. Die FIFA weitete in den vergangenen zehn Jahren den Strafkatalog permanent aus – mit verheerenden Konsequenzen. Je mehr Befugnisse die FIFA in die Hände der Unparteiischen legte, desto mehr schwand deren Autorität. Spieler werden mittlerweile für alle möglichen Kleinigkeiten verwarnt: Zeitspiel, Ballwegschlagen, absichtliches Handspiel, Schwalben, zu frühes Herauslaufen aus der Mauer, übermäßiges Jubeln usw. Die Profis werden im Grunde genommen wie kleine, ungezogene Kinder behandelt. Eine Gelbe Karte hier, eine Gelbe Karte dort: kein Wunder, dass sich die Spieler dagegen wehren. Dass das Fußball-Regelwerk inzwischen zu eng geknüpft ist, findet auch Bochums Trainer Peter Neururer. Die Einführung des vierten Schiedsrichters bezeichnet er als „Schwachsinn“. Bislang war der vierte Mann nur bei internationalen Spielen üblich. Seit Beginn der Rückrunde ist er auch in der Bundesliga im Einsatz. Seine Hauptaufgabe: die Emotionen am Rande beruhigen, insbesondere auf den Trainerbänken. „Wir Trainer“, beschwert sich Neururer, „brauchen keine Aufpasser.“
Ermessensspielraum? Fehlanzeige ...
Die Schiedsrichter sind angewiesen, das modifizierte Regelwerk strikt anzuwenden – ohne Wenn und Aber. Nur ein Beispiel aus der Hinrunde: Christian Beeck, Kapitän von Energie Cottbus, hatte seine Mannschaft gegen Arminia Bielefeld mit 2:0 in Führung gebracht und war dann im raschen Jubel auf einen Zaun gesprungen, um mit den Fans zu feiern. Für das Beklettern des Zauns wurde der schon verwarnte Beeck mit Gelb-Rot vom Platz gestellt. „Regeltechnisch“ sei dies eine Gelbe Karte, erklärte der Schiedsrichter Florian Meyer im Anschluss an die Partie. Und da Beeck schon Gelb hatte, habe es „keinen Ermessensspielraum“ gegeben.
Dass eine solche Regelauslegung bei den Spielern auf Unverständnis stößt, verwundert nicht. „Die Bundesliga-Schiedsrichter“, stellt Johan Micou, französischer Nationalspieler in Diensten von Werder Bremen, resignierend fest, „halten sich immer genau an die Regeln.“ Vergebens sucht man nach Typen wie zum Beispiel der „Schiedsrichter-Legende“ Wolf-Dieter Ahlenfelder. Bei den Spielern noch immer hoch angesehen, sah er in seiner Laufbahn als Unparteiischer das Regelbuch stets nur als Empfehlung und löste heikle Situationen zumeist mit viel Fingerspitzengefühl. Eine Gelbe oder Rote Karte – das war immer erst die letzte Option. Doch die Zeiten sind längst vorbei. Heutzutage hat man eher den Eindruck, als verstünden die DFB-Schiedsrichter das Regelwerk als die zehn von Gott in Stein gemeißelten Gebote: „Da blieb Florian Meyer keine Wahl“, so Oberschiedsrichter Volker Roth zum Beeck-Platzverweis, „egal, ob er die Regel gut oder schlecht findet.“
Mehr Spielraum für alle Beteiligten
Die Autorität der Schiedsrichter kann in Zukunft nur dann nachhaltig gestärkt werden, wenn das Fußball-Regelwerk wieder entzerrt wird. Die Ausdifferenzierung des Strafkatalogs muss wieder zurückgefahren werden. Sie hat sich als kontraproduktiv erwiesen. Stattdessen sollte allen Beteiligten ein Mehr an Bewegungsfreiheit eingeräumt werden. Das Klima zwischen Spielern, Trainern und Schiedsrichtern wird sich erst dann langfristig verbessern, wenn wieder ausreichend Spielraum für informelle, spontane und situationsgerechte Lösungen vorhanden ist.