20.06.2012
Fukushima: „Es gab keine Atomkatastrophe“
Interview mit Allison Wade
In einem Interview mit dem Novo-Autor Heinz Horeis klärt der Physiker und Strahlenexperten Wade Allison über die Folgen des Reaktorunfalls in Fukushima auf: Niemand ist durch den Unfall gestorben, niemand wurde durch Strahlung verletzt oder musste für lange Zeit ins Krankenhaus
Heinz Horeis: Vor kurzem haben die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen von atomarer Strahlung (UNSCEAR) jeweils eine Untersuchung zu den Folgen des Reaktorunfalls von Fukushima veröffentlicht. Bringen diese Studien gute oder schlechte Nachrichten?
Wade Allison: Gute Nachrichten. Sie bestätigen, was schon seit einiger Zeit offensichtlich ist: Niemand ist durch den Unfall gestorben; niemand wurde durch Strahlung verletzt oder musste für lange Zeit ins Krankenhaus.
Was ist mit den Spätfolgen? Häufig heißt es: Vielleicht gibt es jetzt keine Toten, aber es wird sie in der Zukunft geben.
Schauen wir uns dazu einmal an, was wir über Hiroshima und Nagasaki wissen. Da gibt es verlässliche und tragfähige Daten. Von 1950 bis 2000 hat man den Lebensweg von rund 6000 Menschen verfolgt, die Strahlung zwischen 100 und 200 milliSievert (mSv) erhalten haben. Viele dieser Menschen starben in diesem Zeitraum an Krebs, ebenso wie auch in anderen japanischen Städten. Allerdings lag die Rate der Krebstoten in Hiroshima und Nagasaki etwas höher, so dass, statistisch gesehen, ein Mensch von 150 an durch Strahlung verursachten Krebs gestorben ist. Was bedeutet diese Zahl für Fukushima? In Fukushima gibt es weniger als 150 Personen, die eine Strahlendosis im genannten Bereich erhalten haben. Überträgt man also den Wert ein zu 150 auf die Lage in Fukushima, sieht man unmittelbar, dass Spätfolgen in der großen Zahl von ohnehin auftreten Krebserkrankungen nicht sichtbar sein werden.
Das stimmt mit dem überein, was der Leiter der UNSCEAR-Studie, der US-amerikanische Nuklearmediziner Fred Mettler, sagte: Langzeitwirkungen werde man nicht feststellen können, da die Strahlung zu gering war.
Richtig. Hinzu kommt, dass sich in der Region Fukushima die Freisetzung von Strahlung über einen längeren Zeitraum erstreckte. Aus der medizinischen Strahlentherapie wissen wir, dass Strahlenschäden repariert werden, wenn sich die Belastung zeitlich verteilt. Der Körper ist viel schlauer als all das, was Kontrollgremien anordnen können.
Zu vergleichbaren Ergebnissen kommt auch eine neue Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT).
Ja. MIT-Wissenschaftler haben gerade ein Papier veröffentlicht, das für mich wichtiger als die Untersuchungen von WHO und UNSCEAR ist. Sie haben Mäuse fünf Wochen lang mit 105 mSv bestrahlten. Diese Dosis ist etwa 400mal größer als die natürliche Hintergrundstrahlung. Bei kurzzeitiger Bestrahlung mit dieser Dosis konnten die Wissenschaftler DNA-Schäden feststellen. Keine Schäden traten auf, wenn die Mäuse die Strahlendosis gleichmäßig über fünf Wochen verteilt erhielten. Die von den MIT-Forschern verwendete Strahlenbelastung entspricht, mit nur wenigen Prozent Abweichung, dem Wert, den ich in meinem Buch als sicheren Grenzwert vorgeschlagen habe. Ein Mangel des Experiments ist, dass es aus naheliegenden Gründen an Mäusen, nicht an Menschen durchgeführt wurde. Der Unterschied dürfte aber nur klein sein. Auch sollte man den Versuch mit einer größeren Zahl von Mäusen wiederholen. Dennoch, das Ergebnis legt nahe, dass es in Japan kein Strahlenproblem gibt. Und dass es nie eines gegeben hat. Das ist die gute Nachricht.
Ihre Ansicht steht in starkem Gegensatz zur öffentlichen Meinung. Fukushima – das bedeutet für viele Menschen die ultimative Atomkatastrophe. Kann man von einer Katastrophe sprechen?
Gewiss nicht. Es gab keine Atomkatastrophe. Vier Reaktoren haben sich selbst zerstört. Das ist ein sehr großer und sehr teurer Schaden, vergleichbar mit manchen Zerstörungen in der Ölindustrie. Aber es gab keine Strahlenkatastrophe in Fukushima; niemand ist gestorben. Allerdings gab es Angst, und die Angst vor Strahlung hat großen Schaden angerichtet.
Heute kehren Menschen in ausgewählte Gebiete der Sperrzone zurück. Ein richtiger Schritt?
Als das Kühlsystem im Kraftwerk Fukushima 1 am 11. März ausfiel, wusste niemand, wie schwer der Unfall werden würde. Deshalb war es richtig, die Menschen für ein paar Wochen zu evakuieren. Am 26. März schrieb ich in einem Artikel für den BBC World Service, dass die Bewohner zurückkehren sollten. Zu dem Zeitpunkt konnte man die Lage einschätzen. Die Reaktoren waren abgeschaltet und konnten nicht mehr kritisch werden. Damals hätten die evakuierten Menschen zurückkehren können. Um also Ihre Frage zu beantworten: Ja, es ist richtig, dass die evakuierten Bewohner jetzt zurückkehren. Aber damit hätte man schon viel früher beginnen sollen.
Fred Mettler sagte gegenüber der Zeitschrift Nature, dass man nicht zu sehr auf strikte Grenzwerte für Strahlung setzen solle. Vielmehr müsse man den Menschen sagen, „wie die Lage ist, was daraus folgt, und sie entscheiden lassen, ob sie das Risiko eingehen wollen.“
Das ist sehr vernünftig. So gehen wir mit anderen Lebensrisiken um. Man muss abwägen; Menschen müssen Entscheidungen über ihr Leben auf der Grundlage von Informationen treffen, nicht auf der Grundlage von väterlichen Anweisungen, dieses zu tun und jenes zu unterlassen. Was passierte am 11. März in Tohoku, als das große Erdbeben kam? In dem Gebiet, das der Tsunami überflutete, lebten 500.000 Menschen. 480.000 davon haben in den 30 bis 45 Minuten nach dem Beben das Gebiet verlassen und sich in Sicherheit gebracht. Japaner sind mit Erdbeben und Tsunamis vertraut und können entsprechend selbstverantwortlich handeln. Doch als das Kraftwerk Fukushima Strahlung freisetzte, fehlte ihnen das Wissen. Die Strahlung schädigte niemanden, doch selbst 15 Monate später treibt Angst die Menschen immer noch um. Immer noch sind die Kernkraftwerke abgeschaltet, mit schwerwiegenden Folgen für die Wirtschaft. In Deutschland ist es nicht besser.
Rechtfertigt Fukushima den Ausstieg aus der Kernenergie?
Absolut nicht. Bei fossilen Brennstoffen, da haben wir mit der Erwärmung ein globales Problem, auch wenn wir noch nicht alles darüber wissen. Wir wissen über Kernenergie mehr als über die globale Erwärmung, und beim Klima streitet man noch über den Ernst der Lage. Bei der Kernenergie hingegen gibt es wenig, worüber man streiten müsste. Die Fakten liegen auf dem Tisch. Der Mann auf der Straße hat leider entschieden, dass er diese nicht wissen möchte. Das ist gefährlich.
Welche Lehren können wir aus den Ereignissen von Fukushima ziehen?
Viele. Lehren, die die Sicherheit betreffen. Für den Ingenieur bedeutet das, wie kontrolliere ich einen Kernreaktor. Das ist eine schwerwiegende, teure Aufgabe, und immer mal wieder kann etwas schiefgehen. Eine gänzlich andere Geschichte sind die Auswirkungen von Strahlung auf das menschliche Leben. In Fukushima stellt Strahlung kein Gesundheitsproblem dar. Aber die Angst vor Strahlung hat sehr schlimme Auswirkungen auf das Leben der Menschen. Wir müssen deshalb viel mehr über Natur und Wirkung von Strahlung aufklären. Die meisten Menschen kennen Risiken und Nutzen eines Sonnenbades aus eigener Erfahrung. Sonnenlicht befördert die Produktion von Vitamin D und stärkt damit das menschliche Wohlbefinden. Zuviel Sonnenlicht, zu viel ionisierende UV-Strahlung, führt zu Hautschäden, die der Körper in wenigen Tagen repariert. Wiederholtes Zuviel an Sonne kann Jahre später zu Hautkrebs führen. Die meisten Menschen wissen das. Sie benutzen Schutzcreme und sind so vernünftig, in den ersten Urlaubstagen nicht zu lange in die Sonne zu gehen. Die Menschen haben gelernt, Risiko und Nutzen bei dieser Art von ionisierender Strahlung abzuwägen. Genau diese Haltung benötigt man, wenn es um andere Arten von ionisierender Strahlung wie etwa der Kernstrahlung geht. Die Gefährdung durch Kernstrahlung steht in einer Reihe mit anderen Gefahren für Leib und Leben. Wir leben in einer Welt voller Strahlung, wir leben in einer „atomaren“ Welt. Aus politisch-historischen Gründen darf darüber nicht nachgedacht werden. Dieses Nicht-Wissen führt ins Unglück, nicht die Strahlung.
Wenn es um atomare Dinge geht, neigen Menschen allerdings nicht zu rationalen Entscheidungen.
Deshalb heißt mein Buch Radiation and Reason, Strahlung und Vernunft. In England wollte niemand das Buch veröffentlichen, da das Thema den Menschen Angst macht. In Japan ist es erhältlich, und derzeit wird es ins Chinesische übersetzt.
Haben Sie Japan nach dem Tsunami besucht?
Ja, im vergangenen Herbst. Oberschullehrer aus Minamisooma, einer Stadt im Nordosten des evakuierten Gebiets, hatten mich eingeladen. Unter anderem arrangierten sie ein Treffen mit dem stellvertretenden Leiter des dortigen Krankenhauses. Er fuhr uns in einem Krankenwagen in das abgesperrte Gebiet. Wir sahen die Verwüstungen, die der Tsunami angerichtet hatte. Aber weiter entfernt von der Küste, selbst außerhalb des evakuierten Gebiets, sahen wir vernachlässigte Felder, geschlossene Geschäfte und Werkstätten und verlassene Häuser. Angst, nicht Strahlung, war dafür verantwortlich.
Hatten Sie auch Kontakt zu den dortigen Behörden?
Ich traf die Bürgermeister von Minamisooma und von Iitate. Das ist ein Dorf außerhalb des Sperrgebiets, wo die Strahlung über dem Normalwert liegt. Diese beiden wussten aus erster Hand, was es für alte Menschen, für die heimische Wirtschaft, für Schüler bedeutet, mit der Situation zurechtzukommen. Alte Menschen hatten Angst; Evakuierung kann für sie Tod bedeuten. Kleine Kinder leiden an Bettnässen, größere am Gefühl der Unsicherheit. Bei Erwachsenen sind es Depression und Alkoholismus, auch Selbstmord.
Derartige Folgen kennt man von Tschernobyl.
Ja, all das passierte auch in Tschernobyl. All das wurde in den internationalen Berichten veröffentlicht. Niemand hat daraus gelernt. Die derzeit herrschende Kultur atomarer Sicherheit ist grundsätzlich falsch. Sie war falsch in Tschernobyl, und die Fehler wurden in Fukushima wiederholt – mit tragischen Folgen für die Menschen und die Wirtschaft Japans.
Es gibt ein bekanntes Kippbild – die Rubinsche Vase. Auf den ersten Blick sieht man eine gezeichnete Vase; schaut man länger, klappt das Bild um und man sieht zwei Gesichter im Profil. Wenn man sich nun den Reaktorunfall von Fukushima genauer anschaut, sieht man keine Katastrophe mehr, sondern einen Beleg dafür, dass die Nutzung der Kernenergie, selbst wenn vieles falsch läuft, im Grunde nicht gefährlicher ist als viele andere Technologien, die wir nutzen.
Ja, ich stimme zu. Wir sollten unsere Augen reiben und genau hinschauen. Dann kippt das Bild. Ein schwerer Reaktorunfall setzt, ebenso wie der Bruch eines Staudamms, große Mengen an gespeicherter Energie frei. Aber selbst im schlimmsten vorstellbaren Fall, wie etwa Tschernobyl, wird die Zahl der Opfer gering bleiben. Wir sollten deshalb nach Fukushima die Welt nicht auf den Kopf stellen. Es gibt größere Probleme – soziale und ökonomische Stabilität, Klimawandel, Ernährung und Wasserversorgung. Die Japaner sollten ihre Kernkraftwerke genauso wenig abschalten wie die Deutschen.