12.12.2012

Friedensnobelpreis für die EU: „Unvorstellbar, aber nicht unmöglich“

Kommentar von Matthias Heitmann

Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union ist ein Schlag ins Gesicht all derer, die sich für Freiheit, Frieden und Demokratie auf dem Kontinent einsetzen. Aber gerade deshalb ist sie folgerichtig, meint Matthias Heitmann. Der Preis passt zur Preisträgerin

„Da ist das Ding!!!“ Nein, dieser Aufschrei wurde nicht laut, als EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy, Kommissionspräsident José Manuel Barroso und Parlamentspräsident Martin Schulz am 10. Dezember 2012 in Oslo den Friedensnobelpreis für die Europäische Union entgegennahmen. Van Rompuy beließ es bei den eher gedämpften Worten „Ich bin ein Europäer.“ Und auch wenn er sie in Anlehnung an John F. Kennedys historische Berlin-Rede auf Deutsch aussprach – krasser konnte der Gegensatz zu dem damals viele Hoffnungen weckenden US-Präsidenten kaum ausfallen. Sicherlich ist eine Friedensnobelpreis-Verleihung kein Ort der lauten, sondern der getragenen, verantwortungsschwangeren Töne. Doch fast konnte man den Eindruck haben, als dämpfte der offensichtliche Zynismus, der in der Verleihung des prestigeträchtigen Preises an die Europäische Union liegt, die Töne noch zusätzlich. Vielleicht entsprach es aber auch einfach der gänzlich fehlenden Ausstrahlung der Hauptdarsteller, dass die Aussage „Ich bin ein Europäer“ in etwa so blutleer wirkte, wie sie heute tatsächlich ist. Blutleer – man könnte aber auch sagen: blutig.

Als blutig könnte man auch die Konsequenzen beschreiben, die das Lebenswerk des Preisstifters, Alfred Nobel (1833 – 1896), nach sich zieht. Der einst auch als „Händler des Todes“ bekannte Schwede war ursprünglich Chemiker und Erfinder und stammte aus einer sehr reichen Familie, deren Reichtum vor allen Dingen auf der von seinem Vater Immanuel Nobel betriebenen Herstellung von Minen für den Krimkrieg und den amerikanischen Bürgerkrieg gründete. Alfred Nobels Entwicklung des rauchschwachen Pulvers Ballistit, die eine Weiterentwicklung der Sprenglatine darstellte und das klassische Schwarzpulver ersetzen sollte, revolutionierte die damalige Schusstechnik – und damit auch die Kriegsführung. Dies nicht zufällig, sondern bewusst: Nobel vertrat die Ansicht, besonders starke und schreckliche Vernichtungswaffen würden Kriege unmöglich machen. Diesem Ziel widmete er seine Arbeit: Ende des 19. Jahrhunderts besaß Nobel mehrere Waffen- und Munitionsfabriken, was ihn jedoch nicht daran hinderte, sich als Kriegshasser zu gerieren – ein Ruf, der dem erbenlosen Multimillionär und Stifter des Friedensnobelpreises bis heute anhängt. Ähnliches gilt für sein Heimatland: Schweden präsentiert sich gern als neutraler Friedensstifter, ist aber tatsächlich der neuntgrößte Waffenexporteur der Welt. Gemessen an seiner Einwohnerzahl ist das „Land des Nobelpreises“ in dieser Hinsicht sogar Weltspitze.

Diese Zwiespältigkeit – der erklärte „Pazifismus“ einerseits und die praktizierte Nähe zu den Mächtigen der Welt andererseits – prägt die seit 1901 andauernde und immer wieder kontrovers diskutierte Geschichte der Friedensnobelpreisverleihungen. Neben Persönlichkeiten wie Gandhi, dem Dalai Lama, Mutter Teresa, Desmond Tutu oder Nelson Mandela, denen heute von vielen fast ein Heiligenstatus zugesprochen wird, wurde der Preis traditionell auch immer wieder an überaus mächtige und kriegerische Staatslenker oder Vertreter internationaler Organisationen verliehen. Als der frühere US-Präsidentenberater für Außen- und Sicherheitsfragen und US-Außenminister Henry Kissinger 1973 den Preis für das Aushandeln eines Friedensabkommens zwischen den USA und Vietnam erhielt, hatte er in der Weltgeschichte bereits eine blutige Spur hinterlassen. 1988 wurde mit den Friedenstruppen der Vereinten Nationen sogar eine ganze Armee ausgezeichnet.

Wie unverhohlen politisch motiviert die Preisverleihung ist und seit jeher war, zeigt ein Blick in die Liste der Preisträger. Allein seit der Jahrtausendwende erhielten mit der Uno und ihrem damaligen Generalsekretär Kofi Annan (2001), dem ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter (2002), der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO, 2005), dem früheren US-Vizepräsidenten und heutigem Klimaschutz-Papst Al Gore und dem Weltklimarat (IPCC, 2007), dem früheren UN- und EU-Gesandten und finnischen Präsidenten Martti Ahtisaari (2008) und dem damals erst wenige Monate im Amt befindlichen US-Präsidenten Barack Obama (2009) zahlreiche Mitglieder der machtpolitischen Weltelite die moralische Unantastbarkeit ausstrahlende Auszeichnung. Die politische Dimension des Nobelpreises schreit zum Himmel: Der Preis hat weniger mit einer tatsächlichen Friedenspolitik zu tun als vielmehr mit der Verehrung der vermeintlich guten Großen der bestehenden internationalen Ordnung. Insofern war die Verleihung des Preises an die Europäische Union eigentlich keine Überraschung.

Auch dass die Verleihung des Preises gerade während der tiefsten und fundamentalsten Krise Europas erfolgt, ist ein politisches Signal – jedoch keines, das die Anhänger von Frieden, Freiheit und Demokratie glücklich stimmen sollte. Im Gegenteil: Den explizit demokratische Mitbestimmung der europäischen Bürger verhindernden und sich gegen jede Kontrolle abschottenden Machtapparat der europäischen Herrschaftseliten durch die Verleihung des Friedensnobelpreises für sakrosankt erklären zu wollen, ist ein Schlag in das Gesicht der Freiheit. Daran ändert auch der Verweis auf die historische Leistung der Befriedung des Kontinents durch die EU und ihre Vorgängerorganisation nichts. Tatsächlich gehört der angeblich durch sie geschaffene „Kontinent des Friedens“ zu den Gründungsmythen von EG und EU. Doch selbst dieser scheint zu verwittern:  Bei der Preisverleihung in Oslo sagte Van Rompuy, Krieg sei heute in Europa „unvorstellbar, aber nicht unmöglich“. Die Aufgabe bestehe nun darin, „Frieden zu bewahren, wo schon Frieden herrsche“. Angesichts der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Probleme Europas ist dies eine eher ernüchternde Botschaft.

Ernüchternde Botschaften waren jedoch seit jeher das Kerngeschäft des Brüsseler Apparates: Die zentrale Funktion des europäischen Einigungsprozesses war neben der Einbindung (West-)Deutschlands vor allem die Entwicklung eines von demokratischen Einflüssen möglichst unbehelligten Regierungsrefugiums für ermattete nationale Nachkriegseliten, denen auf heimischem politischem Terrain nicht selten das Rückgrat und die inhaltliche Stärke fehlte, sich demokratisch zu behaupten. Er war zudem der Versuch, den Traum von einem einigen und friedlichen Europa als neue Basis des eigenen politischen Überlebens zu nutzen und ihn in einen von den Menschen abgehobenen und diese bevormundenden Albtraum zu verwandeln.

In ihrer Feindseligkeit gegenüber ihren mündigen Bürgern und ihren ängstlichen Versuchen, nationale Zwistigkeiten unter Ausschluss einer aktiv teilnehmenden politischen Öffentlichkeit hinter verschlossenen Brüsseler Türen auszuhandeln, zeigt die EU ihr wahres Gesicht. Ihr gebührt kein ernstzunehmender Preis, schon gar nicht einer, der mit Frieden, Freiheit und Demokratie verbunden werden kann. Wenn EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso in Oslo „die föderale und kosmopolitische Vision“ der EU als einen der wichtigsten Beiträge zur entstehenden Weltordnung bezeichnet, so ist dies an Zynismus kaum zu übertreffen. Aber vielleicht ist gerade deshalb der Friedensnobelpreis der richtige.

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