25.11.2013

Freiheit: Wie viel Boden braucht die Zukunft?

Von Hartmut Schönherr

Der Kulturwissenschaftler Hartmut Schönherr analysiert, wie sich unsere Vorstellungen über den „Boden“ historisch gewandelt haben. Seit einigen Jahren rücken Landflächen und öffentliche Räume in den Fokus als hart umkämpfte Ressourcen, die auch für Freiheitsansprüche relevant sind

Land-Grabbing in den „Ländern des Südens“ für Export-Lebensmittel, steigende Ackerpreise in den „Ländern des Nordens“ dank Biogasanlagen und Biokraftstoffen, ungebremster Flächenverbrauch für Verkehr und Städtebau trotz Nachhaltigkeitsbekenntnissen – das Boden-Thema treibt aktuell einige wichtige Diskurse an. Dabei erlebt die Kategorie „Boden“ eine neue Bedeutungsaufladung, die seltsam anachronistisch anmutet. Das 20. Jahrhundert galt als Epoche der Beschleunigung, der Präferenz von Information über Material, der Zeit-Dominanz in Herrschaftssystemen (Virilios „Dromokratie“), der Ausdehnung von Städten weg von der Fläche in die Höhe. Alles passé?

Freier Boden

Schotten und Katalanen wollen 2014 über ihren eigenen Staat entscheiden. Und dabei geht es nicht nur um Fahnen und Hymnen und Staatsbanken und politische Posten. Es geht auch um ein ab- und angemessenes Stück auf der Landkarte. „Pakt für die Freiheit“ nennen die im katalanischen Regionalparlament dominierenden Parteien CiU und ERC ihr Projekt. Wie aber steht es um das Verhältnis von Boden und Freiheit?

Historisch erschien Freiheit zunächst als Gegensatz zu Sklaverei/Leibeigenschaft (s. Altes Testament, Leviticus 19:20) – war also an die Verfügung über den eigenen Körper und dessen Aufenthalt gebunden. In der Antike war die Zugehörigkeit zur Polis und deren Freiheitsrechten über die Person definiert, nicht über das Territorium. In Platons Staatsutopie der „Politeia“ verfügte nur der „Nährstand“ über Grundbesitz, die „Wächter/Soldaten/Polizisten“ und die „Leiter/Philosophen/Lehrer“ hatten keinen eigenen Boden, kein eigenes Haus, lebten vielmehr „öffentlich“. Dieses Verhältnis kehrte sich im christlichen Mittelalter um, sinnfällig geworden im Ausspruch „Stadtluft macht frei“ – wobei dahinter das Gegenbild der Leibeigenschaft mit ihrer „Schollenbindung“ (entstanden in der Spätantike) stand. Ein Unfreier, der sich mehr als ein Jahr („seit Jahr und Tag“) in einem umfriedeten Stadtbereich aufhielt, wurde frei und konnte von seinem ehemaligen Dienstherren nur noch in einem aufwendigen Prozedere zurückgefordert werden. Mit Buchdruck und bürgerlicher Liberalität wurde der Gehalt des Freiheitsbegriffs teilweise verschoben in Bereiche größerer Abstraktheit, bis hin zur redensartlich gewordenen Sparvariante „Die Gedanken sind frei“. Dennoch war es gerade das Bürgertum, das für Freiheit konkrete Aufweise forderte, Eigentum an Grund und Boden etwa – heute breitenwirksam im Wunsch nach Eigentumswohnung oder Einfamilienhaus.

„Es war das Bürgertum, das für Freiheit konkrete Aufweise forderte, Eigentum an Grund und Boden etwa – heute breitenwirksam im Wunsch nach Eigentumswohnung oder Einfamilienhaus.“

Eine wissensbasierte Informationsgesellschaft benötigt, so der erste Verdacht, Räume nicht mehr zur Verankerung von Freiheitsansprüchen. Ein Internetanschluss genügt und schon ist Freiheit lebbar, steht die Rückkehr zur Polis den Personen, nicht den Grundbesitzern offen. Dem gegenüber steht die Erfahrung, dass Privatsphäre bis in den Bereich der eigenen Wohnung hinein nicht nur durch innenministerielle Datensammler, sondern auch durch Reglementierungen des Privatlebens zunehmend problematisch „veröffentlicht“ wird, dass andererseits öffentlicher Raum der Bürgernutzung entzogen wird. Darüber hinaus rückt Raum, nun im weiteren Sinn als Landfläche, seit einigen Jahren in den Fokus als hart umkämpfte Ressource, die auch für Freiheitsansprüche relevant ist. So etwa für die Bürgerschaft von Madagaskar, die sich 2008 gegen die Verpachtung von etwa der Hälfte der Landwirtschaftsfläche des Landes auf 99 Jahre an einen südkoreanischen Investor wendete.

Auf freiem Grund

„Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn“ möchte Faust am Ende des zweiten Teils der Goetheschen Tragödie (Vers 11580), kurz vor seinem Tod. Das ist aus dem Geiste der Nationalstaatenbildung gesprochen und löst eine feudale Raumkonzeption ab, die Grund und Boden als Lehen – und damit analog etwa zu heutigen millionenschweren Bonuszahlungen an Banker begriff. Die Nationalstaatenbildung knüpfte an vorfeudale Verfügungsverhältnisse an, die zumindest teilweise vom Gedanken der Allmend, des genossenschaftlichen Gemeinbesitzes, geprägt waren. Der Nationalstaat, so die Idee, gehört allen - Honeckers DDR hat diesen Gedanken sehr am „Faust“ geschätzt.

Insofern könnte behauptet werden, multinationale Konzerne, die sich riesiger Landflächen zur Nahrungsmittel-, Papier- oder Energieproduktion bemächtigen, leisteten einen Beitrag zur Auflösung nationalstaatlicher Egoismen – und könnten damit als fortschrittlich verstanden werden. Ein höchst zweischneidiger Fortschritt indes, da Land nicht abstrakt dem Nationalstaat, sondern konkreten Landnutzern genommen wird – wie etwa im Falle von „Asia Pulp and Paper“ in Sumatra, den Fred Pearce in „Land Grabbing“ beschreibt. [1] Nur eine globalisierte Politik könnte dem so drohenden Diktat monopolistischer Egoismen etwas entgegenhalten. Dass es allerdings unter verantwortungsvoller Geschäftsführung auch zu positiven Entwicklungen kommen kann, hat Fred Pearce in seinem vorwiegend skeptischen Werk durchaus auch mit berücksichtigt. [2]

Daseinsfürsorge

Gerne wird „Land Grabbing“ begründet mit der Aufgabe von Regierungen, ihre Bevölkerung im Rahmen der „Daseinsfürsorge“ zu ernähren. Nichterfüllung, siehe Französische Revolution aber auch Teile des „arabischen Frühlings“, kann für Regierungen existenzbedrohend werden. Doch wie weit ist es noch her mit Daseinsfürsorge über Ackerland in modernen Industriestaaten wie Deutschland? Das Gerede im Nationalsozialismus vom „Nährstand“ der Bauern und vom „Lebensraum im Osten“, etwa auf ukrainischer Schwarzerde, hat solche Vorstellungen hierzulande nachdrücklich diskreditiert. Nur noch Parteien wie die deutschen Republikaner können, geschehen im Bundestagswahlkampf 2013, werben mit Sprüchen wie „Lebt der Bauer, lebt das Land“. Inzwischen hat aber auch die normative Kraft des Faktischen ihre sachliche Begründung geschwächt. Denn gemessen an den Zahlungen öffentlicher Gelder, die an die Landwirtschaft gehen, wird ihr effektiver Beitrag zur Ernährung in Deutschland zum Nullsummenspiel.

Die deutsche Landwirtschaft trägt weniger als 1% zur Bruttowertschöpfung in Deutschland bei. [3] Dem stehen 5,4 Milliarden alleine aus den EU-Agrarfonds gegenüber, die an die deutsche Landwirtschaft 2012 gingen. Wovon ein Großteil allerdings nicht Landwirte erreichte, sondern die öffentliche Hand (an der Spitze das Landesumweltamt Brandenburg mit 28 Millionen Euro) oder private Firmen wie etwa die Emsland Stärke GmbH mit 7,6 Millionen Euro. [4] Dazu kommen noch als öffentliche Leistungen Steuervergünstigungen, EEG-Zahlungen für energiepolitisch irrelevante und ökologisch problematische Biogasanlagen, Unterstützungen bei Ernteausfällen, Ausgleichszahlungen für trinkwasserschonende Bewirtschaftung und Ähnliches. Ferner Folgekosten für die öffentliche Hand durch Trinkwasserbelastungen, Belastungen der Oberflächengewässer, Gesundheitskosten durch allergene Pestizide und anderes.

„In modernen Industriestaaten wie Deutschland braucht man den Bauern nicht mehr wirklich zur Ernährung der Bevölkerung.“

Daraus ergibt sich: In modernen Industriestaaten wie Deutschland braucht man den Bauern nicht mehr wirklich zur Ernährung der Bevölkerung. Man könnte mit den offenen und verdeckten oder indirekten Landwirtschaftssubventionen die produzierten Lebensmittel durchaus auch im Ausland einkaufen. Allerdings ist ein solches Konzept krisenanfällig und nicht nur sozialpolitisch problematisch. Und es ist ein Graus für Physiokraten, die nicht nur im Bauernverband noch starken Rückhalt haben. [5]Faktisch erscheint jedoch mit Blick auf die Ertrags- und Kostenzahlen die Rolle der Landwirtschaft in Deutschland als Anachronismus.

Rückkehr der Fläche

Neuzeitlich war der Bedeutungsverlust der Fläche in Mitteleuropa jedoch nicht gebunden an effizientere oder ausgelagerte Lebensmittelproduktion, sondern an die Erschließung neuer Energieträger. Bis ins 19. Jahrhundert hinein kam Energie primär aus der Nutzung von Wald, komplementiert je nach regionalen Gegebenheiten durch Wasserkraft und/oder Windkraft. In Österreich wurden nach Rolf Sieferle zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch mehr als 30% der Landesfläche zur Gewinnung von Primärenergie eingesetzt. [6] Mit der breiten Erschließung von Kohlevorkommen und neuen Verhüttungstechniken ging dieses Kapitel der Wald- und Bodennutzung zu Ende. Die frei gewordenen Flächen wurden für Siedlungszwecke oder nahrungsmittelorientierte Landwirtschaft umgenutzt oder zu Dauerwald, den dann die neurasthenisch werdenden Stadtbewohner für sich als Refugium entdeckten. Damit wurde Fläche auch ästhetisch relevant für Freiheitsansprüche, zumindest für Schichten mit „Frei-Zeit“. Die – dies ganz ohne Ironie gemeint – Freiheit zur Sommerfrische und zum temporären Abschied von der verrußten und verlärmten Stadtluft komplementierte nun den weiterhin gültigen sozialen und politischen Freiheitsgewinn, den die Stadt – wenn auch nicht allen Bürgern – bieten konnte.

Aktuell sind wir in einer Phase neuen Bedeutungszuwachses für die Fläche, in einem historisch nicht dagewesenen Maße. Und vordergründig scheint auch eine neue Energiepolitik Ursache zu sein, die immense Flächen beansprucht. Was jedoch bei genauerer Betrachtung sich als Trugbild erweist. Etwa ein Drittel der Ackerflächen weltweit werden für die Fleischproduktion beansprucht. Für Energiepflanzen (sei es für Kraftwerke/Biogasanlagen, sei es für Biodiesel u.ä.) wurden 2011 nach Schätzungen des Bauernverbandes weltweit 45 Millionen Hektar beansprucht – das sind lediglich 3% der Ackerfläche. [7] In Deutschland betrug 2010 die Flächenbeanspruchung für Energiepflanzen allerdings 18% – mit steigender Tendenz. [8] Ein Skandalon, für welches entgegen gängiger Meinung nicht „die Grünen“ oder „die Ökologen“ verantwortlich sind, sondern primär die Lobbyarbeit des deutschen Bauernverbandes. Die Partei der Grünen propagiert längst in Bundesländern, wo sie an der Regierung beteiligt ist, die Abkehr von der Förderung energiepolitisch und ökologisch kontraproduktiver Biogasanlagen und die Förderung von Windkraft, die auf einem Bruchteil der Fläche effektiver Strom erzeugt. [9] Eine Untersuchung zu den Gründen der industriellen Modernisierung im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts von Kenneth Pommeranz [10] ergab, dass eine wesentliche Basis die Auslagerung flächenintensiver land- und forstwirtschaftlicher Produktion in andere Länder war. Die Bioenergie-Lobby in Deutschland ist dabei, hier das Rad zurückzudrehen. Die bezogen auf Deutschland grotesk flächenintensive Energieproduktion über Biomasse läuft – gewollt oder ungewollt – auf eine Stärkung agrarstaatlicher Strukturen hinaus. Dies gilt vorläufig auch noch für die Verarbeitung von biogenen Abfallstoffen. [11]

„Grund- und bodenlose Intellektuelle und verlustgeängstigte Mittelschichtler sollten sich rechtzeitig um einen Platz in einer Voyager-Mission bemühen, denn erschwinglicher Boden hierzulande könnte bald vergeben sein.“

Neofeudal

Mit der Bedeutung der Fläche kehrt auch die Bedeutung des „Landlords“ wieder. Viele haben es schon prophezeit, etwa der „Manufactum“-Gründer Thomas Hoof: Das 21. Jahrhundert gehört (wieder) den Grundbesitzern. Grund- und bodenlose Intellektuelle und verlustgeängstigte Mittelschichtler, die sich von Gerhard Schröder & Co. zu volatilen Aktienbesitzern haben machen lassen, sollten sich rechtzeitig um einen Platz in einer Voyager-Mission bemühen, denn erschwinglicher Boden hierzulande könnte bald vergeben sein. Oder aber sie besinnen sich darauf, den öffentlichen Grund zu verteidigen und das, was persönliche Freiheit wirklich ausmacht: Selbstbestimmung. Und die ist auch bei 100 Hektar „eigenem“ Grund nicht von selbst gegeben.

„Die Privatisierung riesiger Landgebiete in Südafrika mit der Zielrichtung Naturschutz nahm koloniale Züge an.“

Eine besondere Variante des „Land Grabbing“ ist die unter anderem vom naturfreundlichen Hochadel um Prinz Bernhard der Niederlande gepflegte Einrichtung von Naturparks auf privatem Großgrundbesitz. Fred Pearce hat sich der Aktivitäten des WWF in Südafrika angenommen und gezeigt, wie hier die Privatisierung riesiger Landgebiete in Südafrika mit der Zielrichtung Naturschutz (Pearce spricht von „Grünem Landraub“) koloniale Züge annahm. [12]

Dem gegenüber muten die „kleinen Fluchten“ Berliner Neu-Kleingärtner, die sich etwa auf Berlin-Tempelhof ausbreiten oder Baumscheiben auf den Straßen des Kiez zu Kleinstgärten machen, wie das sympathische Korrektiv zu einer Landnahme an, die die Fläche des Planeten neu aufteilt und dabei – nicht immer zum Nachteil der Betroffenen – in großem Stil überkommene Landbau- und Landnutzungskulturen zerstört. Im „Urban gardening“ anderer Metropolen, etwa Detroit, hat dieses Korrektiv durchaus auch ökonomische Relevanz und hilft, am unteren Ende der Einkommensskala elementare Ansprüche auf mehr als die Versorgung mit Kohlehydraten, Fetten und Eiweiß zu sichern. Globale Ernährungsprobleme sind damit nicht zu lösen – aber auch die Freiheit zur selbstbestimmten Ernährung hat viele Gesichter.

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