14.10.2013
Das Individuum bringt’s
Von Brendan O’Neill
Der staatlich verordnete Konformismus hält den Individualismus für asozial. Tatsächlich stärkt autonome Selbstbestimmung jedoch die moralische Persönlichkeit und damit auch die Gemeinschaft, meint der Chefredakteur des britischen Novo-Partnermagazins Spiked, Brendan O’Neill.
Die amüsanteste Szene aus Monty Pythons Leben des Brian ist jene, in der die heilssuchenden Anhänger sich vor Brians Haustür versammeln. Sie halten ihn für den Messias und hoffen, er möge ihnen offenbaren, wie sie zu leben haben. Stattdessen ruft Brian jeden Einzelnen zum eigenständigen Denken auf, denn sie seien ja „alle Individuen“. Daraufhin stimmt das Volk mechanisch an: „Wir sind alle Individuen“. Nur ein einziger Individualist lässt ein zaghaftes „Ich nicht.“ verlauten, wird aber von der denkfaulen Meute rasch zum Schweigen gebracht.
In Anbetracht der politischen Diskussion rund um den Individualismus fühle ich mich oft wie dieser normwidrige Sonderling aus dem Leben des Brian. Heute verkünden uns Politiker, Denker und Schriftsteller pessimistisch, Individuen seien wir lediglich zu unserem Nachteil und unser Leben sei durch einen „Kult des Individuums“ geprägt. Dieser Kult habe den Wert der Gemeinschaft verdrängt und zu einer säkularen Ersatzreligion der Selbstzufriedenheit geführt. Am liebsten würde ich rufen: „Nein, das stimmt so nicht! Leider sind wir keineswegs alle Individuen.“ Tatsächlich war der Individualismus, also die Ausübung individueller Autonomie und unabhängigen Denkens, nie so gebrechlich wie heute. Das ist eine Tragödie. Unsere Gesellschaft ist ganz und gar nicht vom Individualismus beseelt, sondern vielmehr allen Individualismus beraubt.
Die Überzeugung, dass Individualismus weit verbreitet und destruktiv ist, verbindet Politiker verschiedener Gesinnungen. Von rechts gibt etwa der konservative britische Premierminister David Cameron zu bedenken, dass der Egoismus und der Individualismus „die großen Plagen unseres Zeitalters“ seien. Und die linke Labour Party propagiert die Thesen von Michael Sandel. Sandel ist Professor, Autor und Fellow der American Academy of Arts and Sciences, wendet sich vor allem gegen die im Westen vermeintlich bestehende Vergötterung eines aggressiven Individualismus. Sandel wettert gegen das „unbekümmerte Selbst“ unserer Epoche. Er kritisiert die individualistische Prämisse, das Individuum müsse seinen „eigenen Werten und Zielen folgen“ können, ohne dabei vom Staat oder sonstigen Weltverbesserern kontrolliert zu werden. Besser sei es, wenn das Selbst durch die Werte der „Besseren“ bestimmt würde.
„Unsere Gesellschaft ist keineswegs vom Individualismus beseelt, sondern vielmehr allen Individualismus beraubt.“
Der britische Linkspolitiker Owen Jones beklagt den „rauen Individualismus“ unserer Zeit, in dem „ein Hund den anderen frisst“. Diese Einstellung wird laut Owen mittlerweile auch von Arbeiterklasse übernommen, die nunmehr vom sozialen Aufstieg besessen sei. Und rechts außen ringt Nick Griffin – Vorsitzender der British National Party – verzweifelt die Hände über den „wurzellosen Individualismus“ des modernen Großbritannien. Seiner Ansicht nach wird die „Identität der Gemeinschaft“ zunehmend dadurch geschwächt, dass wir alle mittlerweile nur noch „eigennützige Konsumenten“ und der von Griffin so genannten „Coca-Cola-Kultur“ hörig sind.
Das Wettern gegen den Materialismus geht oft mit dem Jammern über einen Individualismus-Kult einher. Angeblich interessiert sich die breite Bevölkerung heute nur noch für die Befriedigung ihrer materiellen Gelüste. Dass jede politische Gruppierung – von rebellischen Linken bis hin zu den Unsinn verbreitenden Neo-Faschisten – die Abneigung gegen den Individualismus teilt, ist ein beunruhigendes Zeichen gedankenlosen Herdenverhaltens. Die einheitliche Sichtweise zeugt davon, dass die Kultur des Individualismus ihrer wichtigsten Grundelementen beraubt ist: Es fehlen die Exzentrizität des Denkens und die Bereitschaft, dominante Ansichten zu hinterfragen. Und schon wieder sehen wir Das Leben des Brian in der realen Welt wiederholt. In Wirklichkeit glänzt das risikofreudige, eigenständige und sich selbst behauptende Individuum – einst das Herzstück der Freien Welt – nur noch durch seine Abwesenheit. Wenn wahrer Individualismus für eigenwilliges und autonomes Handeln steht, so dass er immer auch eine gewisse Distanz gegenüber dem in der Gruppe vorherrschenden Denken voraussetzt, dann haben wir heute zweifellos eine Krise des Individualismus.
„Wenn wahrer Individualismus für eigenwilliges und autonomes Handeln steht, dann haben wir heute zweifellos eine Krise des Individualismus.“
Tatsächlich sind wir weit davon entfernt, das Individuum Wert zu schätzen. Individuelles Handeln wird ununterbrochen reguliert und mit unnötiger Bürokratie belastet. Abweichende Gedanken werden unterdrückt. Ein erheblicher Anteil der politischen Energie wird heute in die Minderung individueller Autonomiefähigkeit gesteckt. Wir werden zunehmend vom Staat gegängelt und bevormundet. Diese modernen Formen des Autoritarismus sprechen dem Bürger die Fähigkeit zu guten und sinnvollen Entscheidungen ab. Eine regelrechte Bevormundungsindustrie ist entstanden, so etwa das von der aktuellen britischen Regierung gegründete Behavioural Insight Team. Ziel dieses an Orwell gemahnenden Teams ist es, die Individuen restlos vor dem vermeintlichen Stress wichtiger Lebensentscheidungen zu bewahren. Sie beeinflussen die von ihnen so genannte gesellschaftliche „Architektur der Wahl“ – also das Möglichkeitsumfeld, in dem wir entscheiden, wie wir unser Leben organisieren wollen – und machen die Selbstbestimmung damit zu einem Phänomen der Vergangenheit. So hieß es bereits in einer beunruhigenden und an Science Fiction erinnernden Regierungspublikation mit dem Titel Mindspace: Influencing Behaviour Through Public Policy, die Regierung solle zum „Surrogat der Willenskraft“ der Bevölkerung werden. Sie solle ihre Willenskraft in unserem Sinne verwenden, um für uns Entscheidungen zu treffen. Diese beängstigende Idee steht jeglichem Individualismus diametral entgegen.
Im Großen und Ganzen sind die neuen Ideologien unseres Zeitalters der Idee des Individualismus auffällig feindlich gesinnt. Sie sprechen den Individuen ab, dass sie in der Lage sind, ihren eigenen Willen zu vertreten, um ihren Charakter zu festigen und ihr Schicksal selbst zu bestimmen. Der Vormarsch der Neuropolitik – die der Philosoph Raymond Tallis auch „Neuro-Schwachsinn“ nennt – bekräftigt diesen Glauben. Die Neuropolitik besagt, dass alles genetisch festgelegt ist. Von der sexuellen Orientierung bis hin zur politischen Gesinnung sei alles nur eine Begleiterscheinung der zufälligen Beschaffenheit des Gehirns und keineswegs etwas, das wir selbst wählen, kultivieren oder bestimmen können. Neue Suchttheorien behaupten, Individuen können von allem abhängig werden, ganz gleich, ob es sich hierbei um Kuhmilch oder Teleshopping handelt. Auch in ihrer Theorie kann das Individuum keine eigenen Entscheidungen durchsetzen. Der Mensch gleiche vielmehr einer Amöbe in der Petrischale, die von allerlei externen Kräften modifiziert wird, auf die es selbst keinerlei Einfluss hat. Und die Theorie, der weitere Lebensweg eines Kindes werde bereits durch die Erfahrungen in den ersten fünf Lebensjahren weitgehend vorgezeichnet, rehabilitiert die vormoderne Idee des Schicksals. Wenn wir dieser Idee Glauben schenken, ist unsere Zukunft von unserer Vergangenheit vorbestimmt. Wir könnten auf unser Schicksal weder durch unsere Denkprozesse noch durch unsere Aktionen Einfluss nehmen.
„Die Individuen verstehen sich selbst nur noch als Beobachter und nicht mehr als Gestalter der Gesellschaft.“
Individuelle Instinkte sollen unterdrückt werden. Risikofreude ist verpönt und zupackende Helden gelten als altmodisch. So erklärt sich auch teilweise, wieso immer öfter in der Öffentlichkeit Gewaltverbrechen stattfinden können, ohne dass jemand eingreift. Solcherart Passivität zeugt keineswegs von einem Kult des Individualismus, sondern vielmehr von einer Ära der kastrierten Individuen, die sich selbst nur noch als Beobachter und nicht mehr als Gestalter der Gesellschaft verstehen.
Die moderne Gesellschaft steht auch der Äußerung individueller Ansichten feindselig gegenüber. Wir haben das unabhängige Denken pathologisiert und stattdessen die alte Taktik der Sowjetunion übernommen, unkonventionelle Gedanken als geisteskrank abzustempeln. Daher auch der zunehmende Gebrauch des Worts Phobie (irrationale Angst), um intellektuelle Dissidenten zu brandmarken. Du hasst Brüssel? Du bist ein Europhobiker. Du weißt nicht, was du von der Homoehe halten sollst? Du hast eine Homophobie. Du hältst den Islam nicht für die beste Erfindung seit geschnittenem Brot? Du bist islamophob.
Einige sehen in Twitter den unzweifelhaften Beweis für eine beängstigend individualistische Gesellschaft. Twitter basiere auf einem Morast von Stubenhockern, die sich in ihren Beiträgen zwar unablässig über sich selbst und ihre persönlichen Ansichten verbreiten, zugleich aber doch niemanden direkt ansprechen. Tatsächlich zeugt aber auch Twitter vielmehr von der Auszehrung des Individualismus: Wer sich in diesem Forum gewagt oder ungehörig äußert, sieht sich sofort mit einer Meute wildgewordener Wachhunde konfrontiert, die ihn nötigen möchte, die eigene Äußerung zu revidieren und sich zukünftig anzupassen.
Das Individuum wird von allen Seiten angegriffen. Die Rechte fürchtet den Individualismus, weil sie denkt, er mache die Menschen zu unverantwortlichen Individuen, die nur an sich selbst und nicht an ihre Mitmenschen denken. Die Linken hassen ihn, weil sie meinen, er untergrabe die soziale Solidarität und die gesellschaftliche Rücksichtnahme. Beide irren sich gewaltig.
„Der Mensch kann sich nur durch seinen Freiheitsstatus und seine Autonomie und Selbstbestimmung zu einer moralisch verantwortlichen Persönlichkeit entfalten.“
Tatsächlich fördert der Individualismus keineswegs verantwortungsloses Verhalten, wie seine Kritiker meinen, sondern vielmehr steigert er das moralische Bewusstsein und den reflektierten Umgang mit anderen. Entsprechend bemerkte schon der große liberale Vordenker John Stuart Mill, der Mensch könne sich nur durch seinen Freiheitsstatus und die Gewährleistung seiner Autonomie und Selbstbestimmung zu einer komplett abgerundeten, moralisch verantwortlichen Persönlichkeit entfalten. Schließlich werden „Eigenschaften der Wahrnehmung, des Urteils, des Unterscheidungsvermögens, der geistigen Strebsamkeit und selbst die sittlichen Neigungen“ letztendlich „nur geübt, wo man seine eigene Wahl trifft.“
Ein Individuum, dem man die Freiheit verwehrt, seinen Lebensweg selbst zu gestalten, und dem man verweigert, sich nach eigenem Gutdünken zu äußern und zu handeln, ist nichts weiter als ein „affenähnlicher Imitator“ dessen, was andere für „richtig“ erklären.
Den Linken unterläuft ein Denkfehler, wenn sie im Individualismus das Ende der sozialen Bindungen sehen. Auch hier ist Mill instruktiv. Er behauptete, dass die Gesellschaft an sich davon profitiert, wenn der individuellen Autonomie keine Grenzen gesetzt sind. Mill verwies darauf, dass „die Stärke der Empfänglichkeit, die unseren Antrieben Lebendigkeit und Kraft verleiht“ zugleich die Quelle ist, „aus der die leidenschaftlichste Liebe zum Guten und die strengste Selbstüberwindung entspringen“. Indem sie den Individualismus fördert, erfüllt die Gesellschaft – laut Mill – „ihre Pflicht“, ohne dabei jedoch „den Schutz der eigenen Interessen“ zu vernachlässigen. Denn willensstarke, tüchtige Individuen neigen sehr viel eher dazu, sozial und tugendhaft zu denken als kleinlaute und schwache Menschen, die von den „Besseren“ dazu genötigt werden, sich sklavenhaft zu verhalten und „anständig“ zu denken.
Laut Oscar Wilde stört der Individualismus die „Homogenität der Art, die Sklaverei des Brauchs, die Tyrannei der Angewohnheit und die Verringerung des Menschen auf das Niveau der Maschine“. Im Kampf gegen die zutiefst konformistische, autonomiefeindliche und schicksalsergebene Gesellschaft unserer Tage, kann ich mir keine bessere Taktik denken, als möglichst in allen Bereichen Unruhe zu stiften, indem man seiner Individualität und seinen wahren Neigungen, Instinkten und Gedanken freien Lauf lässt.