27.07.2017

Freiheit. Wozu braucht ihr Freiheit?

Kommentar von Katarzyna Plucinska

Titelbild

Foto: Robert_z_Ziemi via Pixabay / CC0

Die geplante polnische Justizreform läuft auf das Ende von Gewaltenteilung und Demokratie hinaus.

Im Schutze der Dunkelheit, wenn die Kinder süß in ihren Bettchen schlafen, fallen in Polen Entscheidungen, die sie und ihre Eltern in einem immer unfreieren Land aufwachen lassen. Lange, nächtliche Parlamentssitzungen, in denen der Bevölkerung die vor beinahe 30 Jahren erreichte Freiheit Stück für Stück weggenommen wird, sind ein Kennzeichen des aktuellen polnischen Regierungsstils. Das böse Spiel begann kurz nach den Wahlen im Herbst 2015. Im Dezember desselben Jahres beschloss die alleinregierende „Partei Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) eine Reform des Verfassungsgerichts, die dessen Arbeit erheblich erschwerte. Später kam es zur Zensur der öffentlich-rechtlichen Medien und dem gescheiterten Versuch, ein totales Abtreibungsverbot einzuführen.

Nun geht der Wahnsinn mit einer Reform des Obersten Gerichts weiter. Eine emotionale Debatte war bei diesem heiklen Thema zu erwarten. Die Wenigsten hätten jedoch gedacht, dass ausgerechnet der PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński die Nerven verliert. Am späten Dienstagabend stürmte er das Rednerpult im polnischen Unterhaus Sejm und fing an, die Opposition zu beschimpfen. Er reagierte damit auf die Aussage eines Abgeordneten der gemäßigten PO-Partei. Der Abgeordnete berief sich auf Lech Kaczyński, den 2010 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen ehemaligen polnischen Präsidenten und Zwillingsbruder von Jarosław Kaczyński. Laut dem PO-Politiker hätte niemand von der PiS es gewagt, die Hand gegen die Justiz zu erheben, als Lech Kaczyński noch am Leben war. Diese Behauptung erregte Jarosław Kaczyński sehr. Er bezeichnete die Oppositionspolitiker im Sejm als „Verräter“ und „Kanaillen“ und warf ihnen vor, seinen Bruder ermordet zu haben. Die Debatte wurde auf den nächsten Tag verlegt und das Gesetz mit der Mehrheit verabschiedet. Nicht anders sah es im Senat aus. Auch die zweite Kammer des polnischen Parlaments segnete den Umbau der Justiz ab.

„Die Justizreform könnte zur Folge haben, dass die PiS nicht mehr abgewählt werden kann.“

Die Reform wird das Justizsystem des Landes komplett umkrempeln. Das Oberste Gericht ist derzeit die höchste Berufungsinstanz für Gerichte der ersten oder zweiten Instanz. Es beaufsichtigt die Rechtsprechung aller anderen Gerichte und kann ihre Urteile aufheben. Zudem fasst es Beschlüsse bei strittigen Rechtsfragen und gibt Richtlinien zur Rechtspflege heraus. Der Gesetzesentwurf der PiS sieht vor, die Zahl der Richter um etwa 40 Prozent zu verringern, was in der Praxis zu deutlich längeren Prozessdauern führen würde. Darüber hinaus sollen die Richter vom Parlament, das heißt von der Regierungspartei, bestimmt werden. So könnte die mit absoluter Mehrheit regierende PiS auch den Griff nach der absoluten Macht wagen. Denn zu den Aufgaben des Obersten Gerichts gehört auch die Prüfung der Parlamentswahlen, beziehungsweise deren Annullierung im Falle von Wahlfälschungen. Im schlimmsten Fall könnte die Justizreform dazu führen, dass die PiS nicht mehr abgewählt werden kann.

Die geplante Aufhebung der Gewaltenteilung hat die Polen auf die Straße getrieben. Tausende Bürger beteiligten sich an Mahnwachen. Ein PiS-Mitglied bezeichnete die Demonstranten als „bolschewistische Gespenster“. Da liegt er falsch. Unter den Demonstranten gibt es viele junge Menschen. Am Wochenende sprach die Demokratie-Legende Lech Wałęsa zu ihnen. Der Friedensnobelpreisträger und ehemalige Vorsitzende der Gewerkschaft Solidarność richtete sich an eine Generation, die ein autoritäres Polen nur noch aus Erzählungen kennt. Er rief sie auf, die Freiheit und Demokratie zu verteidigen, die seine Generation erkämpft hatte.

Kritische Stimmen kommen auch aus dem Ausland; etwa vom EU-Kommissar Frans Timmermans, der im Versuch, die Justiz der Legislative unterzuordnen, einen Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit sieht. Sollte die polnische Regierung nicht einlenken, müsste man über Sanktionen wie den Entzug des Stimmrechts im EU-Ministerrat nachdenken. Auch das Außenministerium der Vereinigten Staaten zeigte sich besorgt. Die amerikanische Kritik dürfte die PiS besonders hart treffen, denn noch in diesem Monat war der US-Präsident Donald Trump zu Gast in Polen gewesen. Der Besuch wurde von den regierungsnahen Medien als große Chance für die Vertiefung der amerikanisch-polnischen Beziehungen gefeiert. Der einzige, der das Gesetzvorhaben gutheißt, ist Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, was allerdings eher als Warnsignal denn als Kompliment verstanden werden sollte.

„Für viele Polen sind Bequemlichkeit und trügerischer Wohlstand leider wichtiger als Demokratie und Freiheit.“

Obwohl Präsident Duda einige Schwachstellen im Gesetz entdeckte, war bis zur letzten Minute nicht klar, ob er ein Veto einlegen würde. Duda ist ein ehemaliges PiS-Mitglied (er trat nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten aus symbolischen Gründen aus) und hat bisher fast ausnahmslos alle Gesetzesreformen der PiS abgenickt. Nach einem kurzen Erholungsaufenthalt in seiner Urlaubsresidenz an der Ostsee legte er am Montagmorgen tatsächlich ein Veto ein. Tausende Protestierende können durchatmen. Der Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz wurde vorerst gestoppt.

Die Gefahr ist jedoch noch lange nicht gebannt. Der Sejm kann mit einer 60-prozentigen Mehrheit das Präsidentenveto aufheben – die PiS verfügt über 51 Prozent der Stimmen. In diesem Fall hätte der Präsident keine Wahl mehr und müsste das Gesetz unterschreiben. Die PiS könnte auch einen neuen Gesetzentwurf vorbereiten und versuchen, ihn noch einmal im Parlament durchzusetzen. Der Präsident hat indes angekündigt, dass er einen eigenen Entwurf für die Justizreform vorlegen wird.

Die polnische Band „Kult“ hat in einem ihrer Lieder rhetorisch gefragt: „Freiheit. Wozu braucht ihr Freiheit?“ In der Antwort darauf wird alles aufgezählt, was ein unterdrücktes Volk anstelle der Freiheit bekommen wird: Geld, Fantasyfilme und eine Person, der es die Ehre erweisen kann. Es ist erschreckend, wie aktuell dieser Text ist, obwohl er 1989 geschrieben wurde. Auch heute versucht Polens Regierung, die Bevölkerung mit einer Erhöhung des Kindergelds und einem gesenkten Renteneintrittsalter ruhig zu stellen. Vielen Polen scheinen Bequemlichkeit und trügerischer Wohlstand wichtiger zu sein als Demokratie und Freiheit. Sie riskieren, im eigenen Land bald nichts mehr zu sagen zu haben. Hoffen wir, dass sich das bald ändern wird.

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