01.01.2006

Französischlektion für alle

Kommentar von Frank Furedi

Der Ausbruch der Gewalt auf den Straßen Frankreichs hat nicht nur die Polizei überrascht, er offenbart auch die Unfähigkeit der europäischen Eliten, die heutige Gesellschaft zu verstehen.

Wenn es bisher noch eines Beweises bedurfte, dass Politik heute nur mehr aus hohlen Worten und Phrasen besteht, dann lieferten ihn die Ausschreitungen französischer Jugendlicher im Herbst 2005. Verzweifelt und erfolglos rangen Politiker aller Couleur sowie die Medien nach überzeugenden Erklärungen. Einer kleinen Gruppe Teenager aus den Vorstädten französischer Großstädte ist es gelungen, die Ohnmacht der französischen Ordnungskräfte sowie der gesamten französischen Elite offen zu legen. Wie konnte es geschehen, dass Jugendliche ohne jede politische Ambition die Schwäche der nationalen Identität in einem der mächtigsten Staaten Europas so nachhaltig bloßstellen konnten?


Betretenes Schweigen und Ausflüchte prägten die Reaktionen auf die französische Krise. Manche flüchteten sich in wirtschaftliche Erklärungsmuster. Bill Clintons historische Aussage „It’s the economy, stupid!“ scheint mittlerweile den Status einer allgemein akzeptierten politischen Wahrheit erlangt zu haben. Es wurde versucht, die aktuellen Ausschreitungen im politischen Vokabular der 80er-Jahre – Armut, Ausgrenzung, Marginalisierung – zu deuten und zu fassen. Sollten diese Unruhen tatsächlich auf rein wirtschaftliche Ursachen zurückzuführen sein, dann gäbe es eine einfache Lösung für das Problem: einfach EU-Entwicklungsbeihilfen mobilisieren, ein paar neue Arbeits- oder Trainingsprogramme auflegen, und die Probleme lösen sich von alleine.


Doch leider sind die Ausbrüche konfuser und nihilistischer Gewalt nicht nur durch wirtschaftliche Idiome zu erklären. Natürlich stehen viele Menschen von Aulnay-sous-Bois, Blanc-Mesil und anderer Pariser Vororte am unteren Ende der sozialen und wirtschaftlichen Leiter, und viele leiden unter Arbeits- und Chancenlosigkeit. Dennoch ist Armut allein nicht der Auslöser der Gewalt und war es auch in der Geschichte nur äußerst selten.
 

„In anderen Staaten Europas sind unter der ruhigen Oberfläche soziale Spannungen am Werke sind, die denen der französischen Gesellschaft recht ähnlich sind.“



Andere Erklärungsversuche für die Unruhen kaprizieren sich auf den Vorwurf, Frankreich habe über Jahre hinweg eine sehr schlechte Integrationspolitik betrieben. Viele politische Kommentatoren, die den Ideen des Multikulturalismus anhängen, äußerten sich erschüttert darüber, dass eine moderne Nation wie Frankreich immer noch das Ideal der Assimilation von Immigranten verfolge. Dieses historisch überaus fortschrittliche Ideal, demzufolge ein Staat seine Bevölkerung eher als gleiche Staatsbürger denn als Mitglieder lokaler, religiöser, ethnischer oder kultureller Gemeinschaften behandeln sollte, gilt im heutigen Zeitalter der Identitätspolitik als geradezu skandalös. Frankreich wird mithin aufgefordert, die Niederlage seiner Integrationspolitik zum Anlass zu nehmen, einen multikulturalistischen Ansatz zu institutionalisieren und die Verschiedenheit ethnischer Gruppen stärker zu berücksichtigen. Anders formuliert: Frankreich solle nur ein wenig mehr Multikulti in seine Wirtschafts- und Sozialpolitik injizieren und dies mit zusätzlichen Community- und Kulturprogrammen unterfüttern, und alles werde gut.


Zweifellos folgt die französische Version der Assimilationspolitik nicht den Prinzipien des klassischen Universalismus. Sie ist eindeutig gescheitert. Dennoch sollte die multikulturalistische Kritik an Frankreich auch den Zustand der anderen europäischen Nationen mit ins Kalkül nehmen. Dass in der Folge der französischen Ausschreitungen auch Autos in Brüssel und Berlin in Flammen aufgingen, kann man natürlich auf einzelne Trittbrettfahrer zurückführen. Dies ist aber symptomatisch dafür, dass auch in anderen Staaten Europas unter der ruhigen Oberfläche soziale Spannungen am Werke sind, die denen der französischen Gesellschaft recht ähnlich sind. Die Aufforderung an Frankreich, von den Erfahrungen der USA sowie Großbritanniens zu lernen, die in den 60er- beziehungsweise 80er-Jahren mit ähnlichen Ausschreitungen konfrontiert gewesen seien und die richtigen multikulturalistischen Schlussfolgerungen daraus gezogen hätten, ignoriert die Tatsache, dass sich im Jahre 2001 – nach vielen Jahren des Testens verschiedener derartiger politischer Ansätze – gerade in den englischen Multikulti-Hochburgen Bradford, Burnley und Oldham Ausschreitungen und Straßenschlachten ereigneten. Offenbar war man dort mit dem multikulturalistischen Ansatz nicht minder erfolglos als Frankreich mit seiner Assimilationspolitik.
 

„Verglichen mit der französischen Paralyse und Konfusion erscheint die Reaktion der Bush-Regierung auf die Flutkatastrophe in New Orleans vergleichsweise energisch und zielstrebig.“



Politik ohne Inhalt
Das wirklich Wichtige an den französischen Ausschreitungen war nicht das Verhalten der Jugendlichen, sondern die Reaktion der politischen Klasse Frankreichs. Verglichen mit der französischen Paralyse und Konfusion erscheint die Reaktion der Bush-Regierung auf die Flutkatastrophe in New Orleans vergleichsweise energisch und zielstrebig. Die erste Unruhewoche brachten französische Politiker damit zu, sich gegenseitig für die Misere verantwortlich zu machen. Präsident Jacques Chirac tauchte für eine Woche ab und enthielt sich jeder öffentlichen Stellungnahme. Auch die Polizeikräfte wirkten, entgegen vieler anderer Kommentare, eher so, als taumelten sie schlafwandelnd durch die nächtlichen französischen Straßen. Nach wenigen Tagen schon nahm die Polizei gar die Haltung des unverstandenen Opfers ein und stellte öffentlich die verzweifelte Frage, warum man sie nur angreife. Es scheint, als ob die politische Elite weder über eine politische Mission, noch über irgendwelche Überzeugungen verfügt, die es ihr erlaubt, Entschlossenheit zu demonstrieren. Stattdessen setzt man alles daran, keine unangenehmen Fragen zu stellen oder gar zu diskutieren.


Die Ereignisse in Frankreich zeigten eindrucksvoll, dass Macht, wenn nicht mit Ideen oder einer politischen Ausrichtung unterfüttert, herzlich wenig wert ist. Macht und Autorität ziehen ihre Definition und ihre Existenz aus ihrer inhaltlichen Orientierung. Ohne eine solche verlieren selbst Militär- und Polizeiapparate ihre Kraft. Je deutlicher diese Kraftlosigkeit zum Vorschein tritt und der Öffentlichkeit vor Augen geführt wird, desto stärker fühlen sich diejenigen ermutigt, die sich von der Gesellschaft entfremdet fühlen.


Die Ermattung der Politik – ein französisches Phänomen?
Der Prozess der Aushöhlung von Politik prägt seit dem Ende des Kalten Krieges das öffentliche Leben in allen westlichen Gesellschaften. Frankreich traf dieser Prozess mit besonderer Wucht. Die französische Politik des letzten Jahrhunderts war geprägt durch intensive Klassengegensätze. Der Konflikt zwischen Links und Rechts hatte einen starken Einfluss auf jeden Bereich französischer Kultur. Und obwohl die Spannungen zwischen französischen Arbeitern und Immigranten eine lange Geschichte hatten, so wurden sie doch durch die Stärke der Arbeiterbewegung abgemildert.
Mit dem Niedergang der Klassenpolitik in den 80er-Jahren verloren auch die traditionellen Gegensätze innerhalb des öffentlichen Lebens an Bedeutung. Auch wenn die Franzosen heute immer noch als äußerst streikfreudig gelten, so ist dennoch die heutige Form der Klassenpolitik nur noch eine Karikatur ihrer selbst.


Der Marginalisierung der französischen Arbeiterbewegung steht der Niedergang der Kohärenz der französischen Eliten gegenüber. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bemühten sich die Führer Frankreichs um die Bestimmung und Durchsetzung einer führenden globalen Rolle für die „Grande Nation“. Charles de Gaulle versuchte, dies über die Anschaffung von Atomwaffen zu erreichen und somit in einer Zeit, die durch den Konflikt der beiden Großmächte dominiert wurde, die Eigenständigkeit Frankreichs zu betonen. Auch das Projekt „Europa“ galt de Gaulle als Möglichkeit, die Führungsrolle Frankreichs zu zementieren. Alle nachfolgenden französischen Regierungen hielten diesen Kurs bei und bemühten sich zudem darum, die nationale Geschichte und Identität zu pflegen. So gelang es Paris, trotz seiner relativen ökonomischen Schwäche seine Politik mit einer deutlichen Mission zu versehen und auch international eine relativ gewichtige Rolle zu spielen.
Seit dem Ende des Kalten Krieges verlor die Rolle Frankreichs immer stärker an Kontur. Der Anspruch, eine führende Macht Europas zu sein, wurde durch die Erweiterung der EU sowie den Niedergang der deutsch-französischen Achse unterminiert. Das französische „Non“ zur EU-Verfassung war zudem ein deutliches Signal dafür, dass auch Europa nicht mehr als die Nation einigende und identitätsstiftende Idee funktioniert. Ohne eine gaullistische Mission wurde die französische Innenpolitik zu einer Farce. Chirac ist kein de Gaulle; er präsidiert über ein politisches System, das in erster Linie durch Cliquenwirtschaft und Machtintrigen gekennzeichnet ist.
 

„Die Probleme Frankreichs sind keine französischen. Sie sind die Folge der politischen Lähmung, die auch unsere Gesellschaften immer stärker erfasst.“



Frankreich hat seine Identität verloren. Noch vor kurzem teilten mir französische Aktivisten stolz mit, Frankreich stehe – im Gegensatz zum angelsächsischen Selbstverständnis – für das „soziale Gesellschaftsmodell“. Nachdem die aktuellen Ausschreitungen nunmehr auch diesen Mythos entlarvten, wird es immer schwieriger zu definieren, was überhaupt noch „typisch französisch“ ist. Es ist daher auch kein Wunder, dass die französische Trikolore nur noch für wenige aus Afrika stammende Immigranten von großer Bedeutung ist.


Die Zunahme von Konflikten ist das Resultat dieses fortschreitenden Bedeutungsverlustes der Politik sowie die zunehmende Schwächung der französischen Eliten. Den Menschen in den Pariser Vororten fehlt es nicht nur an materiellen Ressourcen – ihnen fehlt auch jedes Verständnis für die Werte, die einst mit der französischen „Façon de Vivre“ verbunden wurden. Die Jugendlichen, die Autos in Brand stecken und ihre eigenen Schulen niederbrennen, verfolgen keine politischen Ziele. Sie werden nicht durch irgendeine soziale Perspektive oder durch eine islamistische Ideologie angetrieben – zumindest noch nicht. Sie wollen einfach nur den Wohlstand Frankreichs, den sie in anderen Stadtteilen sehen, ohne aber irgendeine enge Beziehung zu der „französischen Idee“ zu haben.


Um es deutlich auszusprechen: Es gibt keine französischen Werte, an die man sich halten könnte. In Zeiten, in denen kein Netz der Verständigung sowie Anhaltspunkte zum Verstehen von Zusammenhängen existieren, können sich auch kleinere Zwischenfälle zu großen Konflikten ausweiten. Anstatt aber nun die Franzosen zu belehren und zu betonen, die Situation in England oder Deutschland sei eine völlig andere, sollten wir eher unsere eigene Französischlektion lernen. Die Probleme Frankreichs sind keine französischen. Sie sind die Folge der politischen Lähmung, die auch unsere Gesellschaften immer stärker erfasst. Die Lösung für diese Probleme liegt nicht in einem effizienteren Management lokaler Gemeinschaften und deren Konflikten und Problemen, sondern kann nur darin liegen, dass wir uns der grundlegenden und entscheidenden Frage der Zukunft nicht länger entziehen: Was ist der Sinn von Politik, wer sind wir als Gesellschaft, und wie definieren wir uns als Menschheit?

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