01.03.2006

Folterkammer Kinderzimmer

Kommentar von Sabine Beppler-Spahl

Sabine Beppler-Spahl über die absurde Vorstellung, alle Eltern seien grundsätzlich Kinderschänder, wenn man sie nicht kontrolliere.

„Wenn wir aber lange genug auf Sabine H. blicken, dann kann es uns passieren, dass wir durch Sabine H. erfahren, wie verzweifelt und grausam wir – jeder von uns – in vergleichbaren oder auch nicht vergleichbaren Situationen sein könnten. Viele Mütter erinnern sich wohl an das Befremden, als sie zum ersten Mal in das Gesicht ihres neugeborenen Babys blickten, und ahnen vielleicht vage, was in Sabine H. nach einer Geburt vor sich ging. Viele Väter wissen, wie aggressiv sie gelegentlich auf das ständige Schreien ihres Babys reagieren.“ [1]


Es gibt Eltern, die ihre Kinder quälen, misshandeln und töten. Doch lässt es sich irgendwie begründen, dass es sich hierbei nicht um extreme Einzelerscheinungen, sondern um die Spitze eines Eisbergs handelt? Um Taten, zu denen wir alle imstande wären oder in denen wir unsere tiefsten Instinkte wieder entdecken können? Viele Menschen scheinen inzwischen zu glauben, wir lebten in einer Zeit, in der Kinder einer zunehmenden Gefahr durch ihre eigenen Eltern ausgesetzt sind. Die Familie, die einst als Ort des Schutzes und der Geborgenheit galt (und oft sogar als eine stets heile Welt verklärt wurde), ist – zumindest in der abstrakten, medial vermittelten Wahrnehmung – zur größten Gefahrenquelle für Kinder avanciert.
Die Vorstellung, Eltern könnten ihren Kindern niemals ein Leid zufügen, ist ebenso irrational wie die, alle Eltern seien zu den schlimmsten Straftaten fähig oder unzählige Kinder seien in ihren Familien bedroht. Letzteres scheint mir jedoch derzeit bei Weitem das größere Problem, da derlei Ideen durch eine Kombination unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte an Virulenz gewonnen haben. Es ist eine Art Eigendynamik entstanden, die in den Ruf nach mehr allgemeinen Kontrollen, Gesetzen und staatlichen Zwängen mündet. Zudem werden – dies mag zunächst widersprüchlich erscheinen und ist doch nur ein anderer Ausdruck des gleichen Problems – die außergewöhnlich brutalen Straftaten Einzelner ungewollt relativiert, indem sie uns als nachvollziehbare Beispiele elterlichen Handelns präsentiert werden. Beide Phänomene, die Behauptung, schlimmste Misshandlungen gehörten zum Alltag in deutschen Familien, wie der fast verständnisvolle Ton, der häufig bei der Beschreibung der Täterinnen angeschlagen wird, sind charakteristisch für eine gesellschaftliche Diskussion, die in Sachen Kinderschutz längst den Boden der Rationalität verlassen hat.


Misstrauenskultur
Als Reaktion auf die in den letzten Monaten bekannt gewordenen Fälle grober Vernachlässigung mit Todesfolge – allen voran der Fall des siebenjährigen Mädchens in Hamburg, das in der Wohnung ihrer Eltern verhungerte – wurde von verschiedenen Seiten der Ruf nach weiteren Schutzmaßnahmen für gefährdete Kinder laut. An oberster Stelle steht die Forderung nach einer verpflichtenden ärztlichen Vorsorgeuntersuchung („Wenn Eltern den Termin verpassen, kommt der Sozialarbeiter“). Doch während diese Maßnahme keine Garantie für den Schutz von Kindern vor Vernachlässigung oder Missbrauch darstellt, eignet sie sich hervorragend für das Befördern von Misstrauen. Ausgehend vom Schlimmsten und Schlechtesten werden Rückschlüsse auf den Rest der Gesellschaft gezogen, und es wird die Botschaft verbreitet, Eltern stellten eine Gefahr für ihre Kinder dar. Eine medizinische Untersuchung erhält den Charakter eines Gerichtsurteils, bei der Eltern vom Generalverdacht der Vernachlässigung oder der Misshandlung ihrer Kinder freigesprochen werden müssen. Immer neue Forderungen sind zu hören: So möchte der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte statt der bislang zehn Checks vierzehn ärztliche Untersuchungen, da ansonsten bei den Dreijährigen eine Kontrolle fehle. Andere geben zu bedenken, die quälenden Eltern wüssten genau, wann sie ihre Kinder vorzeigbar halten müssten, notwendig seien daher unangekündigte Untersuchungen.
Wenn es um Kinder geht, scheint es kaum mehr Hemmungen bei der Intervention in Familien zu geben. Um einen Vergleich zu bemühen: In den vergangenen Jahren gab es vermehrt Meldungen, wonach einzelne ältere und kranke Personen von Pflegern oder Schwestern misshandelt bzw. sogar getötet worden seien. Nach Bekanntwerden dieser Ereignisse wurden dennoch, glücklicherweise, nicht alle Krankenschwestern als potenzielle Altenquäler betrachtet. Trotz einiger Ansätze, die in diese Richtung zielen, gilt der Pflegeberuf nach wie vor als ein helfender, bei dem das Wohl der Kranken und Alten im Mittelpunkt steht. Geht es aber um Kinder, so der breite Konsens, kann man schließlich nicht vorsichtig genug sein.
 

„Werden wir mit jedem elterlichen Wutanfall Schritt für Schritt zu Kindermördern?“



Spitze des Eisbergs?
Die Kinderschutzindustrie verbreitet seit langem mit geradezu missionarischem Eifer und groß angelegten, kostspieligen Kampagnen wie „Kids sind keine Blitzableiter“ und „Mach daraus kein Geheimnis“ die Botschaft, Missbrauch und Vernachlässigung seien in unserer Gesellschaft tief verankert. Impliziert wird, dass wir uns mit jedem elterlichen Wutanfall (und welche Eltern fahren nicht gelegentlich einmal aus ihrer Haut, so beklagenswert dies auch sein mag) Schritt für Schritt zu veritablen Kindermisshandlern entwickeln. Kampagnen dieser Art erreichen wohl kaum die wenigen Eltern, die ihre Kinder wirklich misshandeln, sondern befördern in erster Linie Schuldgefühle und ein negatives Familienbild, das mit der Realität herzlich wenig zu tun hat.
Repräsentative Umfragen – wie zuletzt die Verlaufsuntersuchung des Deutschen Jugendinstituts (DJI-Kinderpanel), bei der 2000 Familien befragt wurden – ergeben das genaue Gegenteil von dem, was uns die Kinderschutzindustrie weismachen möchte. Bei einer im Jahr 2005 durchgeführten Umfrage schnitten die Familien im Urteil der Kinder sehr gut ab. Nur zwei Prozent der befragen Kinder beschrieben das Familienklima als eher negativ.[2] Zahlreiche andere Studien der letzten Jahre bestätigen dieses Ergebnis.[3] Dennoch beharrt die Kinderschutzindustrie weiterhin auf ihrem Standpunkt. In einem Interview zur Frage der regelmäßigen Pflichtuntersuchungen von Kindern sagte der UNICEF-Sprecher Rudi Tarneden:


„Todesfälle sind dramatische und zum Glück selten vorkommende Ereignisse. Sie sind allerdings die Spitze eines Eisbergs der Gewalt. Nicht-tödliche körperliche und seelische Vernachlässigung und Misshandlungen kommen weit häufiger vor. Sie geschehen aber im Verborgenen, meist in der Familie.“[4]


Doch es ist nicht allein dem Einfallsreichtum der Kinderschutzindustrie zu verdanken, dass sich das Vorurteil, unzählige Kinder seien bedroht, so hartnäckig hält. Politiker, die angesichts der vorherrschenden Orientierungslosigkeit Handlungsfähigkeit und Volksnähe demonstrieren möchten, tragen maßgeblich zu seiner Verbreitung bei. Vor allem trifft das Vorurteil aber auf eine Öffentlichkeit, die durch die zunehmende soziale Fragmentierung für ein überhöhtes Risikodenken empfänglich ist. Immer mehr Menschen sehen sich Gefahren ausgesetzt, die von ihren Mitmenschen ausgehen (Grippeepidemien, Gammelfleisch, Kriminalität etc.). Das Gefühl, in einer Welt voller Bedrohungen zu leben, macht auch vor den intimsten Bereichen unseres Lebens (Familie, Ehe, Sexualität) nicht halt. Vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, weshalb der Ruf nach einer stärkeren Kontrolle der Privatsphäre so breite Zustimmung erhält. In den Augen derer, die überall vom Schlimmsten ausgehen, muss der Bereich unseres Lebens, der sich bisher den prüfenden Blicken der Öffentlichkeit bzw. des Staates entziehen konnte, zwangsläufig eine Brutstätte unkontrollierter Gewalt sein.


Zahlenspiele
Angesichts der stark emotional geprägten Diskussion über das Thema Kinderschutz ist es schwierig, zu einer einigermaßen realistischen Einschätzung über das wirkliche Ausmaß von Kindesmisshandlung zu gelangen. In ihrem Bestreben, die Gesellschaft für ihr Anliegen zu sensibilisieren, schrecken Kinderschützer nicht vor der Verbreitung falscher oder fragwürdiger Zahlen zurück. Die Vorstellung, unsere Gesellschaft sei nicht genügend für das Problem sensibilisiert, ist jedoch geradezu absurd. Es gibt kaum ein Thema, welches in den vergangenen Monaten und Jahren mehr Beachtung gefunden hätte. Die am häufigsten zitierte Zahl stammt aus einem UNICEF-Bericht aus dem Jahr 2003, wonach in den OECD-Ländern jedes Jahr rund 3500 Kinder unter 15 Jahren an den Folgen körperlicher Misshandlung und Vernachlässigung sterben sollen. Für Deutschland, so die Studie, bedeute dies zwei Todesfälle pro Woche. Obwohl angemerkt wird, dass die Zahlen insgesamt rückläufig seien, lautete die zentrale Botschaft, dass es immer noch erschreckend viele Opfer gäbe.
Die Zahl „zwei Kinder pro Woche“ wurde fortan unkritisch und kommentarlos übernommen. Nur wer sich die Mühe macht, die Studie selber durchzulesen, findet einen kleinen, aber dafür bedeutenden Zusatz: Die Autoren der Studie haben die Zahl der registrierten Kindestötungen um die Todesfälle ergänzt, deren Ursache als ungeklärt erfasst wurden, da den offiziellen Todesstatistiken, die als Grundlage für die Studie herangezogen wurden, nicht immer ein eindeutiges Ereignis zugrunde läge. Oft sei nicht zu unterscheiden: „Ist das Kind aus dem Fenster gefallen oder wurde es gestoßen? War es plötzlicher Kindstod oder wurde der Säugling erstickt? Ist er in einem Moment der Unaufmerksamkeit ertrunken oder wurde er untergetaucht? Kam die Gehirnerschütterung durch einen Schlag oder einen Sturz?“ usw.
Natürlich stimmt es, dass Ärzte die Todesursache häufig nicht sicher ermitteln können. Dennoch kann die unkritische Verbreitung von Zahlen, die stets vom schlimmsten Szenario ausgehen, nur als unernsthaft und wissentlich manipulativ bezeichnet werden. Auch der Verweis auf die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), in der Berlin einen Spitzenplatz in Sachen Kinderquälerei einnimmt, kann nicht für mehr Klarheit sorgen. Jährlich werden in Berlin hunderte Fälle von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung angezeigt – mit steigender Tendenz –, meldeten die Tageszeitungen im Januar. Doch in einer Zeit, in der jeder Klaps als Gewalt bezeichnet wird, sagen diese Statistiken mehr über die Anzeigebereitschaft und das vorherrschende Klima als über die tatsächlichen Fälle von Missbrauch und Vernachlässigung aus. Unterdessen vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein Kind von der Polizei aus einer verdreckten Wohnung oder einer zu dunklen Kammer „gerettet“ und über die Aktion in Zeitung und Fernsehen berichtet wird. In den meisten Fällen kehren die Kinder nach kurzer Zeit wieder zu ihren Eltern zurück. Sie haben ihren Zweck erfüllt.

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