16.11.2015

Flüchtlingsdebatte: Von Wundern und Katastrophen

Von Oliver Weber

Der Schüler Oliver Weber warnt davor, die sogenannte „Flüchtlingskrise“ auf simple Schlagworte zu reduzieren. Statt hysterischer Rhetorik muss eine sachliche Debatte auf die Tagesordnung. Wir sollten raus aus unseren Schützengräben und die Lage kühl analysieren

Bestimmen Katastrophen und Wunder die deutsche Geschichte? Wirft man einen Blick in die Geschichtsbücher, die die rund elf Millionen deutschen Schüler – also auch ich – Woche für Woche studieren, könnte man tatsächlich meinen, die jüngere Geschichte der Bundesrepublik sei eine bloße Aneinanderreihung von Katastrophen und Wundern. Ein „Demokratie-Wunder“ sei bereits die Gründung der Bundesrepublik gewesen. Ein Wunder, dass der erste deutsche Bundestag 1949 nicht vollgestopft mit in die nächste Staatsform hinübergeeilten Nazis war. Klar, auch das „Wunder von Bern“ muss genannt werden. Ebenso der später folgende wirtschaftliche Aufschwung, der bis heute als „Wirtschaftswunder“ in den alten und jungen Ohren unserer Republik widerhallt.

Dann aber diagnostizierte man die erste Katastrophe. Man taufte sie „Bildungskatastrophe“ und die 68er machten sich zugleich auf, sie mit stolzgeschwellter Brust zu beseitigen. Die 1970er-Jahre mitsamt „Ölpreisschock“ und „Massenarbeitslosigkeit“ gehören in dieselbe Schublade. Wer nun meint, mit dem Ende der Bonner Republik sei auch die Zeit der Wunder und Katastrophen vorbei, der irrt sich gewaltig. Auch die Berliner Republik kennt bereits ihre ganz eigene Magie. Man denke nur an das „Sommermärchen“ des Jahres 2006 oder an das darauffolgende „Jobwunder“ der deutschen Wirtschaft. Auch die Wirtschafts- und Eurokrise wird wohl nur deshalb nicht „Katastrophe“ genannt, weil es deutlich sperriger klingt.

Nun, so scheint es, ist die nächste Katastrophe ausgemacht. Das Stichwort „Flüchtlingskatastrophe“ findet sich nicht selten in den deutschen Leitmedien von Spiegel bis FAZ. Erstaunlich ist, dass diese Krise sogar Wunder und Katastrophe in einem zu sein scheint. Ein Wunder deswegen, weil sich das Gros der Deutschen freundlich zeigt beziehungsweise zeigte – ob Präsens oder Präteritum, wird noch zu klären sein. Das Ganze sei sogar ein „Willkommenskultur-Wunder“, wie die ZEIT vor Kurzem konstatierte. Gelänge uns die Integration von so vielen jungen, arbeitswilligen Menschen, so sei sogar das Demografieproblem gelöst. Im linken Flügel der Republik, so scheint es, taugt die Flüchtlingskrise sogar dazu, dem gescholtenen Austeritäts-Deutschland zu einem moralischeren Ansehen zu verhelfen.

„Bestimmen Katastrophen und Wunder die deutsche Geschichte?“

Doch die Stimmung droht zu kippen. Immerhin ist Integration an und für sich ein durchaus schwieriges Vorhaben, wie die „Integrationskrise“ der zweiten und dritten Gastarbeiter-Generation zeigte. Und ja, Kosten kommen wohl auf uns zu. Und vor allem stellt sich die Frage, wer überhaupt ins Land kommt. Ist sogar die öffentliche Sicherheit bedroht?

Interessant an dieser Gemengelage ist, dass sich Öffentlichkeit, Gesellschaft und Politik im Wesentlichen über genannte Deutungen streiten. Man könnte fast meinen, „Wunderanhänger“ ständen jenen, die wegen einer „drohenden Katastrophe“ reflexartig die Grenzen dicht machen möchten, versöhnungslos gegenüber. Entsprechend polemisch sind auch die angeführten Argumente. „Merkel hat alle Syrer nach Deutschland eingeladen“, hört man nicht selten. Sogar eine Völkerwanderung finde statt. Aber auch die Gegenseite sieht sich gezwungen, aufgebracht und scharf zu kontern. Jeder, der in die Richtung von Abschottung tendiert, gerät dort schnell in den Verdacht, latent fremdenfeindlich zu sein. Und wenn schon nicht das, dann ist die Vokabel des „geistigen Brandstifters“ ein nicht selten genutzter Begriff.

Nun ist es ja nicht so, dass die Flüchtlingskrise kein Problem sei. Natürlich gibt es enorme Schwierigkeiten und Konflikte, die nicht einfach zu lösen sind. Und natürlich können auch Chancen nicht geleugnet werden. Doch wie bei allen anderen „Wundern“ und „Katastrophen“ ersetzt die Rhetorik auf beiden Seiten des politischen Spektrums oftmals die Vernunft. Die Begrifflichkeiten, Schlagwörter und „copy-and-paste“-Sätze beider sich gegenüberstehenden politischen Lager verdecken die Sachebene. Fast scheint es so, als würde diese gesellschaftliche Tendenz mit jedem ankommendem Flüchtling zunehmen.

Bisher wirken sich eine erhöhte Verantwortung und Dringlichkeit also kaum auf die Sachlichkeit des Problemfelds aus. Denn – und so war es schon immer – wer etwas pauschal ein „Wunder“ nennt, der stellt mögliche Probleme und negative Folgen hinten an. Und wer vorschnell von einer „Katastrophe“ spricht, ignoriert Chancen und negiert damit im gleichen Zug die Tatsache, dass es im Machtbereich einer funktionsfähigen Demokratie – wie Deutschland eine ist – liegt, drohende Katastrophen mit altbekannten Mitteln abzuwenden. Wie immer und überall sollten nicht „Wunder“ und „Katastrophe“ die tonangebenden Begrifflichkeiten sein, sondern Vernunft, Empirie und Debatte. Dies sollte im 21. Jahrhundert eigentlich eine Binsenweisheit sein, doch auch die inmitten einer allgemeinen Fukushima-Hysterie beschlossene „Energiewende“ beweist das Gegenteil.

Phrasen auf Seiten der Gegner und Befürworter werden in diesen Fällen nicht zum Transport des politischen Inhalts genutzt, sondern verkommen zum Selbstzweck. Wer der Bundesregierung unterstellt, sie suhle sich in selbstzerstörerischen Tendenzen, der argumentiert nicht sachlich, sondern betreibt PR für die eigene politische Position. Und wer dagegenhält, das Asylrecht kenne keine Obergrenze und allein deswegen muss die derzeitige und zukünftige Situation zu meistern sein, der erhebt den Wunsch zum Vater des Gedanken.

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen – und halte stets eine Portion Beruhigungsmittel griffbereit“

Solche Debatten geben Anlass dazu, den Deutschen einen generellen Hang zu derartigen Deutungsmechanismen zu diagnostizieren. Anders als in anderen Ländern ist der Glaube an „echte“ Wunder hierzulande sogar besonders hoch, wie jüngst Umfragen des Allensbacher Instituts ergaben. Und schon Kurt Tucholsky wusste: „Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen übertreiben.“ Es stellt sich jedoch die Frage, ob solche Züge einer Gesellschaft zu unüberlegten und undurchdachten politischen Entscheidungen führen oder ob sie vielmehr die politische Debatte beleben. Die aktuell stattfindenden moralischen Stigmatisierungen politischer Standpunkte von Pegida bis Linkspartei lassen Ersteres vermuten.

Es droht eben stets die Gefahr, dass die bloße Rhetorik das Sachargument in seinen Schatten stellt. Ja, treibt man diese Methode bis auf die Spitze, so droht die Vernunft ganz im allgemeinen Geschrei unterzugehen. Ist dies erst einmal geschehen, so ist auch die kollektive Hysterie nicht mehr weit. Was hat also die vergangenen Katastrophen gelindert und abgewendet? Es waren nicht die Schwarzseher und Populisten. Ebenso wenig haben die Romantiker je dafür gesorgt, dass sogenannte „Wunder“ ihrem Namen gerecht werden konnten. Es waren Tugenden wie kühle Logik, klarer Verstand, harte Arbeit und sachliche Differenzierung.

Die wichtige Aufforderung der Aufklärung: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, muss nicht nur erneuert werden. Sie muss auch um einen Halbsatz wie „und halte stets eine Portion Beruhigungsmittel griffbereit“ erweitert werden. Es ist aktuell nicht nur die eingestaubte Ratio wieder gefragt, sondern auch Ratiopharm. Die Flüchtlingsdebatte wie auch jede andere, hitzig geführte gesellschaftliche Debatte der Zukunft braucht solche Hilfestellung dringend, um weiterhin zu funktionsfähigen Ergebnissen zu kommen. Doch der Trend geht ganz offensichtlich in eine andere Richtung, wie Pegida-Parolen und „Pack“-Rhetorik gleichermaßen beweisen. Eine Beruhigung täte nicht nur der aktuellen Debatte gut, sondern letztendlich auch dem ganzen Land.

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