06.05.2016
Fahrerlos und willenlos in die Zukunft
Essay von Norman Lewis
Die Entwicklung selbstfahrender Autos spricht nicht für zukunftsorientierte technologische Innovation, sondern belegt ein tiefverwurzeltes Misstrauen in die menschliche Autonomie, auch am Steuer.
Großbritannien hat 2015 100 Millionen Pfund an Haushaltsmitteln seines Staatshaushalts für die Erforschung von fahrerlosen Autos veranschlagt. Das fahrerlose Auto schwimmt auf einer globalen Welle mehrerer ähnlicher Initiativen – wie etwa Intels 100 Millionen Dollar schwerer „Connected Car Fund“ oder das bekannte Programm für selbstfahrende Autos von Google – und es scheint, dass das fahrerlose Auto zur festen Größe des 21. Jahrhunderts avancieren könnte. Welche Auswirkungen aber zeitigt das auf die Gesellschaft?
Nach der Freigabe des britischen Haushalts haben Betreiber der führenden Taxi-App Hailo gleich eine Kampagne namens „Face to Faceless“ gestartet, wo Taxifahrer-Porträts auf Londoner Sehenswürdigkeiten projiziert wurden. Damit wollte man die Rolle des Taxifahrers und seine Bedeutung hervorheben, und die „Stadt daran zu erinnern, dass die Taxifahrer Teil ihrer DNA sind“. Nun, was man auch immer von Londoner Taxifahrern halten mag (wir kennen ja alle solche, die bewusst überlastete Strecken wählen, um den Fahrpreis zu steigern und die es deshalb verdienen, dass Anbieter wie Uber ihnen das Leben schwer machen): Dieser Ansatz ist wichtig, weil er zeigt, dass fahrerlose Autos ein Störpotential sind – für den Arbeitsmarkt, für die Versicherungswirtschaft und für unsere Stadtlandschaften.
Neue Technologien und technologischer Fortschritt tendieren dazu, uns zu verwirren und als Bedrohung für das Bestehende zu erscheinen. Die Einführung neuer Technologien befördert Unsicherheit. Wir wissen aus unserer historischen Erfahrung, dass die Vorteile und wahrgenommenen Defizite neuer Technologien nie gleich verteilt sind und dass man unmöglich alle Folgen der Einführung einer neuen Technologie vorhersehen kann. Der eine verliert, der andere gewinnt. Die Schmiede begrüßten die Einführung des Automobils mit froher Erwartung, aber nicht viele überlebten seinen Aufstieg. Die Taxifahrer von heute könnten das Äquivalent der Kutscher des 19. Jahrhunderts sein, der Schmiede und all der anderen Gewerke, die hinweggefegt wurden, als das Automobil die Welt eroberte. Das Aufkommen der fahrerlosen Autos scheint ein ähnlicher Moment zu werden, wenn nicht für die Gesellschaft als Ganze, so doch für jene Teile, die von der heutigen Verkehrsinfrastruktur und ihren Regeln abhängig sind.
„Werden diese Fahrzeuge darauf programmiert sein, ethisch zu handeln?“
Taxifahrer sind nicht die einzigen, die Bedenken gegenüber fahrerlosen Autos anmelden. Wissenschaftler, Philosophen, Soziologen und Politiker stellen wichtige Fragen über die ethischen und moralischen Dimensionen von autonomen Fahrzeugen: Werden diese Fahrzeuge darauf programmiert sein, ethisch zu handeln? Und wessen Ethik werden sie folgen? Die Frage, ob Maschinen in der Lage seien, „mit Entscheidungsfreiheit zu handeln“, wurde schon aufgeworfen. Solche Bedenken haben die führenden Robotik-Labors in Großbritannien zum Anlass genommen, mit 1,4 Millionen Pfund öffentlicher Mittel des Engineering and Physical Sciences Research Council in einem vierjährigen Projekt Grundregeln zu erarbeiten, damit autonome Systeme zuverlässig, sicher und ethisch handeln, wenn sie mit Menschen interagieren. Und die Automobilindustrie kooperiert mit den philosophischen Fakultäten an den Universitäten der Welt, um einen ethischen Rahmen für Systeme künstlicher Intelligenz zu schaffen.
Die Verheißungen der selbstfahrenden Autos
Eine komplexe Maschine wie ein Auto dazu zu bringen, autonom zu handeln und ohne menschlichen Eingriff durch eine komplizierte Verkehrsinfrastruktur zu navigieren, ist eine erstaunliche Leistung. Die Integration von Sensor-Technologien in die Systeme der Fahrzeugkommunikation zur Kollisionsvermeidung und zum Verkehrsmanagement, unterstützt durch schnellere Rechenleistung, ist ein überragendes Beispiel für menschlichen Einfallsreichtum und Ehrgeiz. Aber nur weil eine solche Technologie vorhanden ist, oder es zumindest so scheint, bedeutet das noch nicht, dass wir das fahrerlose Auto und seine Auswirkungen auf die Zukunft nicht mehr hinterfragen sollten. Ein legitimer Ausgangspunkt ist die Frage: Welches Problem soll es lösen?
Akademiker, die Automobilindustrie, Technologieunternehmen wie Google und Intel, und professionelle Dienstleistungsunternehmen sind sämtlich von der neuen Technologie begeistert. Ihrer Meinung nach lösen selbstfahrende Autos eine Menge gravierender sozialer Probleme: So erwartet man eine Reduzierung der hohen Kosten von Verkehrsunfällen, die nicht nur unnötige und sinnlose Todesfälle verursachen, sondern auch den Druck auf das ohnehin schon ächzende öffentliche Gesundheitswesen erhöhen. Die Kosten für Bau und Instandhaltung der Verkehrsinfrastruktur sollen sich verringern, da man keine Ampeln oder Straßenbeleuchtung mehr benötigt – Millionen im Stau verschwendeter Stunden würden abgebaut, die Produktivität erhöht und Stress wie Benzinverbrauch gesenkt. Die Verschwendung von städtischen Freiräumen für Parkplätze werde zurückgehen – was uns wiederum ermöglichen soll, unsere entstehenden Megastädte so zu entwerfen, dass sie effiziente und angenehme Umgebungen bieten, um darin zu leben und zu arbeiten.
„Technologien entwickeln sich anders als geplant“
Keine Frage – dies sind relevante Themen. Laut einer Untersuchung der American Automobile Association (AAA) kosten Verkehrsunfälle in den USA rund 300 Milliarden Dollar pro Jahr, während man 75 Milliarden Dollar pro Jahr dafür aufwendet, Straßen, Autobahnen, Brücken und andere Infrastruktur so zu gestalten, dass sie dem unpräzisen und oft unvorhersehbaren Verhalten von Menschen gelenkter Fahrzeuge gerecht werden. Selbstfahrende Fahrzeuge, mit der Fähigkeit, „Schwärme“ zu bilden – möglicherweise in speziellen Fahrspuren –, würden womöglich den Auseinandersetzungen über die Notwendigkeit (und die Kosten) von Hochgeschwindigkeitszügen ein Ende bereiten. Staus kosten die Amerikaner jedes Jahr 4,8 Milliarden Stunden an Reiseverzögerung – das entspricht mehr als 100 Milliarden Dollar jährlicher Wartezeit und unnötigem Benzinverbrauch; davon können 23 Milliarden Dollar offenbar LKW-Staus zugeschrieben werden.
Wenn man all dem Glauben schenken darf, dann sind die einzigen Probleme, die das fahrerlose Auto nicht lösen kann, Erkältungen, Krebs und der Weltfrieden. Es scheint, dass diese „Technologie für alle Jahreszeiten“ über das Potenzial verfügt, zur Lösung einiger unlösbarer sozialer und wirtschaftlicher Probleme des 21. Jahrhunderts beizutragen. Aber ist dem wirklich so? Die historische Erfahrung lehrt uns, solchen Behauptungen mit Skepsis zu begegnen. Technologien haben eine unfehlbare Tendenz dazu, sich nie so zu entwickeln, wie ihre Ingenieure es geplant hatten.
Mensch und Maschine
Es gibt aber noch einen weiteren Grund innezuhalten und nachzudenken: Wenn man sich all diese Behauptungen in Ruhe angesehen hat, entdeckt man eine ihnen gemeinsam zugrunde liegende, beunruhigende Annahme: Dass nämlich die eigentlichen Probleme, die man lösen will, menschliche Fehlbarkeit und Schwäche sind. Demnach gelten Menschen als unberechenbar und potentiell gefährlich. Sie fahren angetrunken, sie leiden unter Konzentrationsschwächen, sie verhalten sich angeberisch, sie neigen zum Wetteifern, sie unterliegen Stress, und als Ergebnis all dieser (und vieler weiterer) Mängel sind sie in hohem Maße fehleranfällig. Als Argument für das fahrerlose Auto führen seine Befürworter an, dass von den sechs Millionen Unfällen jedes Jahr 93 Prozent auf menschliches Versagen zurückzuführen sind. Sie weisen darauf hin, dass die kostspielige Infrastruktur, die man benötigt, um diese alles andere als perfekten Fahrer im Zaum zu halten, hohe Kosten verursacht, verschwenderischen Benzinverbrauch und Staus fördert. Tatsächlich ist gemeint: Wenn wir das Problem menschlicher Fehlbarkeit lösen (d.h. menschliche Autofahrer durch Computer ersetzen), dann wird die Umwelt gedeihen, die Produktivität steigen, die Wirtschaft aufblühen und damit die Gesellschaft Ganzes profitieren.
„Das fahrerlose Auto steht für ein Herunterfahren statt einer Entfesselung der technologischen Vorstellungskraft und Entwicklungsfähigkeit“
Unter dieser Prämisse verliert die Entwicklung fahrerloser Autos viel von ihrer fantastischen Ambitioniertheit. Vielmehr zeigt sich, dass sie in hohem Maße dem Zeitgeist der Misanthropie huldigt, einem Produkt der Kultur der Begrenztheit. Anstelle einer mutigen und progressiven, zukunftsorientierten Vision erscheint das fahrerlose Auto sehr in der heutigen Zeit verhaftet und ein Versuch zu sein, nur das bereits Bestehende zu automatisieren. Darin zeigt sich die Abwertung dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein, ein Herunterfahren statt einer Entfesselung der technologischen Vorstellungskraft und Entwicklungsfähigkeit unserer Gesellschaft.
Ein Hauptaspekt der Diskussion um fahrerlose Autos, der nur von wenigen Befürwortern hinterfragt wird, ist der Umstand, dass es sich hier genau genommen um eine im historischen Sinne falsche Bezeichnung handelt. Die Entwicklung des Automobils ist die Geschichte der bemerkenswerten Interaktion zwischen menschlichem Handeln und technischer Zauberei. Das Auto wurde nie ohne einen menschlichen Fahrer gebaut oder geplant. Sowohl der Mensch als auch das Auto haben sich entwickelt und dadurch die moderne Gesellschaft, wie wir sie kennen, geschaffen. Ebenso wenig wie man vorhersehen konnte, welche Auswirkungen das Auto ein Jahrhundert später haben würde, sollten wir unser gegenwärtiges Wissen und unsere heutige Vorstellungskraft auf die Zukunft projizieren, so als wüssten wir bereits, wie diese aussehen wird. Die unkritische Akzeptanz des fahrerlosen Autos zeigt, dass unsere Vorstellungen in den Grenzen der heutigen Gesellschaft stecken bleiben.
Es stellt sich die Frage: Wenn wir den Fahrer aus dem Auto holen, ist es dann immer noch ein Auto? Ja, es wird immer noch eine Art mobile „Kutsche“ sein. Aber es wird kein Auto in der historischen Wortbedeutung mehr sein. Es umgeht die Geschichte des Autos und der Gesellschaft und – noch wichtiger – es macht uns blind für das, was in Zukunft möglich sein kann. Durch die Projektion des fahrerlosen Autos in die Zukunft frieren wir die Gegenwart ein und nehmen an, dass alles, was noch kommen kann, eine leicht veränderte Version dessen ist, was wir schon haben. Angesichts der fantastischen Kommunikations- und Sensortechnologie, die bereits heute verfügbar ist, kann man sich sicher ein Transportsystem vorstellen, ein mobiles On-Demand-System zum Fortkommen, das viel weiter reicht als das System „Auto“ und die Art und Weise, wie wir heutzutage reisen.
„Das Auto wurde zum mobilen Monument menschlicher Autonomie, Schaffenskraft und Freiheit“
Für die Diskussion um das fahrerlose Auto ist eine Kritik der Gegenwartskultur unumgänglich. Ohne eine historische Perspektive können wir nicht begreifen, was das Auto einst bedeutete, haben wir keine Möglichkeit, die Bedeutung des fahrerlosen Autos in der Gegenwart zu beurteilen. Gegenwartsbezogenheit hindert uns daran, die richtigen Fragen zu stellen. Denn: Verändern wir durch die Entfernung des Menschen vom Fahrersitz nur das Auto oder nicht auch Mobilität und moralisches Handeln insgesamt? Und wirft das nicht auch die Frage nach dem Menschsein ganz neu auf?
Die Geschwindigkeit des Fortschritts
Das Auto war das Musterbeispiel für alles, was bei der Industrialisierung und dem Kapitalismus der freien Märkte als fortschrittlich und fehlerbehaftet galt. Ein Wunderwerk der Verschmelzung zahlreicher Erfindungen und technischer Entwicklungen, katapultierte es den Menschen im wahrsten Sinne des Wortes auf den Fahrersitz. Das Auto, stets als eine Erweiterung der Sphäre menschlichen Wirkens wahrgenommen, wurde zum mobilen Monument menschlicher Autonomie, Schaffenskraft und Freiheit. Es veränderte unsere Städte und die Urbanisierung. Die Arterien der Autobahnnetze wurden zu Superhighways des freien Willens, unbehinderten Handels und Unternehmergeistes. So wie die heutigen, jüngeren Generationen die Informations- und Kommunikationstechnologien nutzen, um größere Freiheit, Autonomie und Identität zu erlangen, so nutzte die Nachkriegsgeneration das Auto. Sie passte es ihren Bedürfnissen an, schuf Identitäten und ermöglichte so ihre Flucht vor der Tyrannei der kleinstädtischen Engstirnigkeit und dem überwachenden Blick ihrer Eltern.
Allerdings war das Auto mehr als nur ein Mittel der Flucht oder Identität. Die Gesellschaft wurde vom Auto geprägt. Autofahren wurde zum Ausdruck der Entscheidungsfreiheit des Menschen. Obwohl in einzelnen Autos voneinander getrennt, bestätigte der Akt des Fahrens jeden einzelnen Fahrer als autonomes Wesen mit der gleichen Fähigkeit zur freien Entscheidung wie man selbst. Deshalb war das Bestehen der Fahrprüfung auch mehr als das Absolvieren eines Ankreuztest: Als symbolischer Moment markierte es den Übergang von der Jugend ins Erwachsenenalter.
„Das Auto war nicht nur eine technische Errungenschaft, sondern auch eine soziale“
Die „digitalen Eingeborenen“ von heute sind nicht mehr so wild darauf, ihre Führerscheine zu machen wie früher die Babyboomer. Im Jahr 1978 besaßen fast die Hälfte aller 16-Jährigen und 75 Prozent der 17-Jährigen in den USA einen Führerschein; bis zum Jahr 2008 sind diese Zahlen auf 31 Prozent bzw. 49 Prozent gefallen. Diese Entwicklung gibt Anlass zum Nachdenken. Nicht weil sie zeigt, dass die jetzige Generation das Auto verschmäht, sondern eines noch besorgniserregenderen Trends wegen, nämlich der Infantilisierung des Erwachsenenalters. Eine Entwicklung, die gravierende Auswirkungen nicht nur auf die Mobilität, sondern auf unsere Zukunftsperspektiven allgemein haben wird.
Bei diesem Argument geht es weder um Nostalgie noch darum, sich dem technischen Fortschritt entgegenzustemmen. Ich bin vielmehr der Meinung, dass das Auto nicht nur eine technische Errungenschaft war. Es war auch eine soziale Errungenschaft, die in ihrem Kern einige Schlüsselelemente ausdrückt, die den selbstbestimmten Menschen ausmachen.
Heute begegnen wir menschlichem Handeln zunehmend skeptisch, sehen es eher als Quelle von Problemen anstatt von Lösungen. Menschliches Handeln durch Technologien zu ersetzen, die, gesteuert von „Wenn-Dann-Algorithmen“ – welche mithilfe von Sensoren auf äußere Reize reagieren – eindeutige Vorhersehbarkeit versprechen, stellt ein großes Problem dar. Lässt sich in einer solchen Maschine die menschliche Willensfreiheit nachbauen? Gleichzeitig wird unterstellt, dass die auf eben dieser Willensfreiheit beruhende menschliche Fehlbarkeit reglementiert oder bis zu einem Punkt reduziert werden kann, an dem sie nicht mehr bestimmt, was tatsächlich geschieht und was nicht.
„Das fahrerlose Auto greift die menschliche Willensfreiheit an“
Neue Technologien standen immer mit alten in Konkurrenz, zunächst um Zeit und Aufmerksamkeit, zunehmend aber auch um Geld und dann um die Vorherrschaft. Die Druckerpresse griff die Handschrift an, die Fotografie die Kunst der Malerei, das Fernsehen das Radio und das gedruckte Wort, die Smartphones das Fernsehen. Beim fahrerlosen Auto reden wir aber von einem Angriff auf die menschliche Willensfreiheit – die Quelle von Erfindergeist und bewusster Anwendung von Wissen zur Lösung sowohl natürlicher wie vom Menschen verursachter Probleme. Die Suche nach der Berechenbarkeit birgt die Gefahr, die Menschheit einer ihrer wertvollsten Fähigkeiten zu berauben – der Freiheit, Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen.
Technologie und Willensfreiheit
Die Auswirkungen des fahrerlosen Autos sind aus diesen Gründen immens. Zwar hat jede Stufe technologischer Entwicklung stets ein gewisses Maß an gesellschaftlicher Angst erzeugt. Hier reden wir aber über etwas völlig anderes. Die Revolution der Textilindustrie zu Beginn des Industriezeitalters, die ausgebildete Fachkräfte durch Arbeiter ersetzte, welche nur noch dazu dienten, die Maschinen am Laufen zu halten, hatte eine ganz andere Dynamik als die Revolution des fahrerlosen Autos. Die Industrialisierung der Gesellschaft während des 19. Jahrhunderts wurde als Sprung nach vorn gesehen, in eine bessere Zukunft, in der Erfindergeist, Wissenschaft und Rationalität Fortschritt bedeuteten. Natürlich brachte sie auch große soziale Umbrüche mit sich, vom Austausch von Fachkräften mit Maschinen bis zur Überzeugung, dass technische Berechnung dem menschlichen Urteilsvermögen überlegen ist.
Die Reduktion der Menschen auf bloße Anhängsel von Maschinen durch den technokratischen Kapitalismus war jedoch getrieben durch das kapitalistische Bedürfnis, Arbeit zu einer Ware zu machen, sie lediglich in einen weiteren Produktionsfaktor umzuwandeln, einen weiteren Markt für Kapitalkonsum, getrieben durch den unaufhaltsamen Antrieb, diesen zu vermehren. So unangenehm das für die direkt Betroffenen gewesen sein mag, es war revolutionär, und zwar weil die neuen Produktionsmittel und Kommunikationswege die Fesseln alter Traditionen brachen und radikale Vorstellungen von Gleichheit und Freiheit hervorbrachten. Durch die Reduktion des menschlichen Willens auf ein Anhängsel von Maschinen wurde der industrielle Kapitalismus zum Geburtshelfer für das Aufeinandertreffen politischer Interessen, angetrieben durch konkurrierende Vorstellungen von moralischer und menschlicher Willensfreiheit. Ironischerweise war es der technokratische Kapitalismus, der dem konfliktbeladenen Herzen der modernen Gesellschaft Autonomie und Willensfreiheit einpflanzte.
„Wir sind keine fahrerlosen Maschinen, programmiert, nach algorithmischer Wenn-Dann-Logik zu handeln“
Jetzt aber sieht es so aus, als hofften wir, unsere Willensfreiheit vollständig durch Technologie ersetzen zu können. Dies ist hochproblematisch, weil es die Menschheit und die Technologie abwertet. Es verankert etwas in der Jetzt-Zeit, was sich noch gar nicht festmachen lässt und unterschätzt dabei völlig, was in Zukunft noch alles möglich sein könnte.
Menschliches Wissen und Schöpfergeist sind niemals fix oder abgeschlossen. Wäre dies der Fall, gäbe es keinen Fortschritt. Die Vorstellung, es wäre möglich, ethische Rahmenbedingungen für Maschinen zu schaffen, die sämtliche möglichen zukünftigen Eventualitäten berücksichtigten, ist schlicht lächerlich. Menschliche Ethik schreitet stets voran und unterliegt einem historischen Wandel. Wir begegnen immer wieder Situationen und Ereignissen, für die wir noch keine gut entwickelten moralischen und sozialen Kodizes besitzen (z.B. bei assistierter Selbsttötung). Und es braucht keine großen Geschichtsgelehrten für die Feststellung, dass bestimmte moralische und soziale Kodizes, die einst als akzeptabel und alternativlos galten, heute heftig abgelehnt werden: Rassentrennung und Sklaverei seien hier als offensichtliche Beispiele genannt. Menschliche Handlungsfähigkeit dadurch abzuwerten, dass man die momentan gültigen moralischen Wertmaßstäbe einfriert, drückt ein tiefes moralisches Misstrauen gegenüber der Menschheit und unserer Fähigkeit aus, uns moralisch und sozial weiter zu entwickeln.
Die Umwandlung der moralischen Urteilsfähigkeit in eine programmierte wissenschaftliche Errungenschaft beraubt die Autonomie des Individuums jeder Bedeutung. Menschliche Willensfreiheit ist ein Prozess mit offenem Ende. Jeder Mensch ist, in den Worten des Philosophen Lucien Goldmann, „ein unabhängiger Ausgangspunkt“. 1 Jeder von uns ist ein neuer Anfang, in der Lage, zur Gestaltung der Zukunft beizutragen. Wir sind nicht dazu verdammt, nach einem vorbestimmten Drehbuch zu handeln. Wir sind keine fahrerlosen Maschinen, programmiert, nach algorithmischer Wenn-Dann-Logik zu handeln.
„Die Menschheit soll in einem sicherheitsbetonten, vorhersagbaren und statischen Universum festgezurrt werden“
Wir folgen den Regeln der Straße – etwa der Straßenverkehrsordnung –, aber wir haben die moralische Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und auch gegen die Regeln zu handeln, wenn die Umstände es erfordern. Wir können eine Vielzahl von Situationen beurteilen, die nicht in einer 40-minütigen Standard-Fahrprüfung vorkommen. Wir können zum Beispiel bei Gefahr die Geschwindigkeitsbegrenzung überschreiten oder eine durchgezogene weiße Linie überfahren, wenn unsere Spur teilweise blockiert wird. Jede Autofahrt bringt Hunderte von Entscheidungen und Entschlüssen mit sich, viele davon neu und ungewohnt, bei denen wir aber uns selbst (und anderen) zutrauen, sie ethisch und klug zu fällen.
Doch die Misanthropie, die dem Konzept des fahrerlosen Autos innewohnt, zielt darauf ab, diese Fähigkeit zu beenden und unsere Entscheidungsmöglichkeiten festzulegen wie einen vorab programmierten Algorithmus. Warum sollten wir uns so beschränken? Autonome Fahrzeuge sind nicht nur eine Ersetzung menschliche Fahrer – genau so wenig, wie die ersten Autos einfach nur an die Stelle von Pferden traten. Diese neue Art von Autos verfolgt das Ziel, die Grenzen der zeitgenössischen Gesellschaft zu automatisieren und die Menschheit in einem sicherheitsbetonten, vorhersagbaren und statischen Universum festzuzurren.
Die Befürworter der fahrerlosen Autos erinnern an diejenigen, die annehmen, dass, nur weil die Spurweite moderner Eisenbahnen angeblich durch die Breite einer Kutsche bestimmt worden war, alle Eisenbahnen der Zukunft auf solchen Schienen fahren werden. Die größte Gefahr liegt nicht im Mangel an Konzepten und Kategorien für eine On-Demand-Mobilität der Zukunft. Nein, die größte Gefahr liegt darin, dass wir unbewusst einer Zukunft entgegengehen, in der die Quelle all dieser Erfindungen – die Menschheit und ihr technischer Schöpfergeist – selbst zurückgestutzt wurde.