23.04.2019

Fahren unter Aufsicht

Von Neil McBride

Titelbild

Foto: hpgruesen via Pixabay (CC0)

Selbstfahrende Autos ermöglichen Staaten, Herstellern und Hackern die umfassende Kontrolle über das Bewegungsverhalten der Bürger

Man stelle sich ein modernes fahrerloses Auto vor, das mit einem behinderten, 90 Jahre alten Insassen eine Straße entlangfährt. Nun tritt eine junge Mutter mit ihrem Kleinkind auf die Straße. Das Automobil steht vor einer Entscheidung: Mutter und Kleinkind überfahren oder in eine Wand rasen und den Passagier töten. Hier haben wir es mit einer Variation des Trolley-Dilemmas (deutsch: Weichenstellerproblem) zu tun, das den alltäglichen wie akademischen Diskurs über die Ethik selbstfahrender Autos dominiert. Das Problem mit solchen Debatten ist nicht nur, dass sie den komplexen Hintergrund verkennen, vor dem solche Technologien bestehen, sondern dass sie von den eigentlichen Herausforderungen ablenken. Die wahren ethischen Probleme fahrerloser Autos sind Fragen von Politik und Macht.

Rund um den Globus zeigen Regierungen ein gewaltiges Interesse an selbstfahrenden Autos. Die deutsche Regierung hat einen ethischen Leitfaden für selbstfahrende Autos ausgearbeitet. Die Regierung Großbritanniens verspricht selbstfahrende Autos auf den Straßen im Jahr 2021, die russische bereits Ende 2018. Besonders ambitionierte Pläne hat China, wo bis 2025 selbstfahrende Autos mit dem Internet verknüpft und Sensoren in Straßen und Ampeln installiert werden sollen. Überaus aufschlussreich ist der Stellenwert, der selbstfahrenden Autos im „Weißbuch zur Zukunft Europas“ vom März 2017 beigemessen wird. Hier wird u.a. ein Bild des künftigen Europa gezeichnet, in dem die EU-Mitgliedsstaaten sich zu einem großen, föderalen Superstaat zusammengeschlossen haben. In diesem Szenario werden vernetzte Fahrzeuge allgegenwärtig sein und sich über jegliche Grenzen hinweg von Stadt zu Stadt bewegen.

„Statt uns freier zu machen, drohen selbstfahrende Autos, neue Formen der Überwachung und Unterdrückung zu ermöglichen.“

Für ihr Interesse an vernetzten und selbstfahrenden Autos haben Regierungen gute Gründe – es geht nicht nur um die potentiellen wirtschaftlichen Vorteile. Fahrerlose Autos bieten eine noch bessere Nachverfolgung und Kontrolle der Bewegungen der Bürger. Statt uns freier zu machen, drohen selbstfahrende Autos, neue Formen der Überwachung und Unterdrückung zu ermöglichen.

Ein selbstfahrendes Auto ist ein Rechner auf Rädern; das ultimative mobile Gerät mit Internetanschluss. Vollgestopft mit Sensoren, bietet es einen konstanten, in zwei Richtungen verlaufenden Datenfluss. Das Auto sendet Informationen über seinen Betrieb an den Hersteller. Es empfängt Software-Updates und Steuersignale. Der Hersteller weiß, wo das Auto sich befindet, wie die Straßenverhältnisse und die Temperatur sind und wie das Fahrzeug sich bei einer bestimmten Geschwindigkeit verhält. Darüber hinaus kann die jeweilige Kfz-Versicherung minutengenaue Informationen über Standort, Geschwindigkeit sowie den Zustand der Straße erhalten und könnte die Versicherungsbedingungen entsprechend anpassen. Sie könnte sogar mit zehn Minuten Vorwarnzeit die Deckung entziehen und das Auto zum Stehen bringen.

Auch den Datenbanken der Regierungen wird wahrscheinlich bekannt sein, wo sich das Fahrzeug befindet, ob es dort sein soll und wo es hinsteuert. Und mit den Methoden der prädiktiven Analytik wird es sogar möglich sein, vorauszusagen, wohin die nächste Fahrt gehen wird. Smarte Autobahnen werden mit den Autos kommunizieren, den Verkehrsfluss steuern und fahrerlose Autos bremsen. In smarten Städten werden Ampeln anhand von Vorhersagen und Berechnungen über Staus, Straßenarbeiten oder andere Erfordernisse den Verkehr umlenken. So können Märkte für die Nutzung schneller Verbindungen und den Zugang zu zentralen Zielen entstehen. Unternehmen könnten dafür bezahlen, dass ihre Mitarbeiter bevorzugte Strecken nutzen können. Reiseprotokolle können dokumentieren, wo man sich zu welchem Zeitpunkt befunden hat. Aus der Umgebung, den Zielen und den Zeiten wird man Rückschlüsse auf die Gründe der Fahrt ziehen können.

Das Ende der Autonomie

Über 130 Jahre lang repräsentierte das Auto das Höchstmaß an Autonomie, Individualität und demokratischer Freiheit. Spritztouren waren privat und anonym. Man kann fahren, wohin man mag und wann man mag. Wir müssen niemanden informieren und uns vor niemandem rechtfertigen. Und ob wir uns an die gegebenen Regeln halten, obliegt unserer eigenen Verantwortung. Selbstfahrende Autos setzen dem ein Ende. Fortan werden Hersteller, Staaten und Behörden wissen, wohin wir fahren, was wir dort machen und wann wir es machen. Sollte jemandem missfallen, was wir tun, kann man uns künftig stoppen, den Unfallschutz entziehen, daran hindern, bestimmte Straßen zu befahren oder einfach gleich das Auto stilllegen. Nicht mehr das Auto wird autonom sein, sondern die Hersteller und Behörden, die das Auto betreiben und Informationen aus diesem beziehen.

„In demokratischen Gesellschaften wird der wachsende Fluss personalisierter Daten in Richtung zentraler Regierungsstellen die Basis für Regulierung und Überwachung bilden.“

Selbstfahrende Autos werden ein neues Zeitalter der Kontrolle einläuten. Unter dem Deckmantel von Sicherheit und Risikominderung wird dem Menschen die Selbstbestimmung entzogen und an andere übertragen, seien es Städte, Staaten oder Kommissionen. Zur Gewährleistung unserer Sicherheit lässt man uns machtlos zurück. Von hier an werden unsere Überwacher unseren Kurs zu ihrem Zweck ändern können, ob zur Vermeidung von Staus oder wenn mal schnell Platz für jemand Wichtigeren gemacht werden muss. Von hier an wird man uns zu bestimmten Geschäften oder zur nächsten Polizeiwache manövrieren können. Von hier an werden Regierungen in der Lage sein, Populationen von Fahrzeugen nach Gutdünken hin und her zu dirigieren.

In demokratischen Gesellschaften wird der wachsende Fluss personalisierter Daten in Richtung zentraler Regierungsstellen die Basis für Regulierung und Überwachung bilden. Der so verwaltete Bürger wird zum Ziel von Verhaltenssteuerung und Werbung, die direkt ins selbstfahrende Auto gesendet wird. In autoritären Gesellschaften wiederum kann die Obrigkeit Menschen davon abhalten, zu einer Demonstration oder in die Kirche zu gehen. Derartige zentral verwaltete Systeme, die wesentlich für die Sicherheit selbstfahrender Autos sein werden, sind nicht nur anfällig für unvermeidbare technische Probleme komplexer Systeme, sondern auch für Hackerangriffe durch andere Staaten oder Personen. Warum ein Auto hacken, wenn man auch gleich ein ganzes städtisches System hacken und damit den Verkehr zum Stillstand bringen oder einfach mal 30.000 Autos ineinander fahren lassen kann?

Stellen wir uns die Frage nach der ethischen Problematik selbstfahrender Autos, dürfen wir uns nicht auf moralische Dilemmata wie das Weichenstellerproblem beschränken, sondern müssen Aspekte der Selbstbestimmung, Gemeinschaft, Transparenz, Identität, Werte und Einfühlungsvermögen miteinbeziehen. Unsere ethische Debatte muss auch die Verschiebung der Machtverhältnisse, politische Verantwortlichkeiten und die Menschenrechte einbeziehen, die wir mit fahrerlosen Autos wohl opfern müssten.

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