16.01.2015

Europas Problem ist hausgemacht

Analyse von Frank Furedi

Die Terrorangriffe von Paris scheinen die vorherrschende Angst vor der Islamisierung Europas zu bestätigen. Die Ursache hierfür, sieht der Autor, in der Unfähigkeit europäischer Regierungen und Gesellschaften liegt, ihre eigenen Werte zu vertreten

In ganz Europa zeigt die spontane Solidarität mit Charlie Hebdo, dass hier nicht nur ein Attentat auf zwölf Menschen, sondern auf fundamentale Werte verübt wurde, die alle europäischen Bürger betreffen. Die Menschen spüren, dass ein grundlegender Teil ihres Lebens bedroht wird. Offensichtlich tun sich Frankreich und Europa jedoch schwer damit, ihre Sorge in klare Worte zu fassen.

Das gilt nicht nur für den politischen Laien. Politische und intellektuelle Eliten scheinen genauso verwirrt und unsicher. Auf der Suche nach den Schuldigen richten Medien ihren Blick in die Ferne. Jemen, Syrien, sogar Pakistan finden Erwähnung als Ursprung des Attentats. Wahlweise sind Al-Qaida oder der sogenannte Islamische Staat verantwortlich. Die Attentäter werden als kampferprobte disziplinierte Soldaten gehandelt.

„Die wahre Bedrohung liegt nicht außerhalb westlicher Gesellschaften“

Auch wenn sich die Berichterstattung hier noch entwickelt, vermuten alle einen Angriff von außen. Doch die wahre Bedrohung liegt nicht außerhalb westlicher Gesellschaften. Die Angreifer sprachen fließend Französisch. Sie kannten die Straßen von Paris. Und sie wussten auf jeden Fall, wohin sie fliehen und wo sie sich verstecken konnten. Sie mögen zwar einige Zeit im Nahen Osten verbracht haben, aber sie waren genauso ein Produkt der französischen Gesellschaft wie ihre Opfer.

Der stille Kulturkampf

Frankreich teilt das Problem vieler westeuropäischer Gesellschaften, die Entfremdung vieler Bürger von den Traditionen und der Kultur ihrer Heimat nicht offen eingestehen zu können. Öffentlich zuzugeben, dass diese Entfremdung in manchen Fällen in Verachtung und Hass gegenüber dem Vaterland umgeschlagen ist, scheint zu viel verlangt. Deswegen weichen europäische Politiker dem Thema aus, spielen es herunter oder versuchen die Ursachen außerhalb zu finden.

Die offizielle Antwort auf solch innere Feindschaft gegenüber Europas Gesellschaften und ihrer Kultur ist: „Lasst uns nicht darüber reden.“ Denn Regierende fürchten, dass ein offener Diskurs Islamisten und Rechten zugleich in die Arme spielen könnte. Deshalb erregte die ICM-Studie, nach der 16 Prozent aller französischen Bürger eine positive Einstellung gegenüber dem IS haben – bei 18- bis 24-Jährigen waren es sogar 27 Prozent – so wenig Aufmerksamkeit. Auch sieben Prozent aller Bürger Großbritanniens und drei bis vier Prozent der Deutschen unterstützen laut der Studie den IS. [1]

Natürlich sind Meinungsumfragen oft unzuverlässig und erzählen nur einen Teil der Geschichte. Aber es bedarf nur weniger Gespräche mit jungen Muslimen, um die geistige Distanz zu erkennen, die zwischen ihnen und der Gesellschaft, in der sie leben, besteht. In manchen Fällen ist diese Distanz in Feindseligkeit und Hass übergegangen. Regierende und Medien versuchen oft, dschihadistische Internetseiten oder anderweitige Einflussnahme durch islamistische Organisationen im Mittleren oder Fernen Osten für die wachsende Feindseligkeit junger Muslime verantwortlich zu machen. Aber das Problem kommt nicht wirklich von außen. Die Attraktivität anti-westlicher Haltungen für viele junge europäische Muslime lässt sich durch das Versagen der Gesellschaft erklären, diese jungen Menschen zu sozialisieren.

Dieses Versagen ist durch fehlendes Vertrauen in das intellektuelle und moralische Vermächtnis Europas begründet. Deshalb ringen Schulen damit, die Werte der Aufklärung einigen ihrer muslimischen Schüler zu vermitteln. In den 1990er-Jahren, schreibt der französische Historiker Georges Benoussan, „begegnete Lehrern, die in Schulen mit einem hohen Anteil nordafrikanischer Schüler unterrichteten, beim Thema Holocaust oft verbale Gewalt“. Laut Benoussan reagierten Schüler mit der Aussage „Das ist erfunden!“ oder sogar mit Applaus bei der Erwähnung von Treblinka und Auschwitz. [2] Die „alternative“ Geschichtsauffassung der relativ jungen Schüler über die jüngste Vergangenheit belegt einen inneren Konflikt in der französischen Gesellschaft. Aber statt das Problem anzuerkennen und nach einer Lösung zu suchen, wurde es beiseitegeschoben. Daraus resultierte, dass heute noch mehr junge Menschen bei der Erwähnung von Auschwitz Beifall klatschen.

„Schulen nehmen den Holocaust aus dem Lehrplan, weil sie den Konflikt mit dem Antisemitismus einiger muslimischer Schüler vermeiden wollen.“

Britische Schulen verhalten sich in dieser Sache ähnlich. Einem Bericht zufolge, der nach den Unruhen in Bradford 2001 veröffentlicht wurde, bei denen Konflikte zwischen der weißen Mehrheit und einer asiatischen Minderheit Ausdruck fanden, „können einige Lehrer mit muslimischen Schülern nur schwer über das Thema Holocaust sprechen.“ Ein Bericht der Historischen Gesellschaft [3] mit dem Titel „Das Unterrichten gefühlserregender und kontroverser Geschichte erwähnt sogar das Beispiel eines „historischen Fachschaft in einer Stadt im Norden Englands“, die „den Holocaust nicht als Kursthema für die Realschule behandelt – aus Angst davor, den Antisemitismus und die Holocaustleugnung einiger muslimischer Schüler herauszufordern“. Es wird auch eine historische Fachschaft an einer Schule erwähnt, die „den Holocaust trotz offensichtlichem Antisemitismus bei einigen Schülern unterrichtet“, doch dieselbe Fachschaft vermied es absichtlich, die Kreuzzüge als Thema durchzunehmen, weil „eine ausgeglichene Bearbeitung des Themas in direktem Konflikt gestanden hätte mit dem, was in einigen örtlichen Moscheen unterrichtet wird“.

Diese Berichte zeigen, dass Schulen allzu oft die Konfrontation mit kulturellen und ideologischen Einstellungen muslimischer Schüler scheuen. Die Tatsache, dass selbst die Kreuzzüge nicht einmal aus „ausgeglichener“ Perspektive behandelt werden, um kulturelle Gemüter nicht zu beleidigen, offenbart die defensive Moral und das intellektuelle Klima an europäischen Schulen. Wenn einer Behandlung des Holocaust aus dem Weg gegangen darf, was steht dann noch alles zur Debatte? Ebenfalls bezeugen diese Berichte fehlendes Vertrauen säkularer Schulen auf ihre eigenen Werte. Sie sind nicht länger bereit, am Kampf der Ideen teilzunehmen, der in der Gesellschaft im Stillen wütet.

Wortlosigkeit

Doch trotz offiziellen Schweigens zu solch tiefgreifenden kulturellen Konflikten sind sich viele Menschen bewusst, dass etwas nicht stimmt. Ohne eine erwachsene öffentliche Debatte über unsere kulturell geteilte Gesellschaft fehlen den meisten Menschen die Worte. Zu häufig fallen die Reaktionen auf die Bedrohung durch radikale Dschihadisten zu simpel aus und beschwören den Untergang des Abendlandes, wenn nicht der ganzen Welt herauf. Letztes Jahr hat die Veröffentlichung von Der französische Selbstmord von Eric Zemmour, das den Untergang der französischen Gesellschaft und ihrer Kultur prophezeit, einen Nerv getroffen. Als übertriebene Panikmache war Zemmours Buch typisch für die Art, wie die Bedrohung der französischen Kultur in der Regel behandelt wird. Michael Houellebecqs aktueller Roman Unterwerfung offenbart eine ähnliche Haltung wie Der französische Selbstmord. Er stellt sich das Frankreich der Zukunft als eine islamisierte Nation vor, die allen Kontakt mit den Werten der Aufklärung verloren hat.

In Deutschland ist mit Pegida eine neue Protestbewegung gegen die „Islamisierung“ als eine Reaktion öffentlicher Ängste bezüglich militant-islamistischer Gruppen entstanden. Die Behauptung von Pegida („Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“), die Zukunft Deutschlands und des Westens sei islamisch, hat viel Aufmerksamkeit erregt. Dass die Vorstellung eines islamischen Europas so viele Menschen beunruhigt, sagt viel über die Unsicherheit der Deutschen aus, was ihre eigenen Werte angeht. Pegida-Gründer Lutz Bachmann [4] sieht sich sogar in humanistischer und aufklärerischer Tradition. Die Bewegung ist eine unvermeidbare Reaktion auf das Ausbleiben einer vernünftigen Debatte über den Islam und die europäische Gesellschaft. Das offizielle Schweigen hat offenbar nur Unsicherheit, Verwirrung und ängstliche Übertreibung angesichts der radikalislamischen Bedrohung geschürt. Europa weiß einfach nicht, wie es die Bedrohung einordnen soll.

„Pegida ist eine unvermeidbare Reaktion auf das Ausbleiben einer vernünftigen Debatte über den Islam und die europäische Gesellschaft.“

Die Vorstellung der Islamisierung Europas und die offizielle Multikulti-Rhetorik dienen beide dazu, die Konfrontation mit der Realität zu vermeiden. Die wahre Bedrohung für Europa ist keine äußere Macht oder die unwiderstehliche Verlockung des Islams. Das wahre Problem ist, dass die kulturellen und politischen Eliten Europas es nicht schaffen, ihrem kulturellen und historischen Vermächtnis in unseren Zeiten relevante Bedeutung zu verleihen. Europa hat den Multikulturalismus aus vielen Gründen übernommen. Doch der stärkste Antrieb war und ist die Unfähigkeit europäischer Gesellschaften, ihr Leben mit positiven, zukunftsorientierten Werten zu erfüllen. Indem sie sich für Multikulti entschieden haben, sind Regierungen der schwierigen Aufgabe aus dem Weg gegangen, eine gemeinsame Grundlage für das gesellschaftliche Zusammenleben aufrechtzuerhalten.

Multikulturalismus dient also als eine Form der politischen Flucht. Aber er förderte ebenfalls den destruktiven Prozess der kulturellen Segregation, so dass Debatten nur noch innerhalb von Parallelgesellschaften geführt werden. Es ist kaum überraschend, dass junge Menschen, die während ihres Aufwachsens nie wirklich mit den offiziellen Werten ihres Landes in Berührung kommen, bei anderen die Bestätigung ihrer Ansichten und Vorurteile suchen und finden. Millionen junger Muslime schöpfen heute aus einer ganz anderen Informationsquelle als andere Gruppen. Doch das Aufkommen von Meinungen, die im Gegensatz zu offiziellen oder populären Ansichten stehen, fällt den Medien nur selten auf, weil über den kulturellen Graben hinweg kein Dialog stattfindet.

Die Empfindungen, die tausende junge Europäer in den Krieg nach Syrien treiben, sind durch Verwirrungen und Spannungen in Europa entstanden. Meinungsumfragen zufolge befürwortet in Frankreich und anderen Teilen Europas ein viel höherer Anteil an jungen Muslimen den IS als im Nahen Osten. Das zeigt, dass hier in Europa, nicht „da drüben“ nach der Quelle anti-westlichen Denkens gesucht werden sollte.

Der Ursprung der Ereignisse, die zum Anschlag in Paris geführt haben, mag in einer Diskussion in einem Klassenzimmer in den Vororten von Paris oder Marseilles zu finden sein. Einige Schüler waren ohne Frage davon überzeugt, dass der Holocaust ein Mythos ist. Und die defensive Art, wie ihre Lehrer mit ihren Argumenten umgingen, kann sie bloß in ihrer Überzeugung bestärkt haben, die die Älteren aus ihrem Umfeld vermittelt hatten. Als Teenager nahm ihre Entfremdung gegenüber der französischen Gesellschaft immer mehr zu. Dann entdeckten sie den radikalen Islam – ein Medium, das es ihnen erlaubte, ihrer Entfremdung Ausdruck zu verleihen. Der Rest ist Geschichte. Aber wenn Europa aufwacht, muss das nicht die Zukunft sein.

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