01.05.2005

Europas neue unheilige Allianz

Kommentar von Julian Namé

Das Konzept staatlich zertifizierter Religionen und Prediger sollte abgelehnt werden und stattdessen Glaubensfreiheit gefordert werden.

Selten diskutierte Europa in seiner jüngeren Vergangenheit so kontrovers über die Rolle der Religion im öffentlichen Leben wie derzeit. Ein Dauerbrenner in diesem Themenzusammenhang ist die Diskussion um das so genannte Kopftuch-Verbot in staatlichen Einrichtungen und Schulen. Während es in mehreren deutschen Bundesländern muslimischen Lehrerinnen untersagt ist, ein Kopftuch zu tragen, erstritt kürzlich eine Schülerin in Großbritannien das Recht, zum Unterricht in einer Jilbab (ein bis zum Boden reichendes Gewand, das nur Hände und Gesicht frei lässt) zu erscheinen.[1] Eine derartige Entscheidung wäre in Frankreich, dem Land, das als erstes die Trennung von Staat und Kirche etabliert hatte, undenkbar. Im Versuch, diese Tradition aufrechtzuerhalten, hatte Premierminister Jean-Pierre Raffarin im letzten Jahr das Tragen von Kopftüchern sowie aller anderen religiösen Kleidungsstücke und Symbole in staatlichen Schulen verboten.[2] Trotz aller nationalen Unterschiede im Umgang mit Religion in der Öffentlichkeit wird das Thema in Europa noch für einige Zeit umstritten bleiben. Es birgt Sprengstoff, da beide Seiten in diesem Streit von sich behaupten, die wahren Verfechter religiöser Toleranz, von Frauenrechten sowie des Respekts vor fremden Kulturen zu sein.

Wie der Streit eskalieren kann, zeigt sich in Frankreich, wo die diesjährigen Feierlichkeiten zum 100-jährigen Bestehen des Gesetzes über die Trennung von Staat und Kirche – anstatt patriotische Gemeinschaftsgefühle zu erwecken – überschattet werden von der Zerrissenheit der öffentlichen Meinung. Dieser Meinungsstreit zieht sich sowohl durch die Medien als auch durch intellektuelle Kreise bis hinauf in das französische Polit-Establishment. Während Staatspräsident Jacques Chirac das Gesetz von 1905 in seiner jetzigen Gestalt verteidigt, würde sein Erzrivale Nicolas Sarkozy, der Chef der konservativen UMP („Union pour un Mouvement Populaire“), es am liebsten der Geschichte überantworten: „Ist es so befremdlich, ein 100 Jahre altes Gesetz anpassen zu wollen, das verabschiedet wurde, als es keine Muslime in Frankreich gab? Wir müssen den Islam in Frankreich von dem ausländischen Einfluss befreien.“[3] Demgegenüber warnt Innenminister Dominique de Villepin, eine Reform des Gesetzes würde unweigerlich „die Büchse der Pandora öffnen“ und einen der zentralen Pfeiler der französischen Gesellschaft unterminieren.[4]
Diesen Bedenken pflichtet auch der Schlussbericht der Grundsatzkommission unter der Leitung von Bernard Stasi (die „Stasi-Kommission“) über „Die Anwendung des Prinzips des Laizismus in der Französischen Republik“ bei. Er gibt zu bedenken, dass „bei einer Krise des Laizismus die französische Gesellschaft Mühe hat, eine gemeinsame Zukunftsperspektive zu entwickeln“.[5] Es scheint, als verlöre die französische Gesellschaft immer mehr an Einigkeit, je stärker ihr laizistisches Grundprinzip diskutiert wird.
Jüngster Beweis hierfür ist die Polemik anlässlich des Todes von Papst Johannes Paul II. Die Anordnung der Staatstrauer löste bei der Opposition heftige Reaktionen aus. So forderte der Sozialist Jean-Luc Mélenchon die Regierung auf, „die Laizität ohne Wenn und Aber unter Beweis zu stellen“.[6]
Während Frankreich einerseits tief gespalten erscheint, entwickelt sich andererseits ein neuer Konsens, der den Staat explizit ermutigt, sich in die privaten religiösen Angelegenheiten der muslimischen Gemeinschaft einzumischen. Dieser Trend zeichnete sich bereits im Jahr 2002 ab, als der damalige Innenminister Sarkozy die Gründung des Französischen Rats des muslimischen Kults (Conseil
français du culte musulman, CFCM) beförderte. Der CFCM ist eine staatlich anerkannte Dachorganisation, die das Ziel verfolgt, die Interessen der muslimischen Gemeinschaft in Frankreich zu vertreten.[7] Obwohl von niemand geringerem als der katholischen Kirche als ein ungeheuerlicher Verstoß gegen das Gesetz von 1905 verurteilt, begrüßten zahlreiche Journalisten, Intellektuelle und Politiker die Gründung des Rates. Nach dem 11. September 2001 forderten französische Politiker die Behörden verstärkt dazu auf, die Finanzen muslimischer Organisationen, insbesondere solcher mit Beziehungen nach Saudi-Arabien, nach Algerien und in den Iran, einer strikteren Kontrolle zu unterwerfen. Aus Angst vor einem Aufleben des islamischen Fundamentalismus schlug der jetzige Innenminister de Villepin kürzlich die Gründung einer muslimischen Kulturstiftung vor, die offiziell legitimiert den Bau von Moscheen und anderer religiöser Einrichtungen finanzieren solle.[8]
Im heutigen politischen Klima jedoch führt der Konsens, dass der Staat sich mehr in die privaten religiösen Angelegenheiten der Menschen einmischen solle, beinahe automatisch zu immer autoritäreren Forderungen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass mittlerweile der Staat aufgerufen wird, die Ausbildung sowie die religiöse Praxis muslimischer Prediger – der Imame – zu überwachen und sogar zu finanzieren. Derlei Vorschläge sind kein französisches Privileg; sie werden europaweit geäußert.
Als der französische Innenminister (der zugleich auch für Religion zuständig ist) seine Beunruhigung darüber zum Ausdruck brachte, dass 30 Prozent der in Frankreich predigenden Imame kein Französisch sprächen und daher überhaupt nicht in einen Dialog über die zentralen sozialen Werte der französischen Republik einbezogen werden könnten, wurden auch in Deutschland Stimmen laut, die ähnliche Sorgen äußerten.[9] Die Vorsitzende der Bündnisgrünen, Claudia Roth, ließ angesichts der Tatsache, dass etwa 90 Prozent aller in Deutschland predigenden Imame aus Marokko, der Türkei oder dem Iran stammen, verlautbaren, es sei „falsch, dass zum Predigen immer noch Leute aus der Türkei nach Deutschland geschickt werden, die von unserer Gesellschaft keine Ahnung haben“.[10] Offensichtlich geht Roth davon aus, dass allein die Fähigkeit, auf Deutsch zu kommunizieren, Imame von „unserem Wertsystem von Rechtstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten“ überzeuge. Diese Ansicht teilt sie scheinbar mit der baden-württembergischen Kultusministerin Annette Schavan (CDU), die nach Schweizer Vorbild ein Gesetz schaffen will, das für Predigten in Moscheen die deutsche Sprache vorschreibt.[11] Hinter dem Vorwand, kulturellen Austausch zu ermöglichen, steckt das offensichtliche Bestreben, das religiöse Treiben der muslimischen Gemeinschaft so gut wie möglich kontrollieren zu können. Am deutlichsten wird dieses Streben in Österreich, in dem die Politik offen das Ziel verfolgt, „ausschließlich im Land ausgebildete Imame in den Moscheen predigen [zu lassen] und so auch eine bessere Kontrolle über die Inhalte“ zu ermöglichen.[12]

„Kann es etwas Autoritäreres geben als einen Staat, der nicht nur kontrolliert, was man tut, sondern auch, woran man glaubt?“

Die Einmischung des Staates in die Ausbildung islamischer Imame ist aus zweierlei Gründen problematisch.
Zum einen trägt sie ungeachtet vieler anderslautender Bekundungen nicht zur Integration der muslimischen Gemeinschaften in die Gesellschaft bei, im Gegenteil: die Benennung „staatlich geprüfter“ Prediger vergrößert das tiefsitzende Misstrauen in der muslimischen Bevölkerung. Während Muslime sich einem Generalverdacht ausgesetzt sehen, erscheinen sie und ihre Religion anderen Bevölkerungsgruppen als ein Problem, das staatlicher Kontrolle bedürfe. Eine solche Entwicklung wäre auch deswegen kontraproduktiv, weil sie immer mehr selbst ernannte religiöse Führer produzieren würde, die für sich in Anspruch nähmen, die wirklichen Vertreter ihrer Gemeinschaft zu sein. Das ist das Letzte, was die öffnungs- und integrationsbereite muslimische Gemeinschaft braucht. Ganz abgesehen davon stellt sich die Frage, wie demokratisch eine derartige Entwicklung wäre. Tatsächlich ist nur eine Gesellschaft, die selbstsicher mit ihren eigenen Wertvorstellungen umgeht, überhaupt imstande, anderen Gruppen volle Religionsfreiheit einzuräumen. Daher kann deren Integration nur auf der Basis von Freiheit gelingen und nicht erzwungen werden.
Der zweite und wichtigere Grund aber, warum staatliche Einmischung in Religionsfragen sowie in die Ausbildung von Predigern problematisch ist, ergibt sich aus dem Umstand, dass derartige Programme nicht nur einen Versuch darstellen, das Verhalten von Menschen, sondern sogar ihren Glauben zu kontrollieren. Kann es etwas Autoritäreres geben als einen Staat, der nicht nur kontrolliert, was man tut, sondern auch, was man denkt? Ironischerweise werden derartige Vorschläge und Programme heute als Schritte auf dem Weg zu mehr religiöser Toleranz und zu einem stärkeren interkulturellen Dialog innerhalb der Gesellschaft präsentiert. Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die Religionsfreiheit einst die Freiheit des Individuums von der Willkür des Staates meinte. Anders formuliert: Religionsfreiheit bedeutet, dass Individuen die Freiheit haben, an wen auch immer zu glauben, ohne staatliche Sanktionen befürchten zu müssen. Dieser Aspekt ist heute leider in allen Debatten über die Bedeutung von Religion verloren gegangen.

„Rottet den niederträchtigen Aberglauben aus!” (Voltaire) Forderungen wie diese prägten den Laizismus der französischen Revolution und die Erklärung der Menschenrechte. Als Geburtsstunde des modernen Laizismus gilt aber in Frankreich die Zeit von 1880 bis 1905, als es zur endgültigen Trennung von Kirche und Staat kommt. Diese verstand sich weder antiklerikal noch antireligiös. Vielmehr entsprach sie den Erwartungen der sich rasch entwickelnden Mittelschichten und stellte ein wichtiges Element sozialer Kohäsion dar, den “ciment de la République”. Damals wie heute ist der Laizismus größtenteils Ausdruck des französischen Patriotismus. Die in Deutschland mit der Weimarer Verfassung von 1919 vollzogene Trennung von Staat und Kirche wurde 1933 zerschlagen. Um den Aufbau der BRD zu gewährleisten, wurden den Großkirchen ab 1945 als nicht diskreditierten Organisationen wieder Privilegien zuerkannt. In der DDR hingegen existierte bis zur Wiedervereinigung die strikte Trennung von Kirche und Staat.

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