01.05.2004

Auferstehen aus Ruinen?

Analyse von Matthias Heitmann

Taugt der Terror als Beschleuniger des europäischen und transatlantischen Einigungsprozesses? Eher nicht.

Nur wenige Tage, bevor am 11. März 2004 in Madrid die Bomben hochgingen und ganz Europa erschütterten, plädierte Bundesaußenminister Joschka Fischer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für eine „Rekonstruktion des Westens“ und setzte damit eine Diskussion über die europapolitischen Prinzipien der Bundesregierung in Gang.[1] Nicht nur die zufällige zeitliche Nähe beider Ereignisse, auch die inhaltliche Dimension dieser Neujustierung der deutschen Europapolitik offenbart: Die terroristische Bedrohung und die Reaktionen darauf entwickeln sich mehr und mehr zu einem zentralen Motiv der europäischen Integration.

Der 11. September 2001 und seine Folgen haben Fischer zu einem Umdenken und zu einer Neubewertung der europäischen Einigung bewogen. Bislang verband Deutschland die Ziele, Europa und die Globalisierung positiv zu gestalten, mit der Vorstellung, ein „Kerneuropa“ – Fischer bevorzugte die weniger elitäre und exklusive Bezeichnung „Gravitationszentrum“ – könne als Stoßtrupp die politische Entwicklung der Gemeinschaft voranbringen. Er ging davon aus, eine kleine Gruppe führender europäischer Nationen, in der Regel wurden Deutschland und Frankreich genannt, könne durch eine verstärkte Kooperation vorbildhaft für den ganzen Kontinent wirken und die Integrationsgeschwindigkeit der Union erhöhen. Die Vorreiterschaft dieser Wortführer-Nationen galt lange Zeit gerade auch gegenüber anderen etablierten EU-Mitgliedsstaaten mit eher europaskeptischen Regierungen wie Großbritannien oder Spanien sowie gegenüber den osteuropäischen Beitrittsländern als erstrebenswert. Fischer hatte die Idee des Gravitationszentrums erstmals in seiner viel beachteten „Humboldt-Rede“ im Mai 2000 umrissen.[2] Diese Rede würde er, wie er kürzlich der Berliner Zeitung sagte, „heute in Teilen anders halten“.[3] Er sei zwar mehr denn je davon überzeugt, dass Europa mehr Integration und stärkere Institutionen brauche, aber kleineuropäische Vorstellungen teile er heute nicht mehr: „Wenn wir uns ein Klein-Europa vorstellen, in dem die Entscheidungen einfacher sind, wie würde sich dann der Rest Europas organisieren? Als Hinterhof? (...) Die erhöhte Entscheidungsfähigkeit eines kleinen Europas würde sich als Schein erweisen. Kleineuropäische Vorstellungen greifen nicht mehr; die Bedingungen haben sich verändert.“[4]

Die Reaktionen auf die Kurskorrektur des deutschen Außenministers fielen unterschiedlich aus. Die Unionsparteien, allen voran ihr Außenpolitiker Wolfgang Schäuble, kritisierten Fischers Abkehr vom Kerneuropa. Vor genau zehn Jahren hatten Schäuble und sein Parteikollege Karl Lamers in einem nach ihnen benannten Papier die Vorstellung eines Kerneuropas entwickelt und ein „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ gefordert.[5] Positiv hatten die Unionsparteien daher im Jahr 2000 Fischers Humboldt-Rede bewertet, die sie als Fortführung der Außenpolitik der Kohl-Regierung ansahen.[6] Umso deutlicher fiel nun ihre Kritik aus. Schäuble betonte, in jedem Falle an der Kerneuropa-Idee festhalten zu wollen.
Aus anderen Lagern erhielt Fischers Absage an kleineuropäische Lösungen hingegen Zustimmung. Die Financial Times Deutschland bejubelte das Ende der „unseligen Idee des Kerneuropas“ und gratulierte Fischer zu seiner „atemberaubenden Neudefinition der deutschen Außenpolitik“, die nun viel „realistischer geworden“ sei.[7] In europakritischen und linken Kreisen wurde die Hoffnung geäußert, der europäische Einigungsprozess werde nun demokratischer vonstatten gehen und nicht mehr durch arrogante nationalstaatliche Interessenpolitik der Mächtigen geprägt sein.

Fischer begründete die Neujustierung der deutschen Haltung gegenüber kleineuropäischen Lösungen mit „veränderten Bedingungen“. Ein Gemeinplatz, der erklärungsbedürftig ist. Welche sind gemeint?
In Frage kommt da zum einen der europäische Verfassungsprozess, der aus Sicht vieler Beobachter gescheitert ist und somit ein Umdenken nahe legen könnte. Dies sieht Fischer jedoch ganz anders: Für ihn ist die Verfassung des Europäischen Konvents das „Optimum dessen, was an Integration möglich ist“.[8] Zudem bescheinigt er dem europäischen Einigungsprozess eine große Dynamik, die es zu nutzen gelte. Dem grünen Außenminister also zuzuschreiben, er lehne das Konzept eines Gravitationszentrums ab, weil ihm zwischenzeitlich Zweifel an Struktur und Inhalt der europäischen Verfassung gekommen seien und er nun die Ansicht vertrete, diese könne ohne eine deutsch-französische Wortführerschaft besser und demokratischer umgesetzt werden, entbehrt jeder Grundlage.

Fischers Absage an Kerneuropa ist nicht einer Rückbesinnung auf demokratische Prinzipien geschuldet, wie es große Teile des ihm applaudierenden Publikums meinen. Es ist vielmehr die fortschreitende Sklerose der europäischen Idee selbst, die ihn zur Revision alter Standpunkte bringt. Tatsächlich hat sich Europa seit dem 11. September 2001 weiter von seinen ursprünglichen politischen Zielsetzungen entfernt als jemals zuvor. Betrachtet man die europapolitischen Debatten der letzten Jahre, so ist festzustellen, dass die großen Visionen eines demokratischen Staatenbündnisses immer mehr an Bedeutung verloren haben.[9] Die Entwicklung einer europäischen Verfassung – eigentlich ein politisches Großprojekt, das den gesamten Kontinent in Aufbruchstimmung versetzen, zumindest aber in den Gesellschaften vielfältige inhaltliche Debatten über die Zukunft Europas auslösen müsste – ist zu einem inhaltsleeren Gefeilsche um nationale Stimmrechte und Subventionen verkommen, auf das die Bürger zunehmend mit Verdruss und offener Ablehnung reagieren. Schon jetzt befürchten zahlreiche Europapolitiker, die in verschiedenen Mitgliedsstaaten anstehenden Volksabstimmungen über den Verfassungsvertrag könnten angesichts der schweren Legitimitätskrise der EU böse Folgen haben. Bezeichnenderweise hält auch Joschka Fischer diesen Vertrag für „so zentral“, dass er ihn nicht mit Debatten über die Notwendigkeit von Volksabstimmungen „zusätzlich belasten“ möchte; solches hält er auch in Deutschland für nicht notwendig: „Dafür haben wir die Tradition nicht. Worüber wollen Sie die Leute überhaupt abstimmen lassen? Über die Europäische Verfassung, über den Nizza-Vertrag? Wer versteht denn das?“[10] Eine interessante Sichtweise. Da die Bedeutung der europäischen Verfassung nicht verstanden wird, sollte man sie besser nicht mit kritischen Diskussionen belasten. Was immer man von Volksentscheiden halten mag: Eine derartige Geringschätzung der europäischen Bürger, wie sie Fischer hier zum Ausdruck bringt, ist kaum dazu geeignet, seinen zur Schau gestellten Optimismus bezüglich der Zukunft der europäischen Idee zu untermauern. Auch die Hoffnung auf eine demokratischere Ausgestaltung der EU ist angesichts solcher Äußerungen unbegründet.

„Es hat den Anschein, als existiere das zerstrittene Europa mangels politischer Visionen fast nur noch dann als Einheit, wenn es um die gemeinschaftliche Gefährdung von außen und das gemeinsame Betrauern von Terroropfern geht.“

Wenn die „veränderten Bedingungen“, die Fischers Umdenken auslösten, also nicht im europäischen Einigungsprozess selbst zu suchen sind, wo dann? Die Antwort ist einfach, in ihrer Tragweite jedoch alles andere als unproblematisch: Es ist die Bedrohung durch den Terrorismus, die das politische Klima auf dem Kontinent prägt, die Menschen in Atem hält und dafür sorgt, dass sich europapolitische Debatten immer mehr auf Terrorabwehr und Sicherheit konzentrieren. Der Außenminister formuliert es geradeheraus: „Der ‚11.9.’ hat die Schwächen Europas offengelegt.“[11] Deswegen müsse sich Europa seiner strategischen Bedeutung sowie der neuen strategischen Bedrohungslage bewusst werden.
Hinsichtlich dieser Veränderungen legt es Fischers Logik nahe, sich von der Idee eines Kerneuropas zu verabschieden. Ein stabiler Kern hilft bei der Terrorabwehr nur wenig und kann keine kontinentale Sicherheit gewährleisten, wenn der Rest nicht Schritt hält. Eine solche Politik widerspräche letztendlich auch dem „Bollwerkprinzip“ – ein solches kann sich keine instabile Peripherie leisten. So macht auch Fischers Plädoyer für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei Sinn: Dies sei ein „strategischer Sieg im Kampf gegen die terroristische Bedrohung“, der ja schließlich in „kontinentaler Größenordnung“ gedacht werden müsse.[12] 
In nahezu allen politischen Themenfeldern – von Fragen der EU-Erweiterung bis zu solchen der inneren Ausgestaltung der Union – entwickelt sich die Terrorabwehr zum zentralen Thema. Während in der Frage des Interessenausgleichs zwischen den europäischen Nationen sowie hinsichtlich anderer politischer Zielsetzungen zumeist Dissonanzen herrschen, auf Unterschieden beharrt wird und daher Kompromisse, wenn überhaupt, nur äußerst mühsam errungen werden, so scheint der Bereich der kontinentalen Sicherheit und Kriminalitätsbekämpfung heute der einzige zu sein, in dem intensive Vernetzung und enge Kooperation möglich und erwünscht sind. Die Reaktionen auf die Terroranschläge von Madrid bewiesen dies eindrucksvoll: Sofort flammte die Debatte über die Ernennung eines EU-Beauftragten zur gemeinsamen Terrorabwehr auf, und Politiker jeder Couleur und jeder Nation betonten die Bedeutung europäischer Zusammenarbeit in Fragen der Sicherheitspolitik. Bundesinnenminister Otto Schily ließ keine Gelegenheit aus, die „epochale Bedrohung“ Europas zu betonen, und Bundesverteidigungsminister Peter Struck unterstrich – auch angesichts der weiterhin gespannten Lage im Kosovo – die enorme Bedeutung der gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik für die innere Verfasstheit der Union.

„Europa braucht kein Kerneuropa, um kleineuropäisch zu sein.“

Es hat den Anschein, als existiere das zerstrittene Europa mangels politischer Visionen fast nur noch dann als Einheit, wenn es um die gemeinschaftliche Gefährdung von außen und das gemeinsame Betrauern von Terroropfern geht. Paradoxerweise beginnt diese externe Bedrohung tatsächlich, den europäischen Einigungsprozess zu dominieren. Was zunächst die europäischen Gesellschaften in ihrem Kern erschütterte, entwickelt sich zum Dreh- und Angelpunkt einer neuen gesamteuropäischen Perspektive der internationalen Terrorbekämpfung. Da ist es auch geradezu logisch, dass der demnächst erneut zur Diskussion stehende EU-Verfassungsvertrag präventive EU-Kampfeinsätze in aller Welt vorsieht. Das gemeinsame Trauern und Fürchten wird zum Fixpunkt, um den herum sich Europa neu definiert: als Hochsicherheits- und Opfergesellschaft. Dies ist nicht die Zeit einer vorpreschenden Avantgarde, sondern mitfühlender europäischer Solidarität und Geschlossenheit – wohl auch ein Grund, warum Spanien, während es um seine Terroropfer trauerte, überraschend seine euro-skeptische und widerborstige Regierung abwählte.

Angesichts dieser Entwicklung von einer „großen Dynamik“ im europäischen Einigungsprozess zu sprechen, wie Fischer es tut, ist in zweierlei Hinsicht Ausdruck politischer Regression. Einerseits drängt die in der Tat „dynamische“ Entfaltung der Angstkultur nahezu alle europapolitischen Visionen ins Abseits und reduziert Europa zunehmend auf ein bloßes Anti-Terror-Bollwerk. Bedenkt man darüber hinaus, dass der neue Terrorismus, wie Brendan O’Neill in seinem Artikel in diesem Novo analysiert, selbst ein Produkt des westlichen und globalen Verfalls von Werten und Überzeugungen ist, wird klar: Fischers „Rekonstruktion des Westens“ steht auf dem Treibsand einer orientierungslosen und verunsicherten westlichen Welt. Europa braucht kein Kerneuropa, um kleineuropäisch zu sein.

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