19.09.2017

„Es geht darum, wie wir vernünftig regulieren.“

Interview mit Heino Stöver

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Foto: Malte Hempel via Flickr / CC BY-SA 2.0

Glücksspielverbote sind mit dem Ideal des mündigen Bürgers unvereinbar. Bei der Bekämpfung der Spielsucht helfen sie nicht.

Novo: Herr Professor Stöver, Sie sind Sozialwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Suchtforschung. Ende Juni haben Sie zusammen mit dem Ökonomen Justus Haucap und dem Juristen Martin Nolte eine Studie zur Evaluierung der deutschen Glücksspielregulierung veröffentlicht. Können Sie die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassen?

Heino Stöver: Ich möchte auf den Studienteil eingehen, der sich mit der Spielsuchtbegrenzung beschäftigt. Die aktuelle Glücksspielregulierung in Deutschland ist wenig evidenzbasiert und ignoriert zum Teil wichtige Studien zur Glücksspielsucht. Bei der anstehenden Überarbeitung hätte ich aber erwartet, dass stärker auf wissenschaftliche Studien zurückgegriffen worden wäre. Die Spielsuchtbekämpfung sollte mehr auf aktuellen Erkenntnissen aus der Forschung beruhen.

Unsere Studie hat herausgefunden, dass es durch die unklare Regulierungssituation im Onlinebereich nur wenig Möglichkeiten gibt, Spielsucht zu bekämpfen. Wegen des Verbots von Onlinewetten und -poker hierzulande greifen viele Spieler einfach auf ausländische Angebote zurück und entziehen sich so deutschen Gesetzen. Dabei liefert die Suchtforschung Argumente für eine Liberalisierung in diesem Bereich: Die Prävalenzrate von Spielsüchtigen – sprich: deren Häufigkeit – ist in Schleswig-Holstein, wo es vor ein paar Jahren eine Gesetzeslockerung gab, nicht höher als im Rest der Bundesrepublik. Es gibt viele Bereiche im staatlichen Glücksspielmonopol, die im Sinne einer besseren und effektiveren Spielsuchtprävention verändert werden müssten.

In der Studie kommen Sie zu dem Ergebnis, dass Verbote bei Spielsuchtbekämpfung sowie bei Jugend- und Spielerschutz kontraproduktiv wirken. In diesem Zusammenhang werfen Sie der staatlichen Politik vor, von antiquierten Vorstellungen von Glücksspielsucht auszugehen. Können Sie das genauer erklären?

Verbote können bei Spielsuchtbekämpfung und bei Jugend- und Spielerschutz kontraproduktiv wirken. Die Verbote im Onlinebereich haben dazu geführt, dass jugendliche und erwachsene Spieler einfach auf ausländischen Websites spielen. Auf diese Weise verliert der Staat die Kontrolle, anstatt sie zu erringen. Wir hingegen wollen den Kontakt zu den Spielern halten. Das können wir aber nur, wenn sie nicht bei ausländischen Anbietern spielen. Die Entscheidung, ob sie spielen wollen oder nicht, treffen am Ende ohnehin die Spieler selbst. Wir nehmen sie ihnen durch das Verbot nicht ab. Bei vielen Spielern besteht zudem ein sehr gering ausgeprägtes Unrechtsbewusstsein. Ähnlich wie Cannabiskonsumenten vertreten sie die Auffassung: „Ich schädige ja allenfalls nur mich selbst“.

„Wir können nicht die gesamte Glücksspielregulierung an pathologischen Glücksspielern ausrichten.“

Die Politik rechtfertigt Verbote und Regulierung häufig mit dem Schutz sogenannter „pathologischer Spieler“. Was ist darunter zu verstehen? Wie hoch ist deren Anteil unter den Spielern?

Der Anteil von „Problemspielern“ ist relativ gering. 2013 zeigten circa drei Prozent der Spieler ein problematisches, circa eineinhalb Prozent ein pathologisches Spielverhalten. Pathologisch meint dabei: Süchtig oder mit Abhängigkeitsmuster. Das ist zwar nur ein relativ kleiner Anteil aller Spieler, in absoluten Zahlen ist das trotzdem noch eine sehr große, keineswegs zu vernachlässigende Anzahl. Entscheidend ist aber Folgendes: Es ist nicht zielführend, die gesamte Glücksspielregulierung an den problematischen und pathologischen Glücksspielern auszurichten.

Wenn uns Verbote nicht weiterbringen, wie sähe Ihrer Meinung nach eine vernünftige Glücksspielregulierung hierzulande aus?

Naja, Verbote und Regulierungen wird es immer geben. Es geht darum, wie wir vernünftig regulieren. Wenn wir uns um Jugend- und Spielerschutz Gedanken machen, dann sollte das ein evidenzbasierter Prozess sein. Ich plädiere für eine „lernende Regulierung“, die wissenschaftliche Fakten mit einbezieht und auf Kanalisierung und Überwachung statt auf nicht durchsetzbare Verbote setzt. Es geht darum, das Glücksspiel in überwachte Bahnen zu bringen. Durch Verbote können wir nichts überwachen, wir haben nichts im Griff. Stattdessen sollte der Verbraucherschutz gestärkt werden: Man sollte sinnvolle Werberichtlinien erlassen und auf eine Individualisierung des Spielerschutzes setzen, z.B. durch Kundenidentifikation über Trust-Networks, risikobasierte Ansätze bei Spiel-Limits und durch lückenlose und niedrigschwellige Sperrsysteme. Dabei müssen neben Selbstsperren in extremen Fällen auch Fremdsperren durch Glückspielanbieter möglich sein. In Suchtpräventionsstrategien sollten wir zudem genderspezifische Ansätze stärker als bisher berücksichtigen. Männer und Frauen spielen nun mal ganz unterschiedlich und müssen deshalb unterschiedlich angesprochen und unterstützt werden.

Wie bewerten Sie grundsätzlich den Anspruch des Glücksspielstaatsvertrags, „den Spieltrieb der Bevölkerung in geordnete Bahnen zu lenken“?

Dieser Anspruch ist nicht erfüllt worden. Einmal verschleppen die Länder seit Jahren die Lizensierung im Bereich der Onlinewetten. So gibt es de facto weiterhin ein Verbot. Das ist nicht akzeptabel. Denn so erreichen wir das Gegenteil des angestrebten Zustands. Die Menschen befriedigen ihren Spieltrieb einfach bei Anbietern im Ausland. Das kann wohl kaum der Anspruch des Glücksspielstaatsvertrages sein.

„Wir gehen überall und ständig von mündigen Bürgern aus. Bei Drogen oder Glücksspiel machen wir es anders.“

Ein weiteres Thema Ihrer Forschungsarbeit ist die Drogensucht. In der Zeit sprachen Sie im Zusammenhang mit der derzeitigen Drogenpolitik von „Symbolpolitik“ und davon, dass eine glaubwürdige Prävention erst nach einem Umdenken stattfinden könne. Sehen Sie hier Parallelen zur Glücksspielpolitik?

Es gibt deutliche Parallelen. Wir lassen den einzelnen Menschen bei chemischen Substanzen auch nicht wählen, ignorieren seine Wünsche und seine Souveränität. Egal ob die Leute Heroin, Cannabis oder etwas anderes nehmen; Drogenpolitik ist einer der letzten Bereiche, wo der Staat sagt: „Ich entscheide für euch.“ Bestimmte Substanzen sind zugänglich, andere nicht. Der Staat sagt: „Okay, ihr könnt so viel Alkohol trinken und Zigaretten rauchen, wie ihr wollt – durch die Steuern verdienen wir sogar noch daran – aber andere Substanzen erklären wir für ‚illegal‘“. So entsteht Unmündigkeit, was keine Lösung ist. Denn unsere Kultur setzt im Allgemeinen einen mündigen Bürger voraus, der für sich selbst entscheiden kann. Wenn er sich zum Beispiel einen Neuwagen kauft, gehen wir davon aus, dass er ihn auch bezahlen kann. Wir fragen nicht, ob der Kauf etwa familiäre Probleme verursacht, weil das Geld möglicherweise woanders benötigt wird.

In unserer Wirtschaftsform gehen wir überall und ständig vom mündigen Bürger aus. Bei Drogen und Glücksspiel machen wir es anders. Das ist ein völlig antiquierter Ansatz. Gerade in unserer Zeit gilt der Bürger als verantwortlicher Selbstkonstrukteur seines Lebens, der sich seine eigene Biografie basteln muss. Wir müssen uns um unsere Krankenversicherung kümmern, um unsere Rente und unseren Telefon- und Internet-Provider. Dinge, die vor 20 Jahren stabil erschienen und von anderen gelenkt wurden („Die Rente ist sicher …“), sind heute den Bürgern übertragen worden, müssen von ihnen selbst gestaltet werden. Drogenpräferenz sollte zu diesem Prozess des Mündigwerdens dazugehören. Es werden nicht alle zu Dauerkiffern, nur weil sie einmal gekifft haben. Im Gegenteil: Vielen wird es nicht schmecken, anderen macht es keinen Spaß, andere machen es ab und zu. Wie beim Glückspiel sollte es der Mündigkeit des erwachsenen und souveränen Bürgers überlassen bleiben.

2008 sprachen Sie von einer „Versüchtelung der Gesellschaft“. Was meinen Sie damit?

Unter „Versüchtelung der Gesellschaft“ verstehe ich einen Prozess, wonach zunehmend mehr Tätigkeiten und Verhaltensweisen als Süchte oder als süchtig machend abgestempelt werden. Wir haben früher viel mehr Begriffe für intensives Verhalten oder Tun gehabt – jemand hat zum Beispiel eine Leidenschaft, einen Trieb oder „die Arbeitswut“. Heute läuft das alles wie durch einen Trichter unter dem stigmatisierenden Begriff der Sucht. Denn wenn wir heute über jemanden sagen: „Der ist süchtig“, dann heißt das im Wesentlichen, er hat in einem wichtigen Bereich, in dem alle anderen Kontrolle haben, die Kontrolle verloren. Solch eine Person gilt als nicht vertrauenswürdig, weil sie von einer Sache, von etwas Externem beherrscht wird – etwa von einem Pharmakon oder dem Glücksspiel. So ist Sucht zu einem Stigma, einem Konzept zur Ausgrenzung und einem Kampfbegriff geworden.

„In unserer Gesellschaft werden zunehmend mehr Tätigkeiten und Verhaltensweisen als Sucht abgestempelt.“

Indem wir hinter bestimmte Tätigkeiten die Silbe „-holics“ oder das Wort ‚Junkie‘ stellen – ein Newsjunkie, ein Schokoholic oder ein Workaholic – diskreditieren wir die Menschen. Wir unterstellen ihnen bestimmte Suchttendenzen und wir pathologisieren sie gleichzeitig, weil Sucht eine Krankheit ist. Dabei sieht der internationale Fachdiskurs die Stigmatisierung inzwischen als einen wesentlichen Faktor dafür, dass sich tatsächlich süchtige Menschen nicht als süchtig bekennen. Sie bekennen sich zu ihrem Rheuma, zu ihren schlechten Zähnen oder zu sonst irgendetwas, aber nicht dazu, dass sie ab und zu oder häufig die Kontrolle über bestimmte Substanzen oder Verhaltensweisen verlieren. Auch aus diesem Grund suchen in Deutschland Süchtige durchschnittlich erst nach 10 oder 15 Jahren der Chronifizierung ihres Trink- oder Rauchverhaltens professionelle Hilfe auf. So verlieren wir viele wertvolle Jahre, in denen wir mit den Menschen tatsächlich an ihrer Erkrankung arbeiten könnten.

Was sind die gesellschaftlichen Konsequenzen der „Versüchtelung“?

Der Suchtbegriff wird auf immer mehr Bereiche unserer Handlungen oder unseres Konsums ausgeweitet. Gleichzeitig erleben wir gesellschaftlich eine immer stärkere Ausgrenzung des intensiven Lebens, das ebenfalls mit Kontrollverlust assoziiert wird – selbst wenn es gar nicht auf Dauer angelegt ist. Manchmal haben Menschen intensive Phasen: Jemand baut zum Beispiel aus Streichhölzern den Eiffelturm nach, hat eine bestimmte Sammelleidenschaft oder hat – was gerade bei Heranwachsenden oft zu beobachten ist – zeitweise eine bestimmte Präferenz für Internetspiele oder für bestimmte Substanzen.

Auch dient der Suchtbegriff heute zur Beantwortung der sozialpsychologisch relevanten Frage „Was ist eigentlich normal?“. Die Norm ist hier klar das sucht- und rauschfreie Leben. Wir dürfen uns zunehmend nur noch an bestimmten, dafür markierten Orten berauschen oder Zigaretten rauchen – z.B. auf dem Flughafen in irgendeinem Glascontainer. Es geht gesellschaftlich betrachtet darum, die Mitte, die Normalität stärker herauszustellen und zu sagen: „Daran müsst ihr euch orientieren. Ihr weicht davon ab.“

Welche Ursachen sehen Sie für diese Entwicklung?

Der moderne Bürger hat ein autonomer und kontrollierter Bürger zu sein, der immer nüchtern sein und immer die volle Kontrolle über sein Tun haben soll. Er muss den Anforderungen einer hochtechnisierten Welt entsprechen. Hinzu kommt der weiter oben bereits thematisierte Anspruch an das Individuum, permanent an seiner Biografie zu basteln. So sind wir ständig gefordert, es gibt kaum noch Ruhepausen. Das wird durch neue Medien noch intensiviert. Sie sind ein Sinnbild dafür, wie wir uns autonom, nüchtern und kontrolliert den Herausforderungen unserer Zeit stellen und dabei permanent und sehr flexibel reagieren müssen. Auch in der Arbeitswelt ist der Druck auf jeden einzelnen Arbeitnehmer gewachsen. Das Tempo ist höher, es gibt weniger Pausen und die Arbeit ist intensiver. Das alles trägt dazu bei, dass wir abweichendes Verhalten stärker kennzeichnen müssen, um so die Mitte, die Normalität, zu stärken.

„Der moderne Bürger ist ein kontrollierter Bürger, der eigentlich immer nüchtern sein muss, der immer die volle Kontrolle hat über das, was er macht.“

Haben sich auch psychologische und medizinische Definitionen des Suchtbegriffs im Laufe der Jahre gewandelt?

Ja, auf jeden Fall. Es gibt zwei wichtige medizinische Klassifikationssysteme für somatische oder psychische Störungen. Einmal den ICD-10 („International Classification of Diseases“), der als Standardinstrument der Weltgesundheitsorganisation auch in Deutschland die Grundlage medizinischer Diagnostik ist. Dann gibt es noch den von der American Association of Psychiatrists veröffentlichten„Diagnostic Statistical Manual on Mental Diseases“ (DSM). In ihm werden psychische Erkrankungen klassifiziert. In beiden Klassifikationssystemen sind innerhalb der letzten 20 Jahre immer mehr Süchte aufgetaucht ­– die Spielsucht zum Beispiel. Aktuell wird darüber diskutiert, Internetsucht in die neue Fassung des ICD-10 aufzunehmen.

Gleichzeitig gibt es aber auch eine auf den ersten Blick gegenläufige Entwicklung. Im aktuellen DSM 5, also der fünften Auflage, wird interessanterweise nicht mehr von Sucht gesprochen. Der DSM 5 löst den herkömmlichen Abhängigkeitsbegriff auf und spricht stattdessen von moderaten oder komplexen Substanzgebrauchsstörungen. Ich selbst nutze den Suchtbegriff in meiner Forschung auch so gut wie gar nicht mehr und spreche ebenfalls von Substanzgebrauchsstörungen. Das mag man als kosmetischen Eingriffbelächeln, aber zumindest fällt so das mit dem Suchtbegriff einhergehende Stigma weg. Man hängt den Menschen keinen Schuld- und Schamring um, der sie noch mehr kaputtmacht. Es geht jetzt nur noch um die Quantifizierung dieser Substanzgebrauchsstörung. Aktuell gibt es in Medizin und Psychologie diese zwei Bewegungen, die sich zum Teil auch zu widersprechen scheinen.

Der amerikanische Psychologe Jeffrey Schaler sieht Sucht als eine freie Entscheidung des Individuums und wendet sich gegen die Pathologisierung von Suchtverhalten. Was halten Sie von dieser Auffassung?

Ganz weit weg von dieser Auffassung bin ich nicht. Auch der Süchtige kann ein guter Vater, eine gute Mutter, ein guter Arbeitnehmer und so weiter sein. Er ist immer noch viel mehr als nur Süchtiger – obwohl er vom Rest der Gesellschaft häufig nur als solcher gesehen wird. In der Tat entscheidet auch ein Süchtiger noch über seine Dosis oder über die Art und Weise, wie er die Substanzen nimmt. Es gibt in der Sucht einen eingeschränkten, aber immer noch großen Entscheidungsspielraum.

„Es gibt auch in der Sucht einen eingeschränkten, aber immer noch großen Entscheidungsspielraum.“

Beispielsweise kann der Teilnehmer eines Methadonprogramms heute auf den Beikonsum anderer Drogen verzichten, weil er morgen eine Urinkontrolle hat, bei der sein Urin sauber sein muss. Oder ein schwer Heroinabhängiger verzichtet für eine Weile auf den Konsum von Alkohol, weil er weiß, dass er vor jeder Heroinabgabe in einer staatlichen Stelle (in acht deutschen Städten wird diese Maßnahme erfolgreich praktiziert) pusten muss. Gerade Heroinabhängige sind oft Meister darin, ihre Promille zu kontrollieren. Man kann nicht sagen, dass sie keine Entscheidungsmöglichkeit mehr haben. Niemand wird vom ersten Schuss süchtig oder von der ersten Zigarette. Manchmal dauert das viele Jahre – vor allem beim Alkohol.

Wenn Leute meinen, sie seien vom Rauchen rückfällig geworden, sagen sie häufig: „Ich habe mir am nächsten Tag sofort eine Schachtel gekauft und rauche wieder die gleichen 35 Zigaretten, die ich früher auch an einem Tag geraucht habe.“ Physiologisch betrachtet ist das Quatsch. Sie müssen erstmal fünf bis sieben Tage durchrauchen, bevor sie überhaupt abhängig werden können. Das Ganze ist Kopfkino. Sie glauben an einen „Rückfall“, den man aber genauso gut einfach nur als „Unfall“ oder „Vorfall“ bezeichnen könnte. Denn schließlich könnte man auch einfach sagen: „Okay, ich habe gestern durch einen Unfall wieder geraucht wie ein Blöder und heute ist wieder Schluss damit.“ Aber in ihrer eigenen Suchttheorie dient der „Rückfall“ als Signal und Fanal, um mit dem Rauchen weitermachen zu können. Somatisch und psychisch gibt es, wie gesagt, keine Grundlage. Der Körper braucht eine Weile, um das Nikotin im Stoffwechsel einzupflanzen und bei einem sinkenden Nikotinspiegel Alarm zu schlagen. Richtig süchtig zu werden, braucht schon ein bisschen Mühe.

Können Sie die Entscheidungsspielräume von Süchtigen noch etwas genauer erklären?

Es gibt sowohl beim Auftreten von Sucht als auch in der Sucht selbst tausende tägliche Entscheidungen zu treffen. Es geht darum, wie man die Sucht gestaltet, wie man sie „managt“ – etwa mit wie vielen anderen Stoffen oder mit welcher Dosierung des Suchtstoffs man arbeitet. Der Alkoholiker etwa weiß genau, dass er unter zwei Flaschen Wodka vielleicht noch arbeiten kann, ohne aufzufallen, aber bei dreien wird er auffällig. Auch beim Herauswachsen aus der Sucht gibt es viele Entscheidungsspielräume. Jeffrey Schaler betont vor allem den Aspekt der eigenen Entscheidungskompetenz in der Sucht. Ich würde das mit Verantwortung übersetzen, an die ich immer appelliere, wenn ich mit Süchtigen arbeite. Entscheidungsfreiheit bedeutet auch, Verantwortung zu übernehmen, sowohl für das Abgleiten, das Abtauchen, als auch für die Kontrolle in der Sucht oder ein Management der Sucht. Süchtig zu sein, heißt nicht, wie in einer Einbahnstraße nur eine Richtung zu haben, sondern sie kann gut und weniger gut gemanagt werden.

Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass es so schwer ist, Menschen beim Thema Glücksspiel von liberalen Politikansätzen zu überzeugen?

In unserer Gesellschaft ist ein falscher Suchtbegriff weit verbreitet und das Glücksspiel wird sehr stark damit assoziiert. Man glaubt nicht daran, dass kontrolliertes Spielen möglich ist. Es handelt sich um einen kulturellen Mythos, der ständig neu genährt wird, etwa durch Filme. Dabei gibt es viele Leute, die nur phasenweise intensiv spielen und danach wieder weniger intensiv. Oder es gibt Leute, die nur für einen kurzen Zeitraum spielen. Andere spielen, kontrollieren sich dabei aber sehr stark. Es gibt viele normale Menschen, die sich klare Limits setzen. Sie sagen: „Ich bin mit 100 Euro ins Spielcasino reingekommen und mit 40 oder 140 wieder rausgekommen. Ich habe Spaß gehabt, aber mehr als diese 100 Euro wollte ich dafür nicht investieren.“ Viele Politiker befürchten, ohne harte Sanktionsmechanismen und Verbote käme es zu einem Dammbruch. Deutschland, unsere Jugend, würde im Spielchaos versinken. Das ist natürlich Unsinn. Hier zeigt sich das geringe Verständnis von Sucht bei den Politikern.

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