01.09.2014

Einwanderungsdebatte: Im deutschen Justiz-Irrgarten

Kommentar von Zé do Rock

Die Mühlen der deutschen Justiz mahlen bekanntlich langsam. Zé do Rock zeigt am Beispiel des promovierten Physikers Dr. Bahman Samadi, zu welchen Mittel die Justiz greift, um einem gut integrierten Wissenschaftler ausländischer Herkunft Steine in den Weg zu legen

Wenn man Bahman Samadis Leben mit einem literarischen Werk betiteln müsste, dann wäre es sicher Der Prozess. Klar, das gibt es schon, aber weniger kafkaesk ist sein Leben kaum. In seiner Wohnung hat er eine Unmenge Ordner, die er im Laufe seines Lebens hat anlegen müssen. Wir alle haben unser Quäntchen an abstrusen Situationen erlebt, was ihm aber die deutsche Justiz zu bieten hatte, übersteigt jede menschliche Phantasie.

Drohende Abschiebung trotz Integration

Bahman Samadi wurde 1946 in der Stadt Kashmar im Iran geboren und kam 1964 nach Deutschland, um Musik zu studieren. In der Mitte seines Musik-Studiums entschied er sich jedoch für die Physik und promovierte 1980.Parallel dazu studierte er Philosophie. Nach dem Ende des Physikstudiums arbeitete er unter anderem als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich sowie als Dolmetscher und Übersetzer bei der Justiz und Verwaltung in München.

„Er bekommt auf seinem Pass den Stempel ‚ausländerbehördlich erfasst‘, was im Amtsdeutschen die ungefähre Entsprechung für einen Halbkriminellen ist.“

Genau 20 Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland beschließt die Münchner Ausländerbehörde, seine Aufenthaltserlaubnis nicht mehr zu verlängern und ihn unverzüglich abzuschieben. Er bekommt auf seinem Pass den Stempel „ausländerbehördlich erfasst“, was im Amtsdeutschen die ungefähre Entsprechung für einen Halbkriminellen ist. Die Begründung ist gerade aus heutiger Sicht höchst interessant: Er soll als Nuklearphysiker im Iran Entwicklungshilfe leisten, obwohl in Deutschland händeringend nach Fachkräften gesucht wird, so dass er keine Probleme hätte, Arbeit zu finden. Und man stellt fest, dass er „sich sprachlich ebenso wie gedanklich in der Bundesrepublik integriert“ fühlt und auch in Zukunft seine „Anpassung an die deutschen Lebensverhältnisse fortschreiten“ [1] würde. Das gilt es zu verhindern, weil er dann letzten Endes in Deutschland bleiben würde.

Das muss man sich erst mal vorstellen: Eine Ausländerbehörde will einen Ausländer abschieben, nicht weil dieser nicht integrierbar ist und die deutsche Wirtschaft belastet, sondern weil er integriert ist und für die deutsche Wirtschaft nützlich sein kann. Und man will diesen Kernphysiker in ein Land schicken, das sich mitten in einem Krieg mit dem Irak Saddam Husseins befindet, der vom Westen gegen den Iran gehetzt und unterstützt wird. Mit anderen Worten, eine deutsche Ausländerbehörde will unbedingt dem Feind im Krieg helfen. In den unzähligen Gerichtsverhandlungen, die darauf folgen, zieht Bahman immer wieder Vergleiche mit der NS-Zeit an, zitiert oft den Spruch von Karl Kraus vom „Volk der Richter und Henker“, was die Juristen und Bürokraten mit begrenzter Begeisterung aufnehmen. In diesem Fall aber ist die Parallele offensichtlich: Es handelt sich um eine dumme Unterdrückung, wenn aus einer Hassstimmung heraus gehandelt wird statt im Interesse der eigenen Wirtschaft.

„Man schiebt keine Ausländer ab, die 20 Jahre in Deutschland leben, Arbeit haben und polizeilich nicht aufgefallen sind.“

Samadi legt Dienstaufsichtsbeschwerden ein, und zwar beim Münchner Oberbürgermeister, beim legendären Landesvater Strauß und beim bayerischen Landtag. Er argumentiert mit dem Gewohnheitsrecht – man schiebt keine Ausländer ab, die 20 Jahre in Deutschland leben, Arbeit haben und polizeilich nicht aufgefallen sind – und mit der deutschen Asylpolitik, die Abschiebungen in Kriegsgebiete verbietet. Zu dem Zeitpunkt hat er nur eine schwammige Ahnung vom Deutsch-Persischen Niederlassungsabkommen (DPNA), das 1929 zwischen dem Deutschen und dem Persischen Reich vereinbart wurde. Dieses besagt, dass Deutsche im Iran nicht schlechter behandelt werden dürfen als die meistbegünstigte Minderheit im Land, was umgekehrt auch für Perser in Deutschland gilt. Mit anderen Worten, Iraner dürften nach diesem Abkommen, das nie revidiert wurde, nicht schlechter behandelt werden als EU-Bürger. Und er weiß auch nur schwammig von einem Iran-Erlass, der besagt, dass Iraner in Deutschland wegen des Golf-Kriegs nicht nur nicht abgeschoben werden dürfen, sondern ihnen die Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist. Das heißt, die Ausländerbehörde hat mit einem einzigen Akt mehrfach gesetzeswidrig gehandelt.

Der OB hat aber keine Zeit für die Beschwerde eines Ausländers, vor allem eines Ausländers „zweiter Klasse“. Samadi wird später Akteneinsicht haben und herausfinden, was der OB tat: Er bat die Ausländerbehörde auf der Rückseite der Beschwerde um den Entwurf eines Antwortschreibens. Die Ausländerbehörde schreibt eine Briefskizze, die eins zu eins vom OB übernommen wird. Der Bayerische Landtag beschließt mit seiner CSU-Mehrheit, sich mit dem Thema nicht zu befassen – ohne Begründung.

Samadi. klagt, die Sache geht zum Bayerischen Verwaltungsgericht. Der Richter nennt ihn „Herr Bahman“, beim Vornamen, statt Doktor Samadi. Samadi ist kein besonders eitler Mensch, der darauf besteht, mit dem Doktortitel angeredet zu werden, aber es zeugt schon von der Geringschätzung, mit der man seinen Fall behandelt.
Manche Leser könnten behaupten: Das glaub ich alles nicht, wir sind doch in Deutschland, und hier funktionieren doch solche Sachen! Ja, sie funktionieren ungefähr so gut wie die Deutsche Bahn. Nur, bei der Bahn ist die Schlamperei für jeden sichtbar, in der Justiz ist sie es nur, wenn man gerade davon betroffen ist oder wenn ein Fall durch den Einsatz von Helfern, Medien usw. publik wird, wie neulich der Fall Mollath.

Zwischen 1971 und 1973 stand in Samadis Reisepass, dass er nur während der Ferien arbeiten darf – er hat es nicht gemerkt und ganz normal weiter gearbeitet, und jetzt macht man ihm das zum Vorwurf. Er argumentiert, wenn er gesetzeswidrig gehandelt hat, müsste man auch die staatlichen Schulen und selbst die bayerischen Gerichte verklagen, die seine Arbeitgeber waren. Bei Schwarzarbeit haftet nicht nur der Arbeitnehmer, sondern auch der Arbeitgeber, aber der Richter ist nicht an der Schuld der Arbeitgeber interessiert. Klar. Außerdem entschied der Richter, trotz eines unabhängigen Gutachtens, welches Samadis unvollendete Promotionsarbeit in Philosophie als sehr gut beurteilte, dass diese nicht von Wert wäre.

„Will heißen, man darf sich im Land niederlassen, wenn man es aber tun will, darf man es nicht.“

Das Gericht ist fest entschlossen, den Beschluss der Ausländerbehörde zu bestätigen, und weist die Klage ab. Was den DPNA betrifft: Die zwei ersten Paragraphen besagen, dass Deutsche sich im Iran niederlassen dürfen, genauso wie Iraner in Deutschland. Der dritte besagt, dass beide Länder Maßnahmen zum Eindämmen der Einwanderung treffen können, vorausgesetzt, sie gehen nicht zu Lasten von Deutschen im Iran oder von Iranern in Deutschland. Die Ausländerbehörde meinte aber, der Mann wollte einwandern, also gelte der ganze Vertrag nicht für ihn. Will heißen, man darf sich im Land niederlassen, wenn man es aber tun will, darf man es nicht. Eine tolle Logik.

Das Gericht hat in der ersten Instanz zusätzliche Argumente für die Verteidigung der Beklagten, das heißt der Landeshauptstadt München und des Freistaates Bayern, herausgeholt. Dabei ist es die Funktion eines Gerichts zu untersuchen, ob die Vorwürfe gegen den Beklagten begründet sind, und nicht nach neuen Beweisen bzw. Argumenten gegen den Kläger zu suchen. Die Judikative fungierte als Extra-Verteidiger der Exekutive gegen den Bürger, und das ist ein sehr normaler Vorgang in einer Diktatur. Wenn sich aber Deutschland einen Rechtsstaat nennen will, darf die Judikative das sicher nicht. Samadi ist ein wortgewandter Mensch, der für jeden Fall das Zitat eines Gelehrten parat hat – meistens eines deutschen Gelehrten. In diesem Fall Georg Büchner: „Die Justiz ist in Deutschland seit Jahrhunderten die Hure der deutschen Fürsten.“ Und was früher die Fürsten waren, ist heute die Exekutive.

„Wer sein Recht nicht erkämpft, schädigt auch die Gemeinschaft, weil er durch die Duldung des Unrechts zur Verbreitung der Willkür beiträgt.“

Der Richter am Verwaltungsgerichtshof (zweite Instanz) bietet ihm vor der Verhandlung Asyl an. Das wäre einerseits leicht, aber wenn man um Asyl bittet, muss man sein Heimatland schwarzmalen. Samadi will sich aber die Türen zu seinem Land und seinen dortigen Verwandten nicht verschließen. Er könnte auch heiraten, er könnte sich auch als Schwulen deklarieren, aber er weiß, er hat ein Recht, ohne das ganze Brimborium in diesem Land zu bleiben, und für dieses Recht kämpft er. Nach Auffassung des Juristen Rudolf von Jhering aus dem 19. Jahrhundert zählt Der Kampf ums Recht [2] zur Pflicht des Einzelnen nicht nur sich selbst gegenüber, sondern auch gegenüber der Rechtsgemeinschaft. Wer sein Recht nicht erkämpft, schädigt auch die Gemeinschaft, weil er durch die Duldung des Unrechts zur Verbreitung der Willkür beiträgt.

Der Richter der zweiten Instanz nennt ihn während der ganzen Verhandlung Herr Khomeini. Samadi ist der Meinung, dass ihn der Richter nicht beleidigen wollte, sondern es sich lediglich um eine freudsche Fehlleistung handelte. Inzwischen gilt ein eingeschränkter Iran-Erlass: Iraner sollen nicht mehr automatisch die Aufenthaltserlaubnis bekommen, sondern nur noch geduldet werden. Samadi bittet um Anwendung des uneingeschränkten Iran-Erlasses, da die Ausweisung durch die Ausländerbehörde 1984 und 1985 erfolgt ist, zu einer Zeit, als dieser noch in Kraft war. Das Bayerische Verwaltungsgericht, die Zentrale für Berufungen von Ausländern in Bayern, hat angeblich das Gesetz nicht im Hause. So wie eine Apotheke, die angeblich keine Medikamente hat. Erst 2004, also 20 Jahre, nachdem ihm die Ausländerbehörde mitgeteilt hat, er solle bitteschön verschwinden, gelingt es Samadi an diesen Iran-Erlass zu kommen.

Auch dieses Gericht fügt Argumente für die beklagte Landeshauptstadt München, den Freistaat Bayern und gegen den Kläger hinzu: Da seine Adresse „bei Humer“ lautet, geht man davon aus, dass er zur Untermiete wohnt. Also hat er kein Haus und keine Frau, das heißt, er ist gar nicht integriert – nach dem Prinzip müsste man viele Deutsche ausweisen. Samadi verteidigt sich damit, dass es auch andere Formen der Integration gebe, als sich materielle Dinge anzuhäufen. Obwohl der Staat sich ein teuren Anwalt leisten könnte, fungiert schon wieder ein Gericht als Anwalt seines Arbeitgebers, frei nach dem Motto „Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing“. Natürlich in Verkennung der Tatsache, dass sein wahrer Arbeitgeber das steuerzahlende Volk ist – Samadi inklusive. Das Gericht entscheidet sich für eine weitere Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis, aber immerhin für eine Duldung, wie sie der neue eingeschränkte Iran-Erlass fordert.

Samadi geht in Revision beim Bundesverwaltungsgericht in Berlin [3]. Das Gericht gibt ihm Recht, die vorherigen Instanzen hatten in keiner Weise seine Interessen abgewogen, und sie haben in der Tat Argumente zur Verteidigung der Beklagten hinzu gedichtet, was absolut nicht ihre Funktion ist. Samadi wird an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen, mit der Auflage, das Gericht möge die Unstimmigkeiten korrigieren.

Die Ausländerbehörde behauptet daraufhin, er möchte die Frau, bei der er in Untermiete wohnt, heiraten. Eigentlich hat Samadi nie behauptet, dass er die Frau heiraten wollte, außerdem wusste die Ausländerbehörde, dass die Person, bei der er wohnt, eine Frau ist, zudem eine deutsche Frau und ledig, was sie alles nicht hätte wissen können, ohne den Datenschutz zu verletzen. Übrigens, nach späterer Akteneinsicht wird Samadi durch eine angehängte Notiz erfahren, dass man in der Ausländerbehörde eine Scheinabwägung – so stand es drin – vorgeschlagen hatte. Diesmal verpflichtet das Gericht die Ausländerbehörde, ihm die Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, die sie laut Gericht schon 1974, spätestens aber 1980 hätte geben müssen. Man schreibt das Jahr 1990.

„Wäre Dr. Samadi seinerzeit im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gewesen, die die Erteilung einer Arbeitserlaubnis ermöglicht hätte, wären die Vermittlungsaussichten durchaus gut gewesen“

Es ist leider ein Pyrrhussieg. Samadi findet keine Arbeit mehr. Sechs Jahre sind vergangen, was an sich keine allzu lange Zeit ist, aber inzwischen ist viel passiert: Deutschland ist durch die Wiedervereinigung deutlich größer geworden, es gibt viel mehr qualifizierte Kräfte, ohne dass das Angebot entsprechend gestiegen wäre. Selbst das Arbeitsamt schreibt: „Wäre Dr. Samadi (S) seinerzeit im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gewesen, die die Erteilung einer Arbeitserlaubnis ermöglicht hätte, wären die Vermittlungsaussichten durchaus gut gewesen“. [4] Zwischenzeitlich aber hatte sich das Blatt auf dem Arbeitsmarkt für Physiker gewendet und Samadi ist mittlerweile über 40 Jahre alt.

Wird der Staat haften?

Samadi findet kein Vollzeitjob mehr, sondern darf z.B. nicht mehr als 10 Stunden in der Woche in der Uni arbeiten. Er ist durch den Kampf um sein Recht bei geringer Beschäftigung hoch verschuldet, und er beschließt, die Landeshauptstadt München und den Freistaat Bayern in einem Amtshaftungsverfahren zu verklagen. Nur, dafür braucht er 60.000 Euro, so dass er Prozesskostenhilfe beantragen muss. Diese wird vom Landgericht ohne Begründung abgelehnt, es sei denn, man betrachtet die folgende Aussage als Begründung: „Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die zutreffenden Ausführungen in der Stellungnahme der Landeshauptstadt München verwiesen“. Man stelle sich vor, man ruft die Polizei an und bezichtigt jemanden des Mordes. Die Polizei antwortet: „Wir haben den Angezeigten gefragt, und er sagte, er war es nicht, also ist die Sache erledigt.“ Der Unterschied ist natürlich, dass der Angezeigte nicht irgendjemand ist, sondern ein öffentliches Organ, die Verwaltung der Stadt München.

„Unter anderem sind es Ausdrücke wie ‚juristische Selbstbefriedigung‘, ‚geistige Prostitution‘ und ‚politischer Analphabetismus‘, die die Beamten erregen.“

Die Ausländerbehörde zeigt ihn wegen Beleidigung an. Unter anderem sind es Ausdrücke wie „juristische Selbstbefriedigung“, „geistige Prostitution“ und „politischer Analphabetismus“, die die Beamten erregen. Die angeblichen Beleidigungen waren Zitate von anerkannten Juristen und Gelehrten. Er zeigt selbst die Ausländerbehörde an, wegen Prozessbetruges und Verstoßes gegen den Datenschutz. Der Staatsanwalt gibt der Klage der Ausländerbehörde statt, der von Samadi nicht. Das Amtsgericht ordnet eine psychiatrische Untersuchung seiner Zurechnungsfähigkeit an. Recht ist ungewollt seine Spezialität geworden, er ist offensichtlich in Fahrt gekommen, und legt gegen diese Anordnung Beschwerde beim Landgericht ein und trägt vor, es würde die Glaubwürdigkeit der bayerischen Justiz in Frage stellen, wenn die höchsten Verwaltungsrichter in Bayern ihn zu einem Privatgelehrten und Freigeist erklärten, und dann ein Richter einer niederen Instanz ihn als Irren deklariert. Die Beschwerde wird abgewiesen, und er muss zum Psychiater. Dieser schreibt dann:

„Proband erscheint pünktlich und ordentlich gekleidet zur Untersuchung. Die deutsche Sprache spricht er sehr gut und setzt sie auch sehr gezielt und akzentuiert ein. Während des Untersuchungsgesprächs ist Herr Dr. Samadi stets korrekt und kontrolliert. Keinerlei Hinweise auf formale oder inhaltliche Denk­störungen im Sinne einer Psychose. Allenfalls dezente paranoide Anklänge, die situativ verständlich sind. Affektiv ausgeglichen. Die intellektuelle Ausstattung ist der beruflichen Ausbildung entsprechend sicher überdurchschnittlich“. [5]

Samadi lehnt den Richter wegen Befangenheit ab, verlässt die Verhandlung und wird in Abwesenheit zu 60 Tagen Gefängnis bzw. 1800 DM Strafe verurteilt. Er legt Berufung beim Landgericht ein. Von den neun ursprünglichen Beleidigungen werden fünf für nicht strafbar erachtet und die Strafe auf die Hälfte reduziert.

Beim dritten Prozesskostenhilfeantrag erweitert er die angestrebte Klage: Nicht nur die Landeshauptstadt München und der Freistaat Bayern werden beklagt, sondern auch die Richter, die ihm die Prozesskostenhilfe verweigert haben, da sie die Rechtswidrigkeiten der Ausländerbehörde einfach ignoriert hatten. Gleichzeitig begehrt er die Entscheidung einer unparteiischen Kammer. Und wer sitzt am Richtertisch? Die betroffenen Richter. Sie trennen die zwei Klagen und verweigern die Prozesskostenhilfe für die Klage gegen die Landeshauptstadt München. Sie für die Klage gegen den Freistaat Bayern samt Richter (sie selbst) abzuweisen, erscheint ihnen doch vermutlich etwas zu heftig, und sie lassen sich da Zeit – bis 1999.

Samadi klagt gleichzeitig gegen die Landeshauptstadt München, ohne Prozesskostenhilfe. Im Jahr 1995 fällt das Gericht ein Säumnisurteil, weil Samadi keinen Anwalt gefunden hat, der eine Klage gegen Richter unterstützt. Er legt Beschwerde beim Oberlandesgericht ein, da das Amtshaftungsgericht nicht über seinen Antrag auf Beiordnung eines Anwalts entschieden hatte.

Am Oberlandesgericht wird er von einem couragierten Anwalt vertreten, Dr. Knoll. Der Richter räumt eine Verhandlung ein und weist sie danach wieder ab. Er gibt in der mündlichen Verhandlung zu, dass die Richter von der Vorinstanz die Verfahren gegen die Landeshauptstadt München und den Freistaat Bayern nicht hätten trennen dürfen, und dass die Prozesskostenhilfe und die Beiordnung eines Anwalts zwei verschiedene Paar Stiefel sind, was dem Amtshaftungsgericht nicht klar war oder nicht klar sein wollte.

„Und zwischen ihrem Arbeitgeber plus ihnen selbst auf der einen Seite und einem nie Ruhe gebenden Ausländer auf der anderen entscheiden sie sich zugunsten ihres Arbeitgebers.“

Beim Berufungsverfahren 2002 wird er im 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts schon wieder mit drei beklagten Richtern des OLG auf der Richterbank konfrontiert, und er fragt, wieso die Beklagten nicht auf der Anklagebank sitzen. Die Begründung ist, dass nicht die Richter Beklagte sind, sondern der Freistaat Bayern. Wenn ein Richter in ein Autounfall verwickelt ist und es zu einer gerichtlichen Verhandlung kommt, wo der Richter einer der involvierten Fahrer war, darf der andere Fahrer den Richter wegen Befangenheit ablehnen, auch wenn es offiziell um die Klage einer Versicherung gegen eine andere geht. Und zwischen ihrem Arbeitgeber plus ihnen selbst auf der einen Seite und einem nie Ruhe gebenden Ausländer aus dem so beliebten Nahost auf der anderen, entscheiden sie sich zugunsten ihres Arbeitgebers. Und für sich selbst. Welch’ Wunder. Im gleichen Jahr erlangt übrigens S. nach einem elfjährigen Kampf und nach 38 Jahren in Deutschland die deutsche Staatsangehörigkeit.

Im Jahre 2005 geht er in Revision beim Bundesgerichtshof. Dort darf ein Kläger nur durch einen beim BGH zugelassenen Anwalt vertreten werden. Die sind erstens sehr teuer und zweitens wollen sie keinen Mandanten vertreten, der Richter anklagt. Am Ende findet er trotzdem einen Anwalt, der bereit ist, ihn für wenige tausend Euro zu vertreten – vorausgesetzt, er wird vom Richter beigeordnet. Samadi erfährt, wie seine Chancen stehen: Mit einer einzigen Ausnahme hat noch nie ein Ausländer in einem Amtshaftungsverfahren beim BGH gewonnen, und so ist es ziemlich aussichtslos. Noch aussichtsloser ist es natürlich, wenn der Kläger Schadenersatz in Millionenhöhe will – Samadi hat seinen entstandenen Schaden über die Jahrzehnte penibel durchgerechnet. Millionen Euro Schadenersatz bekommen Manager, aber keine armen Ausländer, wobei er vor allem deshalb arm geworden ist, weil man ihn zum Armen gemacht hat.

„Die Richter interessierte nicht, ob alles in den Gerichten mit rechten Dingen zugegangen war“

Die Geschichte erinnert an ein Spruch im wilden Westen, „We’ll give him a fair trial before we hang him“. Die Klage wird abgewiesen: „Die Entscheidung war richtig, sie hätte der Sache nach nicht anders ausfallen dürfen“. [6] Will heißen, die Richter interessierte nicht, ob in den Gerichten alles mit rechten Dingen zugegangen war: Auch bei einem ordentlich arbeitenden Gericht wäre das Urteil so ausgefallen. Rechtlich gesehen sind Gerichtsentscheidungen nichtig, wenn zum Beispiel jemand unter Folter ein Verbrechen zugibt oder wenn Beweise zurückgehalten werden, unabhängig davon, ob man der Überzeugung ist, dass der Angeklagte schuldig ist. Und in diesem Fall ging es nicht darum, ob der Kläger Recht auf Schadenersatz hat, sondern darum, ob die Gerichte richtig gearbeitet haben oder nicht.

Samadi wendet sich mehrmals an das Bundesverfassungsgericht. Da die Richter A, B und C schon seine letzte Beschwerde über von anderen Gerichten anerkannte Rechtwidrigkeiten ignoriert haben, verlangt er, dass Richter A, B und C bei der nächsten Entscheidung nicht dabei sind. Selbst nach mehreren Beschwerden ist es trotzdem Richter C, der die Klage abweist.

Weniger als zwei Prozent der Klagen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) werden angenommen, eine von ihnen ist die von Samadi. Das Ministerium gibt zu, dass Richter nicht über Fälle entscheiden dürfen, in denen sie mitbetroffen sind, und ist bereit, 18.500 Euro zu zahlen, wenn der Kläger auf weitere Klagen verzichtet. Damit ist er natürlich nicht einverstanden, das Geld wird trotzdem auf das Konto seiner Gläubiger und seines Rechtsvertreters überwiesen.

Samadi beantragt ein Wiederaufnahmeverfahren. Wiederaufnahmeverfahren sind in Deutschland auf Druck des Europäischen Gerichtshofs seit dem 1. Januar 2007 zugelassen. Das Oberlandesgericht weist den Antrag ab, da sein Amtshaftungsanspruch am 13. Dezember 2006, 18 Tage vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes, rechtskräftig abgewiesen wird. So, und nun kann er in Deutschland nicht mehr klagen, obwohl der EGMR Staaten in der Pflicht sieht, bei Verletzung der Menschenrechtskonvention Wiedergutmachung zu leisten.

„Er hätte vermutlich Geld, jetzt hat er vor allem Schulden.“

Samadi ist sicher nicht in der Situation, in der er wäre, wenn er 30 Jahre lang als Nuklearphysiker gearbeitet hätte. Er hätte vermutlich Geld, jetzt hat er vor allem Schulden. Obwohl er viel gearbeitet hat – immerhin hat er 14.000 Seiten geschrieben, das schaffen nur wenige Schriftsteller. Nach der Europäischen Menschenrechtskonvention muss Deutschland diesen Missstand beseitigen, kann es aber über Gerichte nicht mehr tun. Samadi beschwert sich wieder beim EGMR, und wartet jetzt das Ende seines 30 Jahre währenden Kampfes ab.

Die deutsche Sprache hat zwei Wörter, wo English und die romanischen Sprachen nur eins haben: was man dort „justice“ oder „justicia“ nennt, nennen die deutschen „Justiz“ oder „Gerechtigkeit“ – im Deutschen wird es gleich klar, dass beide Begriffe nicht unbedingt deckungsgleich sind. Ich hab Samadi einmal für einen Film interviewt, und bei der Frage, wie sich ein Arier in Deutschland fühlt (Iran heißt „Land der Arier“), fiel seine Antwort nicht allzu positiv aus. Vielleicht wird trotzdem am Ende nicht für die Justiz entschieden, sondern tatsächlich für die Gerechtigkeit. Gewinnt er – nicht nur in der Sache (das hat er schon), sondern auch das Geld – wird man sagen, dass er eine bewundernswerte Ausdauer hatte. Verliert er, wird man sagen, er war ein unverbesserlicher Querulant.

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