01.11.2000

Ein Schulterzucken über die Methoden der Wissenschaft

Essay von Jennifer Cunningham

Jennifer Cunningham berichtet, wie der frühkindliche Autismus für absonderliche medizinische Theorien herhalten muss und wie wissenschaftliches Denken ins Hintertreffen gelangt.

Alle Eltern freuen sich auf darauf, an der Entwicklung ihrer Kinder teilzuhaben, mitzuerleben, wie das Kind immer neue Dinge lernt, neue Entdeckungen macht und neue Fähigkeiten entwickelt. Entsprechend groß ist das Entsetzen von Eltern, die feststellen müssen, dass ihr Kind autistisch ist und viele Entwicklungsstadien nie durchlaufen wird. Das Ausmaß, das die Behinderung annimmt, bedeutet zudem, dass das gesamte Leben einer betroffenen Familie für sehr lange Zeit erheblich gestört sein wird.Die Diagnose “Autismus” ist eine schreckliche Nachricht, die dadurch noch schlimmer wird, dass über viele Elemente dieser Erkrankung immer noch wenig bekannt ist. Wir wissen, dass Autismus eine physische Erkrankung des Gehirns ist und dass genetische Faktoren bei ihrer Entstehung eine Rolle spielen. Es gibt aber nach wie vor keinen simplen medizinischen Test (wie zum Beispiel einen Bluttest, einen Gentest oder eine Gehirntomografie), mit dem sich die Krankheit
nachweisen ließe. Die Diagnose erfolgt aufgrund von Verhaltensmerkmalen. Als autistisch gelten Kinder, die bis zum Alter von drei Jahren eine Reihe von Defiziten oder abnormen Mustern in den Bereichen der Interaktion, der sozialen Kommunikation und der Vorstellungsgabe aufweisen. Hinzu treten abweichende Verhaltensmuster wie zum Beispiel stereotype oder sehr beschränkte Interessen, ein starker Hang zu Routinen und Ritualen, die Konzentration auf einzelne Teile bestimmter Spielzeuge sowie repetitive Hand- oder Körperbewegungen.

 

Was ist Autismus? Autismus ist eine schwere, dauerhafte neurologische Störung der sozialen Kommunikationsfähigkeit. Bekannt ist mittlerweile, dass Autismus durch strukturelle oder funktionelle Anomalitäten des Gehirns ausgelöst wird, die bei der Entwicklung des Gehirns (vermutlich während der frühen Embryogenese) entstehen und die die geistige, soziale und emotionale Entwicklung des Kindes erheblich stören. Die Anomalitäten scheinen sich auf das “Motivationszentrum” des Gehirns auszuwirken, also auf diejenigen Bereiche, die für die Aufmerksamkeit zuständig sind, für die Steuerung von Handlungen und die Strukturierung und den Ausdruck von Emotionen. Diese Anomalitäten werden meist erst im zweiten Lebensjahr bemerkt, wenn betroffene Kinder in ihrer sozialen Entwicklung zurückbleiben. Was ist mit sozialer Kommunikation gemeint? Die wichtigste Voraussetzung für funktionierende Kommunikation ist die Sprache. Ein weiteres Elemente ist die Fähigkeit zu interagieren, das heißt, gedanklich und emotional an seiner Umwelt teilhaben zu können. Die Entwicklung autistischer Kinder zeigt die stärkste Abweichung im Vergleich zur normalen Entwicklung im mangelnden Vermögen, auf andere Menschen zu reagieren. Babys werden mit der Anlage geboren, auf soziale Stimuli zu reagieren und sich an ihre Bezugspersonen zu binden. Ungefähr im Alter von neun Monaten entwickeln sie zwei sehr wichtige Verhaltensweisen. Zunächst beginnt sich die Aufmerksamkeit des Kindes zu teilen zwischen der Wahrnehmung bestimmter Objekte oder Handlungen und der Wahrnehmung, wie Erwachsene auf ebendiese Objekte oder Handlungen, zum Beispiel durch die Änderung ihres Stimmfalls, reagieren. Objekte, die die Kinder selbst interessant finden, zeigen sie auch anderen. Dies ist ein entscheidender Entwicklungsschritt, entwickelt sich hier doch ein Bewusstsein von “Ich” und “die Anderen”. Außerdem beginnen Babys zu dieser Zeit, Informationen von den Gesichtern Erwachsener abzulesen – man spricht hier von “sozialer Referenzierung”. Konkret bedeutet dies, die Kinder werten den Gesichtsausdruck ihrer Bezugspersonen und entscheiden dann, wie sie handeln. Erhalten sie positive oder aufmunternde Signale, bewegen sie sich auf ein Objekt zu oder gehen auf eine Situation ein; sind die Signale negativ, wenden sie sich ab. Die Teilung der Wahrnehmung und die soziale Referenzierung erlauben es Kindern, vermittels Anderer zu lernen, wie sie Objekte und Situationen einschätzen sollen und wie sie sowohl praktisch als auch emotional darauf reagieren können. Autistische Kinder konzentrieren sich meist ganz auf ihr eigenes Handeln und teilen ihre Erfahrungen und Gefühle nicht mit. Sehr selten nur ahmen sie Handlungen Anderer nach, folgen fast nie dem Blick oder der Handbewegung anderer Personen und schauen Erwachsenen nicht ins Gesicht, um deren Gesichtsausdruck zu lesen. Ebenso wenig deuten sie auf Dinge, die sie interessieren. Diese Mängel beeinträchtigen die Fähigkeit des Kindes, Situationen einzuschätzen, Emotionen anderer zu verstehen oder zwischenmenschliche Beziehungen zu begreifen. Die Tatsache, dass autistische Kinder Situationen nicht objektiv, das heißt aus der Warte Anderer betrachten können, behindert ganz erheblich ihre Fähigkeit, innerhalb gesellschaftlicher Zusammenhänge zu lernen und zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen.



Ist die Diagnose einmal gestellt, stehen die Eltern vor der Situation, dass ihr Kind an einer noch immer unheilbaren Krankheit leidet. Versuche mit einer Reihe von Psychopharmaka lieferten bislang negative oder widersprüchliche Ergebnisse. Die bisherigen Erfahrungen deuten darauf hin, dass spezielle Lernprogramme am ehesten dazu geeignet sind, die sozialen Fähigkeiten und die Sprachentwicklung autistischer Kinder zu fördern sowie ihre obsessiven, ritualistischen Verhaltensmuster abzubauen. Die Erfolge dieser Ansätze aber bewegen sich innerhalb enger Grenzen.


Eltern, die sich mit dieser aktuellen Lage der Dinge nicht abfinden können und wollen, stürzen sich auf der verzweifelten Suche nach immer neuen Kuren und Heilverfahren häufig emotional und finanziell in den Ruin. In den vergangenen zwei Jahren wurden eine Reihe “neuer Heilverfahren” in den Medien vorgestellt, wodurch sich die Zahl der verzweifelt Suchenden noch erhöht hat.


Ansätze zur Entwicklung dieser neuen Verfahren lieferte zunächst die Theorie, dass die Kombi-Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln zu einer Entzündung des Darmtrakts und in der Folge zu Autismus führe. Durch einen Zufall stieß man auf das Sekretin als vermeintlichen Gegenindikator, ein Hormon des Verdauungstraktes, von dem behauptet wird, es könne die Symptome des Autismus rückgängig machen. Ähnliches wurde auch von einer Diät behauptet, die auf Gluten (Eiweißstoffe des Weizen- und Roggenmehls) und Milchprodukte verzichtet. In der Folge dieser “Entdeckungen” wurden Kinder- und Hausärzte mit einer Flut von Anfragen überschüttet, autistische Kinder zu Internisten zu überschreiben, ihnen gluten- und milchfreie Diäten oder Sekretin-Injektionen zu verschreiben.


Ein Großteil derer, die mit autistischen Kindern arbeiten, kamen solchen Bitten nicht oder nur ungern nach, da für die entsprechenden Theorien jeder wissenschaftliche Nachweis fehlt. Viele Eltern kümmerten sich um solche Vorbehalte jedoch nicht und setzten ihre Kinder auf entsprechende Diäten oder ließen ihnen (meist für sehr viel Geld) von einigen wenigen gewillten Ärzten Sekretin spritzen.Durch die Berichterstattung der Medien bestärkt, denken inzwischen zahlreiche Eltern, dass viele Ärzte, die zum Thema Autismus arbeiten, konservativ, verbohrt und autoritär sind. In mir und in vielen meiner Kollegen sieht man eine Kaste von Medizinern, die zwar einerseits eine Impfung selbst dann noch verteidigt, wenn sie bei einigen Kindern zu Autismus führt, die aber andererseits nicht dazu bereit ist, sich mit neuen Theorien anzufreunden, die möglicherweise manche Symptome des Autismus lindern können. Forscher und Ärzte wiederum, die solchen neuen Ansätzen gegenüber aufgeschlossen sind, seien, so meint man, mutige Pioniere, die gegen Dogmen und Kastendünkel ankämpfen.
Der Gastroenteriologe Dr. Andrew Wakefield, dessen Studie auf eine Verbindung zwischen der Mumps-Masern-Röteln-Impfung und Autismus hinwies (The Lancet, 28.2.1998), erklärte, er handele aus moralischer Verantwortung für das Wohl seiner Patienten: “Wenn es Kinder gibt, die durch diese Vorsorgemaßnahmen geschädigt werden, muss man sich das anhören, das untersuchen und behandeln. Ich weiß, dass das für Hausärzte viele Scherereien mit sich bringt, aber anders geht es nicht.” (The Independent, 27.2.1998)
Dr. Wakefield kann selbstverständlich seine Meinung vertreten. Das befreit ihn jedoch nicht von den hohen Anforderungen präziser wissenschaftlicher Arbeit. 1994 erstellte sein Team am “Royal Free”-Krankenhaus in London bereits eine Studie, in der ein Zusammenhang behauptet wurde zwischen Masern (beziehungsweise dem Masern-Impfstoff) und einer Entzündung des Verdauungstraktes, der Crohnschen Krankheit. Die damaligen Ergebnisse konnten seither von anderen Forschern nicht repliziert werden; die in der Studie formulierte Theorie wurde widerlegt (vgl. British Medical Journal (BMJ), 17.1.1998). In Wakefields Studie über autistische Kinder wurden keine Belege für Masern-Impfstoff im Gewebe der Betroffenen angeführt.


Die Theorie eines Zusammenhangs zwischen Impfung und Autismus beruht auf wenigen Korrelationen und auf Spekulation. Seit Mitte der sechziger Jahre wurden mehrere hundert Millionen Menschen gegen Masern geimpft, ohne dass sie an einer Entzündung des Verdauungstraktes oder an Autismus erkrankt wären. Die Statistiken belegen für Großbritannien eine Zunahme von Autismusfällen – eine Zunahme allerdings, die etwa ein Jahrzehnt vor 1988, dem Datum der Einführung der Mumps-Masern-Röteln-Impfung, einsetzte. Seit 1988 haben sich die Zahlen kaum verändert (BMJ, 7.3.1998). Selbst wenn es so sein sollte, dass einige autistische Kinder eine Entzündung des Verdauungstraktes hätten (und fast alle Gastroenteriologen bestreiten dies), bedeutet das noch nicht, dass dies kausal mit dem Autismus zusammenhinge. Selbst in Wakefields Studie gingen die Verhaltensänderungen, von denen behauptet wird, sie seien das Resultat von Stoffwechselfehlern im Darmtrakt, die dann wiederum zu neurologischen Schäden führte, der Erkrankung des Darmes in fast allen Fällen voraus.


Dessen ungeachtet wurden Wakefields Behauptungen in Verbindung gebracht mit den Theorien über Sekretin. Sekretin ist ein im Zwölffingerdarm produziertes Hormon, das in der Bauchspeicheldrüse wirkt und Wasser, Bikarbonate und Enzyme produziert. Diese Enzyme wiederum wandeln Proteine in Polypeptide und schließlich in Aminosäuren um. Letztere wandern durch die Membran des Darms ins Blut. Versuchsweise wird gelegentlich einem Patienten eine Dosis Sekretin verabreicht, um bestimmte Störungen im Verdauungstrakt zu untersuchen oder um die Funktion der Bauchspeicheldrüse zu testen.

“Berichte über Heilungserfolge mittels Sekretin sind rein anekdotisch.”

Nachdem 1996 Parker Tucker, ein amerikanisches Kind, das an Autismus leidet, eine solche Testdosis erhielt, berichteten seine Eltern von einer dramatischen Verbesserung seines Verhaltens, speziell in Hinsicht auf Augenkontakt und die Sprache. Dies führte zu einer Flut von Anfragen durch Eltern, die verlangten, dass auch ihr autistisches Kind Sekretin erhielte; Ähnliches wiederholte sich zwei Jahre danach in Großbritannien. Die Theorie lautet, dass autistische Kinder zu wenig Sekretin produzieren, was zu einer mangelhaften Verdauung von Proteinen führt – speziell von Gluten und dem in Milch enthaltenen Kasein –, wodurch wiederum Polypeptide durch eine beschädigte Darmmembran (hier kommt Wakefields Theorie ins Bild) ins Blut gelangen. Diese “toxischen” Polypeptide oder Opioide, so mutmaßt man, binden sich an Rezeptoren für morphinartige Substanzen im Gehirn und blockieren diese für die normalen neurologischen Transmitter.
Ganz gleich, ob einem diese Theorie nun elegant oder elaboriert erscheint – sie ist jedenfalls nie bewiesen worden. Berichte über Heilungserfolge mittels Sekretin sind rein anekdotisch. Bei drei Studien in den USA, bei denen im Vergleich Sekretin und ein Placebo gegeben wurde, ließ sich zwischen den beiden Gruppen kein Unterschied im Verhalten feststellen. Zwei Studien in Taiwan kamen zu dem Ergebnis, dass die Gabe von Sekretin die Symptome des Autismus geringfügig lindere; diese beiden Studien jedoch sind in Fachkreisen sehr umstritten. Beunruhigender noch als das Fehlen jedes schlüssigen Beweises ist die Tatsache, dass weder in den USA noch in Großbritannien geprüft wurde, ob die Gabe von Sekretin an Kinder unbedenklich ist. Wir haben also keinerlei Kenntnis von eventuellen Nebenwirkungen.


Warum erfreuen sich dann aber diese Theorien bei den Eltern autistischer Kinder solcher Beliebtheit? Vor fünf Jahren, als ich zu einem Team von Medizinern stieß, das Autismus untersucht, diagnostiziert und zu behandeln versucht, suchten Eltern auch schon verzweifelt nach Antworten für die Ursachen der Krankheit und nach möglichen Heilmethoden. Damals jedoch, glaube ich, hätten sie ihre Kinder nicht Versuchen mit einer Substanz ausgesetzt, über deren Folgen nur wenig bekannt ist. Inzwischen allerdings unterliegen die Eltern – wie auch Forscher und Ärzte – anderen gesellschaftlichen Einstellungen und Trends. Heute wird die moderne Medizin oft rasch verteufelt, während alternative Medizinen und Therapien Konjunktur haben. Damit einher geht ein Schulterzucken über die Methoden der Wissenschaft und eine Hinwendung zu weniger rationalen, häufig religiösen oder mystischen, vor allem aber zu wesentlich mehr subjektiven Begründungen für Behandlungs- und Heilverfahren.


Diese Haltung ist nicht zu trennen von dem weit verbreiteten Eindruck, dass die Moderne zu einer immer stärker “künstlichen”, vergifteten und krank machenden Umwelt geführt hat, was konkret unter anderem an der Zunahme von Allergien, Antibiotika-resistenten Erkrankungen und genetischen Risiken festgemacht wird. In diesem recht dominanten Meinungsklima überrascht es wenig, dass viele Menschen sich heute vor genau dem fürchten, was im zwanzigsten Jahrhundert viele Krankheiten zu besiegen half – vor der modernen Medizin, oder, konkreter, vor Antibiotika und Impfungen.Fataler als derartige Vorstellungen ist aber ein viel tiefgreifenderer Trend: der Trend, sich selbst als Opfer zu sehen, als Opfer dunkler, übermächtiger, unbeherrschbarer Kräfte. Diese heute sehr weit verbreitete Haltung kann die Tatsache nicht akzeptieren, dass es in der Natur wie auch in der Gesellschaft so etwas wie Unfälle und Zufälle gibt. Stattdessen neigen die meisten Menschen heutzutage dazu, bei Unglücken – seien es Naturkatastrophen oder genetische Defekte – stets die Schuld bei irgendjemandem oder irgendetwas zu suchen. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum Eltern autistischer Kinder heute so schnell auf haltlose Behauptungen reagieren, sei es eine angeblich schädliche Impfung, sie es die falsche Ernährung. Auch die Anfeindungen, mit denen sich viele Mediziner konfrontiert sehen, sind auf dieser Basis zu verstehen. All dies führt allerdings leider dazu, dass heute bei der Behandlung autistischer Kinder immer häufiger Sicherheitsstandards bei der Behandlung ignoriert werden und die Wissenschaftlichkeit einer Diagnose unüberprüft bleibt.

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