01.05.2004

Ein Anflug von Verbitterung

Von Thilo Spahl

Thilo Spahl über die wachsende Zahl psychischer Störungen.

Wer klagt, es gebe kein Wachstum mehr, der möge sich mal die Umsatzentwicklung im psychosozialen Bereich anschauen. Hier stehen die Zeichen in der gesamten westlichen Welt auf Hausse. Wie in vielen anderen Gebieten ist die Vormachtstellung der USA noch unangefochten. Jenseits des Atlantiks erhalten aktuellen Schätzungen zufolge bereits 80 Prozent der Menschen psychologische Beratung, Medikamente oder Therapie. Auch im Export sind die US-Amerikaner Weltmeister. Erfolgsstories wurden in den letzten Jahren insbesondere mit PTSD (posttraumatische Belastungsstörung, Markteintritt 1980) und ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom, Markteintritt 1987) geschrieben. Aber auch Essattacken (Binge Eating Syndrom, BES), Burnout-Syndrom, Internetsucht (Internet Addiction Disorder, IAD), Liebeskummer, Sexsucht und vieles mehr sind in den Katalog der Krankheiten aufgenommen worden und erfreuen sich reger Diagnosetätigkeit.

Auch in Deutschland geht es in dieser Hinsicht aufwärts. Bei immer mehr von uns werden psychische Störungen entdeckt. Sie sind mittlerweile die vierthäufigste Ursache für Fehlzeiten in deutschen Unternehmen, und zwischen 1997 und 2001 hat die Zahl der Fälle von Arbeitsunfähigkeit wegen psychischer Störungen um 50 Prozent zugelegt. Mehr als acht Millionen Bundesbürger zwischen 18 und 65 Jahren leiden nach Angaben des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie an einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung.
Der nächste Schritt wäre es, die Vorherrschaft der Angloamerikaner direkt anzugehen und mit eigenen Produkten auf den Markt zu kommen. Dies scheint im letzten Jahr dem Berliner Psychiater Michael Linden tatsächlich gelungen zu sein. Er hat ein Syndrom kreiert, das sich weltweit Chancen ausrechnen kann. Seine Entdeckung, die er der Untersuchung von Wiedervereinigungsopfern verdankt, wurde im In- und Ausland durchaus gewürdigt. Die posttraumatische Verbitterungsstörung (PTED) hat das Zeug zu einem echten Blockbuster. Die BBC meldete:

„Jammernde Arbeiter sind krank. Leute, die ihre Kollegen nerven, indem sie ständig bei der Arbeit herummeckern, können in Wirklichkeit laut einer neuen Studie unter einer Geisteskrankheit leiden. Nach Aussage deutscher Forscher leiden sie unter einem neuen Syndrom mit dem Namen Posttraumatische Verbitterungsstörung.“

Charakteristisch für das neue Syndrom ist eine tiefe Verbitterung aufgrund einer persönlichen Kränkung, insbesondere Entlassung und Konflikte am Arbeitsplatz.
Ein – gewiss überwindbares Problem – besteht darin, dass die meisten Patienten nicht einsehen wollen, dass sie krank sind. „PTED-Patienten sind von ihren Leiden nur schwer zu befreien, weil viele durch ihre familiäre Prägung und das traumatische Ereignis psychisch blockiert sind“, erklärt Linden, der dies bedauert, da er sich durchaus im Besitz einer brauchbaren Kur mit Namen Weisheitstherapie wähnt. „Weise ist im wissenschaftlichen Sinne derjenige, der Handlungen anderer Personen nachvollziehen und sich in sie emotional hineinversetzen kann, Perspektiven wechselt und auch mit unfertigen Lösungen leben kann“, umschreibt er die Methode. Der Gekündigte erkenne und akzeptiere so im Rollenspiel eventuell, weshalb er entlassen wurde und gelange nebenbei zu der Erkenntnis, dass der Verlust des belastenden Jobs auch ein Gewinn an Lebensqualität und die Chance für einen Neuanfang sein kann.

„Woher kommt die große Nachfrage nach professioneller Hilfe bei allen möglichen Wechselfällen des Lebens?“

So weit, so gut und gar nicht mal so falsch. Ich zweifle nicht daran, dass eine solche Therapie dem Betroffenen helfen kann. Von einigen Kritikern dieser Psychologisierung sozialer Missstände wie Arbeitslosigkeit wurde Linden natürlich vorgeworfen, dass die Methode arg affirmativ ist, indem an der Wahrnehmung des Opfers gedreht wird, statt das eigentliche Problem auf gesellschaftspolitischer Ebene anzugehen. Doch so funktioniert Psychologie eben.

Das eigentliche Problem ist ein anderes. Wir müssen uns fragen, woher die große Nachfrage nach professioneller Hilfe bei allen möglichen Wechselfällen des Lebens kommt. Es mag jemandem gefallen, anhaltende Verbitterung zu einer Krankheit zu erklären und als auslösendes Trauma zum Beispiel eine nicht erfolgte Beförderung zu identifizieren. Solange nicht große Teile der medizinischen Welt und der Öffentlichkeit bereit sind, diese „Entdeckung“ zu akzeptieren, besteht kein Anlass zur Sorge oder zur Beantragung der Erstattungsfähigkeit der Weisheitstherapie bei der Krankenkasse. Doch wird die Neudefinition des unglücklichen Zustands als Krankheit akzeptiert, dann folgt daraus nicht nur, dass der Betroffene darunter leidet, wie man eben auch unter Krankheiten leidet, sondern dass sein Leiden zu einer Angelegenheit für Arzt oder Psychologen wird.

Wir müssen uns fragen, weshalb es heute eines Psychiaters bedarf und ob sich nicht genug Freunde, Kollegen, Ehegatten finden, die den Gestrauchelten stützen und ihm wieder auf die Beine helfen und jene Weisheit aussprechen, die da lautet: „Mensch, sei froh, dass du den Scheißjob los bist. Sollen die doch sehen, wie sie ohne dich zurechtkommen!“ Tatsächlich gibt es diese informellen Helfer meist schon, sie sehen sich jedoch angesichts der Medikalisierung des Problems immer häufiger mit dem Vorwurf fehlender professioneller Ausbildung konfrontiert und sind daher zunehmend verunsichert. Dasselbe gilt für den Betroffenen selbst. Wenn einem beständig suggeriert wird, man könne mit Sorgen – welcher Art auch immer – nicht selbst fertig werden, glaubt man es irgendwann. Dies führt dazu, dass sich immer mehr Menschen genötigt sehen, es externen Dienstleistern zu überlassen, das eigene Gefühlsleben wieder in geordnete Bahnen zu lenken, statt auf ihr soziales Netzwerk zu zählen. Oder noch viel schlimmer: sie sind gar bereit, das eigene Gefühlsleben einer Gesundheitsvorsorge zu unterziehen. Denn der Trend in der Psychologie geht mehr und mehr in Richtung Prävention. Linden und seine Mitarbeiter sind natürlich auch auf Probleme gestoßen, die als Risikofaktoren der Krankheit Vorschub leisten. Es sind dies im vorliegenden Fall eine gestörte „Work-Life-Balance“ und ein einseitig ernährtes Selbstwertgefühl, das sich zu sehr auf den Job stützt. So werden hoher Einsatz im Job oder beruflicher Ehrgeiz auf eine Stufe mit Übergewicht oder Bluthochdruck gesetzt.

Wie aber soll es in den anderen Branchen aufwärts gehen, wenn gleich der Betriebspsychologe hellhörig wird, sobald sich einer mal so richtig in die Arbeit kniet?

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