01.09.2006

Ehe und Familie im Wandel

Kommentar von Sabine Beppler-Spahl

Sabine Beppler-Spahl über zwei Autoren, die der Single-Gesellschaft wenig abgewinnen können.

„Der Ring macht Ehen – und Ringe sind’s, die eine Kette machen.“
Friedrich Schiller: Maria Stuart, II,2 / Elisabeth


Kennen Sie den typischen Tatort? Die Kommissarin ist gestresst. Sie hat sich gerade von ihrem Lebensabschnittspartner getrennt und muss nebenbei auch noch einen Mord aufdecken. Der Gerichtsmediziner hetzt dagegen nach Hause, weil er sich als Alleinerziehender um seine Teenagertochter kümmern muss. So oder so ähnlich stellt sich die moderne Lebensform im deutschen Fernsehen dar. Zugegeben: Die traditionelle Familie gibt es, und sie ist nach wie vor das wichtigste Modell des Zusammenlebens von Eltern und Kindern in Deutschland. Dennoch weisen unsere Soaps auf einen Trend hin: Partnerbeziehungen, die fürs Leben angelegt sind, werden immer seltener.
Die Singles sind im Kommen, und Einpersonenhaushalte stellen mit 37 Prozent die größte Haushaltsgruppe in Deutschland. Der Zahl der Eheschließungen (im vergangenen Jahr betrug sie immerhin 388.461) steht eine Scheidungsrate von über 50 Prozent gegenüber. Hinzu kommt, dass der klassischen Verbindung ein Hauch von Langeweile anhaftet – weshalb man im Fernsehen gerne auf ihre Darstellung verzichtet. Wenn schon Familie, dann wenigstens anders.
Die Patchworkfamilie wird häufig als interessanter, flexibler und fantasievoller als die „normale“ dargestellt. Die persönliche Lebensgestaltung ist heute freier als je zuvor. Ob Single, in Paarbeziehung, gleichgeschlechtlich, allein erziehend oder im Patchworkstil – alles ist gesellschaftlich akzeptabel, und dagegen ist nichts einzuwenden.

Zwei Autoren, die englische Journalistin Jennie Bristow und der deutsche Universitätsprofessor Norbert Bolz, setzen sich dennoch kritisch mit dem Trend hin zu einer Gesellschaft von Singles auseinander. In einer von Bristow herausgegebenen Schriftensammlung mit dem Titel Maybe I do: Marriage and Commitment in Singleton Society, in der, neben ihr, zehn weitere Autoren (u.a. die Schriftstellerin Fay Weldon) Stellung beziehen, fragt sie: Weshalb entscheiden sich in einer Zeit, in der eine Ehe, anders als früher, aus wirklich freien Stücken eingegangen werden kann, immer weniger Menschen für diese Form der stabilen Zweierbeziehung? Auch für Norbert Bolz ist die Familie der Ort für feste Bindungen. In seinem Buch Die Helden der Familie wendet er sich gegen einen Fürsorgestaat, der diese Bindung schwächt, sowie gegen eine moderne Kultur der Selbstverwirklichung. Erfrischend an beiden Werken, die zu sehr unterschiedlichen – fast konträren – Ergebnissen kommen, ist, dass sie die Widersprüche und Dilemmata unserer Zeit aufzeigen sowie eine Diskussion in Gang setzen, die zu führen sich lohnt.

Risikomüdigkeit und Bindungsangst
Weshalb, so mag man sich fragen, interessiert uns überhaupt, wie einzelne Menschen ihr Leben organisieren? Die Entscheidung, ob man heiratet oder nicht, ist schließlich privater Natur und geht niemanden etwas an. Bristow und Bolz befassen sich jedoch nicht mit den Entscheidungen einzelner Personen, sondern betrachten einen sozialen Trend. Sie klinken sich ein in eine Diskussion, die weit über persönliche Entscheidungen hinausgeht. Es muss erlaubt sein, soziale Trends zu beobachten und zu kommentieren. Doch wie heikel dies in unserer dünnhäutigen Zeit ist, in der man stets nur persönliche Betroffenheit annimmt, zeigt sich an einigen Besprechungen des Buches von Bolz. Im Vorwort schreibt der Autor (die zu erwartende Kritik vorwegnehmend): „Wer über das Verhältnis der Geschlechter schreibt, ist entweder Frau oder Mann … Und wer über Familien schreibt, ist entweder verheiratet oder nicht … Besser ist es wohl, die Karten auf den Tisch zu legen.“
Er sei, so Bolz, mit einer Frau verheiratet, „die auf amtliches Befragen ‚Hausfrau’ als Beruf angibt, und Vater von vier schulpflichtigen Kindern“. Fortan wurde ihm von manchen Kommentatoren unterstellt, er würde mit seinem Buch „Anklage“ erheben, „weil nicht alle so leben wie Bolzens“.[1] Bristow dagegen wird vorgeworfen, sie sei „nostalgisch – ja, sogar konservativ“. Dies streitet sie ab, schreibt jedoch, sie sei nicht verzweifelt bemüht, sich von einer solchen Etikettierung zu distanzieren, nur um dann eine Gesellschaft der Singles gutzuheißen. Beide Autoren widersprechen dem politischen Mainstream, der die Singlekultur als ein progressives Aufbegehren gegen soziale Zwänge feiert.

Nicht die Emanzipation von der Tyrannei traditioneller Konventionen, sondern eine tiefer liegende Angst vor langfristigen Verpflichtungen sei die Ursache für die Bindungsmüdigkeit, so Bristow. Für sie reflektiert die als Trend zu beobachtende Abkehr von festen Bindungen eine tiefer liegende Skepsis der Menschen, sich überhaupt für etwas einzusetzen. Wer sich heute noch engagiert und persönlich einsetzt (z.B. für politische Ideen, Ideale, die Wissenschaft), gilt häufig als töricht, irregeleitet oder sogar gefährlich. Übervorsichtigkeit, Risikomüdigkeit und Angst machen auch vor intimen Beziehungen nicht halt, und dies wirft Fragen über unsere zunehmend atomisierte Gesellschaft auf.
Bolz sieht dagegen im engstirnigen, kurzsichtigen Selbstverwirklichungsdrang einer durch Oberflächlichkeit geprägten Spaßgesellschaft die Ursache für das Phänomen Bindungsangst. Die Ehe habe für die meisten Menschen keinen anderen Sinn als die Verwirklichung ihres Selbst, schreibt er, und weiter: „Das Problem liegt nun darin, dass die Individuen ihre Überzeugungen überleben. Es gibt nur noch temporäre Gewissheiten, die als Trends zwar Kultstatus bekommen, aber eben nicht mehr zum Rückgrat des Lebens werden können.“[2] Vor allem jedoch – und hier treffen sich Bristow und Bolz – gehen die neuen Trends bei der Eheschließung einher mit einem sich wandelnden Verständnis über das, was wir als private und öffentliche Sphäre bezeichnen. Während die Institution Ehe an Bedeutung verliert, nimmt der Staat immer mehr Einfluss auf die intimsten Bereiche unseres Lebens.
 

„Der moderne Staat ist kein offen diktatorischer, sondern ein therapeutischer. Er traut der Familie nichts zu und drängt daher seine Hilfe auf.“


Vater Staat
Spezielle Agenturen vermitteln seit einigen Jahren Hochzeiten, bei denen man sich das Jawort unter Wasser oder im kongolesischen Dschungel geben kann. Bei diesen so genannten „Eventhochzeiten“ geht es mehr um die Party als um den Akt der Eheschließung. Dies, so Bristow, sei ein Ausdruck dafür, wie sehr die Institutionen (Staat oder Kirche), die einer Hochzeit früher ihre eigentliche Bedeutung verliehen haben, an Einfluss verlieren. Bei den Hochzeitsfeiern der Vergangenheit sollte die Liebe eines Paares eine rechtliche (und in vielen Fällen auch kirchliche) Bestätigung erhalten. Die sich weniger formell gebende Eventhochzeit verwandelt diese Zeremonie in eine persönliche Geste, bei der die Individualität des Paares im Mittelpunkt steht und die gegenseitige Liebe vor allem vor Freunden und Verwandten erklärt wird.
Mit diesem Schwinden der größeren sozialen Bedeutung der Hochzeit wird jedoch auch das Konzept der Unantastbarkeit der Ehe untergraben. Das traditionelle Gebot der Heiligkeit der Ehe ging einher mit einer klaren Trennung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen. Der Staat legalisierte die Ehe, danach blieb es weitgehend den Eheleuten überlassen, wie sie ihren Haushalt und ihr privates Leben organisierten. Was hinter verschlossenen Türen geschah, ging niemanden etwas an. Auch wenn dieser Schutz der Privatsphäre zweifelsohne manche Menschen persönlich eingeschränkt, unter Druck gesetzt oder sogar Misshandlungen ausgesetzt hat, so basierte er doch, so Bristow, auf zwei freiheitlichen Prinzipien: einerseits auf der grundlegenden Annahme, dass Erwachsene ihr Leben in aller Regel selbstständig meistern können, und andererseits, dass eine zu große Einmischung von außen die privaten Beziehungen stören und langfristig den Individuen innerhalb dieser Beziehungen großen Schaden zufügen kann.

Da heute die Privatsphäre mit Argwohn betrachtet und hinter verschlossenen Familientüren Unrecht und häusliche Gewalt vermutet wird, werden diese Prinzipien immer weiter verwässert. Der Staat mischt sich zunehmend in die intimsten Bereiche unseres Lebens ein: von der Kindererziehung bis hin zu den Ernährungsgewohnheiten. Es ist eine der großen Stärken von Bolz, dass auch er diesen Trend erkennt und vor ihm warnt. „Das Familiäre wird heute zur Angelegenheit formaler Organisationen“, schreibt er.[3] Dieser Trend weitet sich auf immer mehr Bereiche aus: „ Die Schule wird zum Kinderbetreuungszentrum, in dem die Kinder nicht primär lernen sollen, sondern integriert werden.“ Sie wird, in den Worten von Bolz, immer häufiger „als Sozialagentur“ verstanden. Anders als Bristow sieht er in der Ausweitung des Wohlfahrtsstaates – der Eigeninitiative und Verantwortungsgefühl untergrabe – eine der Hauptursachen: „Seit jeder Einzelne in der Gesellschaft Gegenstand permanenter öffentlicher Sorge geworden ist, dringt der Staat immer tiefer in die Privatsphäre vor.“[4] Dieser Staat ist kein offen diktatorischer, sondern ein therapeutischer. Er traut der Familie nichts zu und drängt daher seine Hilfe auf – in Form von immer mehr Beratungsstellen, subventionierten Erziehungshilfen aller Art, Kampagnen gegen häusliche Gewalt und einer stetig steigenden Zahl von Sozialarbeitern. Wir werden ermuntert, uns als hilfsbedürftig oder überfordert zu sehen: „In der therapeutischen Gemeinschaft, wird jeder angeregt, über sich selbst und seine Probleme zu sprechen – unter der Voraussetzung, dass man nicht nicht verstanden werden kann. So werden wir alle immer sensibler.“[5]

Was tun?
Befindet sich die Familie als „Insel der Behaglichkeit in der herzlosen und ungnädigen Welt von Handel und Industrie“ (Bolz) in einem Auflösungsprozess? Beide Autoren sehen in der Auflösung der Privatsphäre und im Schwinden der festen Bindungen einen gesellschaftlichen Verlust. Natürlich, so Bristow, dürfen wir mehr vom Leben erwarten als nur heiraten und Kinder bekommen. Die Single-Gesellschaft scheint ihr jedoch weder Ehen und Kinder noch dieses „Mehr im Leben“ zu garantieren.
Obwohl beide Werke als Plädoyer für die wahre Liebe und mehr Verbindlichkeiten im Leben verstanden werden können, unterscheiden sie sich in sehr wesentlichen Aspekten. Beide sehen, dass die veränderte Lebenssituation von Frauen den Wandel der sozialen Bedeutung von Ehe herbeigeführt hat. Frauen spielen heute im öffentlichen Leben eine viel größere Rolle als früher. Hinzu kommt die Kontrolle über die eigene Reproduktionsfähigkeit (Pille, Abtreibungsgesetze usw.). Bolz sieht in diesen Veränderungen eine wesentliche Ursache für unsere heutigen Probleme. Für ihn beginnt die „Tragödie der modernen Familie“[6] mit der Berufstätigkeit der Frau. Wenn er auch zugibt, dass nur ein Narr glauben könnte, an diesen Umständen etwas ändern zu können, liest sich sein Buch teilweise tatsächlich wie ein nostalgischer Nachruf auf die Idylle der 50er- und 60er-Jahre. Er sorgt sich um die niedrige Geburtenrate und wünscht sich eine gesellschaftliche Aufwertung der Tätigkeit der Hausfrau. Sein Buch enthält eine Vielzahl von sehr genauen Beobachtungen, und dies macht es zu einer lesenswerten Lektüre. Seine Schlussfolgerungen sind jedoch schwer nachzuvollziehen.
Anders als Bolz begrüßt Bristow die kulturellen und wissenschaftlichen Fortschritte, die uns mehr Wahlfreiheiten einräumen. Sie möchte nicht das individuelle Verhalten Einzelner ändern, sondern plädiert für eine Gesellschaft, die wieder mehr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten entwickelt, nicht vor der Zukunft zurückschreckt und den Staat in seine Schranken weist.

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