01.06.2022

Editorial

Von Sabine Beppler-Spahl

Die Cancel Culture geht nicht von einzelnen Machthabern oder einflussreichen Institutionen aus. Sie wird nicht vom Militär oder dem Geheimdienst durchgesetzt. Sie beschreibt vielmehr ein Klima, in dem es für immer mehr Menschen nachteilig sein kann, eine bestimmte Meinung in der Öffentlichkeit zu äußern – und in dem so das Meinungsspektrum eingeschränkt wird. Betroffen sind nicht nur bekannte Künstler, Schriftsteller oder Journalisten, sondern – wie die Beispiele in diesem Band zeigen – auch viele andere, die plötzlich feststellen müssen, dass ihr Job, ihr Lehrauftrag oder die Zukunft ihrer Firma in Gefahr sind.
Oft heißt es, wir stünden auf den Schultern von Riesen, wenn es um unsere Freiheitsrechte geht. Wo wären wir, wenn es keine Ketzer und Aufrührer – keinen Galileo Galilei, Giordano Bruno oder Rosa Luxemburg – gegeben hätte? Es reicht aber nicht aus, sich darauf zu verlassen, dass uns unsere Freiheiten für immer geschenkt wurden. Freiheitsrechte müssen wieder verteidigt und mitunter zurückerobert werden.

Die Meinungsfreiheit gilt zu Recht als die Kernfreiheit schlechthin. Ohne sie ist eine liberale Demokratie nicht denkbar. Von ihr leiten sich alle anderen Freiheiten, wie z.B. die der Kunst, der Wissenschaft und der Religion, ab. Stets ließen sich Gesellschaften daran messen, wie sie mit Abweichlern oder Provokateuren umgingen. Niemanden konnte es daher verwundern, dass z.B. das autokratisch regierte Russland, nach dem Angriff auf die Ukraine, den freien Meinungsaustausch immer weiter zu unterbinden versuchte.

Doch in diesem Band geht es nicht um autokratisch regierte Staaten, sondern um uns selbst – und um ein Problem, das auch hierzulande freie Meinungsäußerung bedroht: die Cancel Culture. Es ist kein Phänomen, das wir, als Novo-Redakteure, nur aus der Distanz beobachten konnten, sondern eines, von dem wir selbst immer wieder betroffen sind.

Die Cancel Culture geht nicht von einzelnen Machthabern oder einflussreichen Institutionen aus. Sie wird nicht vom Militär oder dem Geheimdienst durchgesetzt. Sie beschreibt vielmehr ein öffentliches Klima, in dem es für immer mehr Menschen nachteilig sein kann, eine bestimmte Meinung in der Öffentlichkeit zu äußern – und in dem so das Meinungsspektrum eingeschränkt wird. Betroffen sind nicht nur bekannte Künstler, Schriftsteller oder Journalisten, sondern – wie die Beispiele in diesem Band zeigen – auch viele andere, die plötzlich feststellen müssen, dass ihr Job, ihr Lehrauftrag oder die Zukunft ihrer Firma in Gefahr sind.

Zwar wird auch heute noch, zumeist, der abstrakte Wert der Meinungsfreiheit hochgehalten. Aber gleichzeitig verwenden immer mehr Menschen viel Zeit und Energie darauf, zu erklären, warum bestimmte Meinungen in den Bereich des Unsagbaren verbannt werden sollten. Es sind Aktivisten, Journalisten oder die Mitglieder bestimmter Interessengruppen, die „Konsequenzen“ für diejenigen fordern, die sich unbotmäßig geäußert haben. Sie werden so zur Speerspitze der Zensurforderungen.

Oft heißt es, wir stünden auf den Schultern von Riesen, wenn es um unsere Freiheitsrechte geht. Wo wären wir, wenn es keine Ketzer und Aufrührer – keinen Galileo Galilei, Giordano Bruno oder keine Rosa Luxemburg – gegeben hätte? Es reicht aber nicht aus, sich darauf zu verlassen, dass uns unsere Freiheiten für immer geschenkt wurden. Freiheitsrechte müssen immer wieder verteidigt und mitunter zurückerobert werden.

Ein wichtiger Grund, weshalb die Cancel Culture um sich greifen konnte, ist, dass es an diesem Bewusstsein fehlt. Cancel Culture ist auch die Kultur der Feigheit, meint der Journalist Mick Hume. 1 Setzt erst einmal ein Shitstorm ein, der die Entlassung, die Ächtung oder den Boykott einer bestimmten Person fordert, greifen Angst und Panik um sich. Schnell – oft sogar in vorauseilendem Gehorsam – distanziert sich die Universitätsleitung, der Chef, der Sponsor oder der Veranstaltungsorganisator von der beschuldigten Person, um nicht selbst ins Kreuzfeuer der Kritik zu geraten. Dies geschieht auf Kosten der Kultur der freien Meinungsäußerung und offenen Debatte, die zunehmend durch eine Kultur der Angst zurückgedrängt wird.

Gewiss, es gibt immer noch Apologeten der Cancel Culture, die sie für eine Erfindung von Vertretern rechts-konservativer Kreise halten. Wer provoziert, muss mit Gegenwind rechnen, heißt es häufig. Manche Aktivisten meinen sogar, ihr Engagement diene der guten Sache, wie z.B. dem Minderheitenschutz. Das widerspricht dem liberalen Grundsatz, dass rückständige Meinungen nicht durch Zensur, sondern nur durch den offenen Diskurs überwunden werden können. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Minderheitenschutz nur in einer freien, die Meinung nicht unterdrückenden Gesellschaft möglich ist.

Wie eingangs erwähnt, sah sich auch die Novo-Redaktion immer wieder mit der Cancel Culture konfrontiert. So zog sich 2020 ein langjähriger institutioneller Unterstützer von Novo zurück, nachdem der Sammelband „Schwarzes Leben, weiße Privilegien. Zur Kritik an Black Lives Matter“ erschienen war. Den Angaben des Sponsors zufolge ging es ihm nicht um den Inhalt, sondern allein um den Titel des Bandes und einige Beitragstitel. Offenbar war es das Wort „Kritik“ in Verbindung mit einer Bewegung, die für viele über jeglicher Kritik stehen sollte, das ihn veranlasste, sofort alle Leinen zu kappen, um sich nicht selbst dem Risiko auszusetzen, irgendwie mit dieser Kritik in Zusammenhang gebracht zu werden.

Zu oft wird vergessen, dass sich die Cancel Culture nicht nur gegen die von ihr unmittelbar Betroffenen richtet, sondern gegen uns alle. Hinter ihr verbirgt sich der Gedanke, dass die Öffentlichkeit zu schwach oder zu dumm ist, um mit bestimmten Meinungen konfrontiert werden zu dürfen. Als eine Ironie mag daher gelten, dass auch der vorliegende Band nur deshalb in der Edition Novo erscheint, weil er zuvor von einem anderen Verlag bestellt und schließlich doch abgelehnt worden war. Eine der Begründungen für die Absage lautete, dass die Essays wüste Beschimpfungen enthielten.

Für uns als Novo-Redaktion ist es mehr als passend, dass dieser Band nun hier erscheinen konnte – im Rahmen eines Magazins, das sich stets für die freie Meinungsäußerung eingesetzt hat. Mögen sich die Leser selber ein Urteil über die Essays bilden.

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