24.08.2021

Editorial

Von Sabine Beppler-Spahl

Die Beiträge in diesem Band beschäftigen sich mit der Krise der Parteienpolitik. Die Autoren gehören einem breiten Spektrum von konservativ bis links an. Sie eint der Wunsch, zu einer Politik zurückzukehren, die für die Bürger und nicht gegen sie gemacht wird.

Sind unsere Wahlkämpfe kontrovers genug? Behandeln sie Themen, die die Bürger interessieren und bewegen? Die Antwort lautet ganz offensichtlich: Nein. Das zeigt sich bereits an der hohen Zahl der noch immer Unentschlossenen und der zu erwartenden niedrigen Wahlbeteiligung. Nur der allergrößte Optimist dürfte davon ausgehen, dass sie im September deutlich über 70 Prozent liegen wird. Von Werten über 80 Prozent, wie wir sie in den Jahren von 1953 bis 1983 noch regelmäßig hatten – bei der Bundestagswahl 1972 lag sie sogar bei über 91 Prozent –, sind wir weit entfernt.

Natürlich sehen viele unserer Politiker und Journalisten die Schuld dafür allein bei dem Wahlvolk. Einen Eindruck davon, wie manche denken, lieferte der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz. 1 Vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt und mit Blick auf die zu erwartende Zahl der AfD-Wähler sagte er, man habe es mit diktatursozialisierten Menschen zu tun, die auch nach 30 Jahren nicht in der Demokratie angekommen seien. Man könne, fügte er hinzu, nur auf die nächste Generation hoffen. Zwar wurde Wanderwitz für seine herabsetzenden Äußerungen kritisiert. Doch selbst diese Kritik war so formuliert, dass sie ihn eher zu bestätigen als zu widerlegen schien. So z.B., wenn gesagt wurde, es sei falsch, mit dem Finger auf den Osten zu zeigen, da die AfD ja auch im Westen gewählt werde.

Was diese Wahl uns lehrt, ist, dass wir dringend eine Öffnung der Debatte brauchen – und zwar eine, die die Bürger ernst nimmt und sie nicht wie Kinder behandelt und ausschimpft, wenn sie etwas Falsches tun. Tatsächlich fand ein Wahlkampf statt, der fast ausschließlich auf eine Frage zugespitzt worden war: Bist du für oder gegen die AfD? Diese Zuspitzung betrieben auch die Parteien, die eigentlich eine Opposition zur CDU hätten darstellen sollen. Deswegen konnten sogar die größten Verlierer – die Linke und die SPD – sich am Ende immer noch damit trösten, dass wenigstens die AfD nicht gewonnen habe. Eine solch eindimensionale Politik drängt die Wähler in ideologische Lager und lenkt von den wichtigen Themen ab. So wurden z.B. die Arbeitslosigkeit und die hohe Unterbeschäftigungsrate in Sachsen-Anhalt viel zu wenig thematisiert. Wie gering die Begeisterung für die Wahl war, zeigte sich auch hier an der hohen Zahl der Nichtwähler, die mit 40 Prozent das Ergebnis des Wahlsiegers (CDU) deutlich übertraf.

Ein Blick in die Vergangenheit ergibt, dass die Wahlbeteiligung immer dann hoch ist, wenn es zu echten Kontroversen zwischen den Parteien kommt. Gemeint sind damit Themen, die die Zukunft betreffen – und nicht die kleinkarierten Streitigkeiten, wie wir sie z.B. zwischen Arbeitsminister Hubertus Heil und Gesundheitsminister Jens Spahn um die Verteilung von überschüssigen oder aussortierten Corona-Schutzmasken erlebten. Das große Aufheben, das um dieses Thema gemacht wurde, verdeutlicht, wie wenig echte Kontroversen es in unserer Parteienlandschaft gibt.

Natürlich wollen sich die Parteien im Wahlkampf von ihren Konkurrenten abgrenzen. Doch die Unterschiede bestehen oft nur in kleinsten Nuancen. Wer sich bei der bevorstehenden Wahl im Bereich des etablierten Konsenses bewegt, wird genügend Parteien zur Auswahl finden. Das Problem entsteht für diejenigen, die grundsätzlich andere Schwerpunkte bevorzugen würden. So zeigen Umfragen, dass nur 28 Prozent der Bundesbürger den Klimaschutz als wichtigstes oder zweitwichtigstes Thema ansehen. 2 Doch wo ist die Partei, die Investitionen in die Infrastruktur für wichtiger hält als Klimaschutzverordnungen? Suchen müssen auch diejenigen, die die Energiewende für falsch halten. Laut einer Forsa-Umfrage vom letzten Jahr sind immerhin 37 Prozent (im Osten sogar 48 Prozent) der Bundesbürger der Meinung, dass es keinen Ausstieg aus der Atomkraft geben sollte. 3 Ähnlich sieht es aus, wenn es um die Migration geht. Wie viele Wähler würden wohl einem Konzept, wie es die dänischen Sozialdemokraten vertreten und das auf Begrenzung und Integration setzt, zustimmen? Doch eine Partei, die ein solches Konzept vertritt, gibt es nicht. Ebenso wenig wie eine, die im Herbst letzten Jahres entschlossen und mit klaren Argumenten die Corona-Politik der Regierung herausgefordert hätte – oder eine, die sich jetzt gegen das Euro-Hilfspaket wendet. Gewiss hat die AfD manche dieser Themen aufgegriffen, weil sie sich schon lange als die einzige Oppositionspartei versteht. Doch, wer nicht gleichzeitig den ganzen Rattenschwanz der völkischen AfD-Ideologie und ihren unerträglichen Geschichtsrevisionismus mitwählen möchte, ist politisch heimatlos. Ist es da verwunderlich, wenn so viele Bürger keine Lust mehr haben, an Wahlen teilzunehmen?

Dabei ist es keineswegs so, dass die Parteiführungen nicht wüssten, dass sich viele Wähler eine andere Politik wünschen. Doch sie wehren sich gegen zu viel Druck „von unten“. Dass sie damit einen Großteil ihrer früheren Wähler verstoßen, nehmen sie in Kauf. Stattdessen sehen sie sich in der Rolle der Erzieher: Die Menschen sollen dazu gebracht werden, die Politik, die die Führung für richtig hält, gut zu finden. Statt sich dem politischen Wettbewerb zu stellen, soll dieser möglichst klein gehalten werden. Und wer aus Protest die AfD wählt, wird verteufelt und weiter ausgestoßen. Besonders deutlich wird dies bei der SPD oder den Linken, die zu allem Überfluss auch noch eine Identitätspolitik verfolgen – obwohl auch hier Umfragen zeigen, dass eine sehr große Mehrheit der Deutschen wenig davon hält. 4 Störrische Parteimitglieder, die auf eine andere Politik pochen, werden kritisiert, isoliert oder sollen sogar ausgeschlossen werden, wie man beispielhaft an Sahra Wagenknecht, Boris Palmer, Wolfgang Thierse und vielen anderen sehen kann.

In einer Demokratie sind es die Wähler, die über die Politik entscheiden. Doch wenn ihnen echte Alternativen versagt bleiben, funktioniert auch die Demokratie nicht mehr richtig. Mit den unterschiedlichen Facetten dieser Problematik beschäftigen sich die Beiträge in diesem Novo-Band zur Bundestagswahl. Wer eine klare politische Richtung sucht, wird enttäuscht werden. Die Autoren gehören einem breiten Spektrum von konservativ bis links an. Sie eint der Wunsch, zu einer Politik zurückzukehren, die für die Bürger gemacht wird, statt sie in eine bestimmte Richtung zwingen zu wollen.

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