09.12.2020
Editorial
Was bei der Bewegung „Black Lives Matter“ (BLM) ursprünglich als Protest gegen Polizeigewalt begann, ist längst zu einem neuen Kulturkonflikt geworden. Im Zentrum steht die Annahme, dass unsere Gesellschaft von einem latenten Rassismus durchdrungen sei. Statt sich mit konkreten Fällen rassistischen Hasses zu beschäftigen, konzentrieren sich die Aktivisten auf Symbole. Am Pranger stehen alle möglichen Objekte, Namen, Traditionen und Sprachgepflogenheiten, die von ihnen als diskriminierend empfunden werden. Der oft selbstgerechte, anklagende Ton sowie die scharfe Trennung zwischen Schwarzen und Weißen lassen diesen neuen Antirassismus autoritär und zensorisch erscheinen. Wie die Beiträge in diesem Band zeigen, sprechen die Aktivisten jedoch keinesfalls für „alle Schwarzen“. Immer mehr Kritiker weisen darauf hin, dass BLM nicht nur die Gesellschaft spaltet, sondern auch auf fragwürdigen historischen Prämissen beruht.
Als im Juni 2020 bundesweit Zehntausende gegen Rassismus auf die Straße gingen, wussten viele sicher nicht, dass sie die Regeln von Black Lives Matters (BLM) verletzten. Warum? Weil die Demonstrationen zu einem Großteil von jungen Weißen geprägt waren. Auf der Webseite von BLM Berlin aber heißt es, dass sich „Nicht-Schwarze Menschen“ im Hintergrund oder an den Rändern der Demonstrationen aufhalten sollen, es sei denn, sie werden nach vorne gebeten. Auch Sprechchöre sollten nicht von Weißen initiiert werden, denn bei einer BLM-Demo dürfe es nur „schwarze Stimmen“ [Black Voices] geben. 1 Die scharfe Trennung in „schwarz und weiß“ sowie die Behauptung, es gebe eine „schwarze Stimme“ machen die BLM-Bewegung angreifbar. Ihre politische Ideologie wird von einem Rassendenken getragen, das nicht dazu taugt, Diskriminierungen aufzuheben.
Bekannt wurde BLM – ein loses internationales Netzwerk mit einem globalen Markennamen – vor allem nach der brutalen Tötung des Afroamerikaners George Floyd im Frühjahr 2020. Und, weil jeder normale Mensch weiß, dass das Leben von Schwarzen zählt, stieß das Netzwerk zunächst auf viel Zustimmung. Zwischenzeitlich ist jedoch mehr über seine Politik und Ideologie bekannt geworden: Im Namen von BLM wurden Geschäfte geplündert, Häuser angezündet und Statuen zerstört. Die Website der britischen BLM fordert die Abschaffung der Polizei und der Gefängnisse sowie die Auflösung des Kapitalismus. 2 Bei einer Demonstration in London wurden Polizisten getreten und mit Gegenständen beworfen. 3 Das alles kann kaum dazu dienen, die Mehrheit zu überzeugen. Doch das scheint auch nicht das Ziel vieler BLM-Unterstützer zu sein: Sie verstehen sich selbst als Weltverbesserer, die gegen die Rückständigkeit der Mehrheitsgesellschaft ins Feld ziehen.
Was ursprünglich als Protest gegen Polizeigewalt begann, ist längst zu einem neuen Kulturkonflikt geworden, bei dem alle möglichen Objekte, Namen und Traditionen am Pranger stehen. Statt sich mit Fällen konkreter Diskriminierung und rassistischem Hass zu beschäftigen, sind Symbole ins Zentrum der Auseinandersetzung gerückt. Dabei wird mit Verbots- und Zensurforderungen nicht gespart. Dieser Trend ist zwar in der angelsächsischen Welt stärker ausgeprägt, aber auch in Deutschland hat die Politik der „kulturellen Reinigung“ längst begonnen. So soll z.B. die Mohrenstraße in Berlin umbenannt werden (weil Mohr ein rassistischer Begriff sei) 4 oder das Wappen der Stadt Coburg, das den Heiligen Mauritius abbildet, geändert werden (weil es Mauritius stereotypisch darstelle). 5 Auch die Weihnachtskrippe im Ulmer Münster soll nicht mehr aufgebaut werden (wegen der Gestaltung der Figur des Melchior) 6 und sogar Kinderbuchklassiker wie „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ werden kritisch begutachtet (weil das Buch Klischees zum Wesen von Schwarzen reproduziere). 7
Zahlreiche Historiker haben sich kritisch zu den Rassismusvorwürfen geäußert. So weist der Stadtheimatpfleger von Coburg darauf hin, dass Mauritius als Heiliger und Schutzpatron verehrt wurde und seine Darstellung aus einer Zeit (1354) stammt, in der der Rassismus noch gar nicht bekannt war. Die besondere Ironie: Zuletzt wurde das Wappen in der Nazizeit abgeschafft, weil man keinen Schwarzen als Identifikationsfigur tolerieren wollte. 8 Zu der Falschdarstellung des Ursprungs des Namens Mohrenstraße äußert sich in diesem Sammelband der Historiker Ulrich van der Heyden.
Diese Klarstellungen sind wichtig. Doch wird eine Auseinandersetzung über die Geschichte allein nicht ausreichen, um den Kulturkonflikt zu beenden. Der Grund ist, dass es den meisten Aktivisten gar nicht um die Geschichte geht, sondern um die Gegenwart, die sie als von Rassismus durchdrungen wahrnehmen. Die Überzeugung dieser modernen Kreuzzügler ist, dass ihre Mitbürger immer noch in uralten Vorurteilen verfangen sind. „Einer der wirkmächtigsten Mythen des 20. Jahrhunderts war die Annahme, die Eliminierung der kolonialen Verwaltungen hätte eine Dekolonisierung der Welt zur Folge gehabt. Dies führte zu der irrigen Annahme einer ‚postkolonialen‘ Welt“ 9, heißt es z.B. auf der Webseite der Amadeu-Antonio-Stiftung. Und weil so viele Aktivisten glauben, dass sich die Strukturen des Kolonialismus immer weiter vererben, ist ihnen auch der Ursprung des Heiligen Mauritius oder des Wortes Mohr egal. Sprache und Darstellung, so ihre Logik, reichen aus, um den rassistischen Instinkt normaler Bürger immer weiter zu bestärken.
Längst ist auch die klassische Definition des Rassismus für unzureichend erklärt worden. Rassismus im klassischen Sinne ist dann gegeben, wenn die Hautfarbe als ausschlaggebend für die Fähigkeiten oder die Eigenschaften einer Person gilt. Die Definition ist eng an die der Diskriminierung geknüpft. Heutige Aktivisten, wie z.B. die Berliner Organisation Decolonize bevorzugen eine andere Definition: Rassismus ist für sie ein „Komplex von Gefühlen, Vorurteilen, Vorstellungen, Ängsten, Fantasien und Handlungen [...] mit denen Weiße aus einer weißen hegemonialen Position heraus Schwarze und People of Color strukturell und diskursiv positionieren und einem breiten Spektrum ihrer Gewalt aussetzen“ 10. Damit ist Rassismus so weit gefasst, dass er kaum noch von alltäglichen Missverständnissen oder Beleidigungen abgegrenzt werden kann. Aktivistinnen wie die Spiegel-Besteller Autorin Alice Hasters („Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“) fassen alles als Rassismus auf, was sie als solchen empfinden – ganz unabhängig von den Intentionen ihres Gegenübers. Dazu gehören u.a: Die Frage, woher man kommt; der Hinweis darauf, dass man schöne Haare hat; die Enttäuschung darüber, bei einem speziellen Tanz nicht aufgefordert zu werden usw. Das Traurige ist, dass der wirkliche Rassismus Gefahr läuft, bagatellisiert zu werden, wenn er mit kleinen Ärgernissen („Mikroaggressionen“) wie diesen gleichgestellt wird.
„Mit Millionenbudget und starker Unterstützung startet das Modellprojekt ‚Dekoloniale. Erinnerungskultur in der Stadt‘“ 11, lautete eine Meldung in der Berliner Zeitung vom Sommer dieses Jahres. Bei dem Projekt gehe es um die „Hirne und Herzen“ und Ziel sei es, das „Denken zu dekolonialisieren“, heißt es weiter. Geplant sind Ausstellungen und Veranstaltungen zum Thema „Kolonialismus und postkoloniale Gegenwart“. Niemand kann etwas dagegen haben, wenn eine Regierung Veranstaltungen über die Geschichte fördert. Auch die Aufarbeitung des Kolonialismus ist wichtig und ein kritischer Blick auf die eigene Erinnerungskultur ebenso. Doch ob die Bürger es schätzen, wenn man ihnen vorwirft, immer noch im kolonialen Denken verfangen zu sein? Es ist dieser selbstgerechte und anklagende Ton, der den neuen Antirassismus so abschreckend und autoritär macht. Das ist keine objektive Aufarbeitung der Geschichte, die die Geschehnisse aus ihrer jeweiligen Zeit heraus erklärt, sondern die Propagierung einer politischen Ideologie. Allein die Tatsache, dass ein solches Projekt heute mit einer Förderung aus Steuergeldern von immerhin 3,1 Millionen Euro bedacht wird, zeigt, wie viel sich in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Aus dem Kolonialismus der Herrschenden des 19. und 20. Jahrhunderts ist der zur Schau gestellte Antikolonialismus unserer Regierungen geworden.
Im Zuge der neuen Ideologie des Antirassismus ist immer wieder die Rede von einem „weißen Privileg“ oder einer „weißen hegemonialen Position“. Doch, wie die Beiträge von zahlreichen schwarzen Autoren in diesem Band zeigen, sprechen die BLM-Aktivisten keinesfalls für „alle Schwarzen“. Die Behauptung, für Millionen von Menschen zu sprechen, die zufällig eine ähnliche Hautfarbe haben wie man selbst, erscheint mehr als anmaßend. Die bereits oben erwähnte Journalistin und Autorin Hasters z.B., deren Bücher in den großen Medien so wohlwollend besprochen wurden, wird mehr mit ihren weißen Kolleginnen gemeinsam haben als mit einem Zuwanderer aus Gambia. Andererseits wird sich die Kioskbetreiberin, der sie Rassismus vorwirft, weil sie eine Sparbüchse in Gestalt eines schwarzen Dieners für ihr Trinkgeld benutzt, nicht besonders privilegiert fühlen. Wahrscheinlicher ist, dass sie in Covid-Zeiten froh sein kann, ihren Job zu behalten. Wer ernsthaftes Interesse daran hat, den Rassismus zu überwinden, sollte BLM nicht unterstützen. Die Bewegung spaltet die Menschen und schafft neue Diskriminierungen.