14.06.2018

Editorial

Von Johannes Richardt

Aufgeklärte Politik muss die Interessen der Bürger im Blick haben. Sie muss individuelle Freiheiten sichern und Gerechtigkeitsfragen verhandeln. Aber muss sie auch Forderungen von Aktivisten aufgreifen, die von sich behaupten, Bedürfnisse und Befindlichkeiten angeblich benachteiligter Minderheiten zu artikulieren? Von Männerrechtlern über Queer-Aktivisten und katalanische Separatisten bis zu rechten „Identitären“ proklamieren immer mehr Gruppen einen Opferstatus für sich und verlangen Sonderbehandlung. Aber brauchen wir wirklich spezielle Frauen- oder Männerrechte? Oder das Recht auf eigene Geschlechtsbestimmung? Was ist fortschrittlich daran, Menschen je nach sexueller Orientierung, Herkunft, Kultur oder Religion in Schubladen einzuordnen? Die Autoren des Sammelbandes „Die sortierte Gesellschaft“ haben die wichtigsten Argumente gegen die um sich greifende Identitätspolitik zusammengetragen.

Auf den ersten Blick erscheint Identitätspolitik (engl. identity politics) sympathisch. Laut gängiger Definition hilft sie marginalisierten Gruppen, negative Fremdzuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft zurückzuweisen und ihnen eine positive Selbstbestimmung entgegenzusetzen. Die Anliegen von Gruppen, z.B. Farbige, Homosexuelle oder Frauen, die sich diskriminiert fühlen, sollen für den Rest der Gesellschaft hörbar und sichtbar gemacht werden. Es geht darum, Anerkennung und Respekt für ihr spezifisches Anderssein einzufordern.

Das sei wichtig, weil Gruppenmitgliedern außerhalb eines identitätspolitischen Rahmens angeblich keine oder nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Verfügung stehen, sich als Individuen zu artikulieren. Deshalb müsse man Menschen an Hand kultureller, ethnischer, sozialer oder sexueller Merkmale in bestimmte Gruppen einteilen. Aus diesen Perspektiven können dann spezifische Bedürfnisse abgeleitet werden, aus denen wiederum politische Forderungen folgen.

Gerade innerhalb der Linken betrachten viele Identitätspolitik als ein Mittel, um Minderheiten zu schützen. Sie wird als Quelle des Selbstbewusstseins und als Ausgangspunkt von Politisierung und Selbstorganisation für ausgegrenzte Minderheiten dargestellt.

Die in „Die sortierte Gesellschaft“ versammelten Autoren sind skeptisch gegenüber dieser Auffassung. Der Sammelband rückt die Schwächen des Konzepts in den Fokus, übt Kritik und bezieht klar Position gegen Identitätspolitik.

Warum ist Identitätspolitik heute so bedeutsam? Spätestens seit dem Wahlsieg des zynischen Anti-Politikers Donald Trump bei der US-Präsidentschaftswahl im November 2016 tobt in westlichen Gesellschaften – vor allem in den Feuilletons und in akademischen Zirkeln – ein Streit darüber, ob linke und/oder liberale Politik in den letzten Jahrzehnten zu sehr auf die identitätspolitische Karte gesetzt und dadurch den Aufstieg des Rechtspopulismus begünstigt habe – nicht zuletzt, weil dieser selbst häufig auf identitäre Argumente setzt. Es ist der aufkommende Zuspruch von rechts, der die Probleme der Identitätspolitik nun vielleicht auch einigen klar werden lässt, die sie bisher eher wohlwollend als ein wichtiges „progressives“ Anliegen betrachtet haben.

Zweifel und Kritik an den identitätspolitischen Kulturkämpfen werden lauter. Nicht noch mehr soziale Fragmentierung, Denken in Opferkategorien und Sonderbehandlung für verschiedene Gesellschaftsgruppen, sondern eine Rückbesinnung auf den Universalismus der Aufklärung, der auf Werte wie Vernunft, Freiheit und Demokratie setzt, erscheint als der richtige Weg.

Um das Schubladendenken zu überwinden, müssen wir untersuchen, wie verbreitet es inzwischen ist. Wir müssen so unterschiedliche Gruppen wie Trans-Aktivisten, katalanische Separatisten oder rechte „Identitäre“ betrachten. Jede dieser spezifischen identitätspolitischen Ausprägungen hat sich als Sackgasse erwiesen. Und es zeigt sich, dass die verschiedenen Gruppen mehr gemeinsam haben, als ihnen lieb sein mag.

Es ist das identitätspolitische Paradigma als solches, das an sein Grenzen gestoßen ist. Der spalterische Partikularismus, das befindlichkeitsfixierte Opferdenken und ein freiheits- und demokratiefeindlicher Anti-Individualismus kennzeichnen linke, rechte, islamistische, feministische, separatistische usw. Identitätspolitik. Unabhängig von der persönlichen politischen Orientierung gibt es gute Gründe, ein Denken abzulehnen, das kulturelle Fragen politisiert und gleichzeitig politische Fragen kulturalisiert. Ein Denken, das Menschen anhand gruppenspezifischer Merkmale in Schubladen einsortiert und so nicht nur zwischenmenschliche Solidarität, sondern auch substanzielle politische Debatten erschwert.

Dieser Sammelband gliedert sich in vier Kapitel. Im ersten Kapitel „Identitätspolitik heute“ werden die Grundzüge identitätspolitischen Denkens, die Geschichte des Begriffs und Relevanz aktueller Debatten dargestellt. Im zweiten Kapitel wird der Zusammenhang zwischen „Identität und Heimat“ untersucht. Hierbei geht es um die Frage, wie kulturelle Zugehörigkeit und kulturelles Anderssein im Zusammenhang mit den Diskussionen um Nation, Europa oder Abendland verhandelt werden. Aber auch darum, wie sich die hiesige Debatte vom klassischen Einwanderland, den USA, unterscheidet.

Das dritte Kapitel widmet sich der Frage nach „Klasse und Identität“. Wie kam es in den letzten Jahrzehnten zum Bedeutungsverlust der Klassenpolitik und zum Aufstieg der Frage der Identität? Was passiert heute, wo die Klassenfrage in Folge der Weltwirtschaftskrise und des Aufstiegs des Rechtspopulismus wieder in die politische Debatte zurückkehrt? Das vierte Kapitel, „Geschlecht und Identität“, beschäftigt sich mit aktuellen identitätspolitischen Genderdebatten – etwa dem #MeToo-Feminismus, dem Kürzel LGBTI*QA oder dem Streit um spezifische Pronomen für Transmenschen.

So unterschiedlich die Autoren dieses Bandes in ihrer analytischen Herangehensweise und Verortung im politischen Spektrum auch sein mögen – in diesem Buch kommen Liberale, Libertäre, Linke und Konservative zu Wort –, gibt es doch bestimmte Aspekte der Analyse, die sich wie ein roter Faden durch das Buch ziehen: Identitätspolitik sieht in Menschen vor allem Angehörige spezifischer Opfergruppen. Nicht Gleichheit, sondern der Wunsch nach Anerkennung eines spezifischen „Anders-Seins“ steht im Zentrum. Das geht oft Hand in Hand mit einer narzisstischen Selbstfixierung. Gleichzeitig richtet sich Identitätspolitik mal mehr, mal weniger explizit gegen aufklärerische Werte, wie Vernunft, individuelle Freiheit oder die Vorstellung, dass Menschen Unterschiede durch gemeinsames politisches Handeln überbrücken und gesellschaftliche Verhältnisse gestalten können.

Durch diese Merkmale erhält die Identitätspolitik eine originär konservative, eigentlich sogar reaktionäre Färbung. Indem sie die Grundlagen für Solidarität ebenso wie für kontroverse, auf Vernunftargumenten basierende Debatten unterhöhlt, behindert sie demokratisch legitimierten gesellschaftlichen Wandel. Politische, ökonomische oder ideologische Konflikte verwandeln sich in Gemeinschaft- und Kulturkonflikte, die kaum Raum für Interessenausgleich lassen.

Was sind vor diesem Hintergrund die politischen Lösungsvorschläge? Linke wie der Philosoph Robert Pfaller oder der Publizist Kenan Malik sprechen sich hier für eine Revitalisierung der Klassenpolitik aus, Liberale wie der Politikwissenschaftler Mark Lilla fordern die Rehabilitierung einer republikanischen Bürgergesellschaft, in der sich mit Rechten und Pflichten für das Gemeinwesen ausgestattete Individuen innerhalb der bestehenden Institutionen für das Gemeinwesen engagieren, andere Autoren betonen die Bedeutung des Nationalstaats als einzigem aktuell existierenden Rahmen, in dem eine nicht-identitäre, demokratische Politik möglich ist.

Welcher Ansatz einem auch immer vernünftig und wünschenswert erscheint, die Grundlage für jeden sozialen Fortschritt liegt in einem Comeback zukunftsweisender, an Inhalten und nicht an Identität orientierter Politik. Um einen produktiven Streit der Ideen zu ermöglichen, muss der öffentliche Raum für robuste Debatten zurückerobert werden. Nicht persönliche oder identitäre Befindlichkeiten, Sprachtabus oder gruppenspezifische Opferinszenierungen dürfen im Zentrum stehen, sondern rationale Argumente, gepaart mit dem Wunsch, aus dem politischen Konflikt heraus Perspektiven für das demokratische Gemeinwesen zu entwickeln.

 

Johannes Richardt,
Herausgeber, Chefredakteur des Magazins Novo

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