01.09.2007

Doping freigeben!

Analyse von Matthias Heitmann

Der Kampf gegen Doping richtet sich nicht gegen den den Einsatz „verbotener“ Substanzen, er ist vielmehr ein Kreuzzug gegen menschliches Leistungsstreben im Allgemeinen.

Die Ereignisse während der jüngsten Tour de France haben flächendeckend die Schlagzeilen sowie den Luftraum über den Stammtischen und Biergärten dominiert. Dabei kam eine tatsächliche „Debatte“ über Doping nur selten auf, denn mehr als einhellige Entrüstung ob der „Verseuchtheit“ dieses Leistungssports wurde kaum geäußert. Fast konnte man den Eindruck gewinnen, die Debatte hätte eine Eigendynamik entfaltet, ohne dass wirklich neue Argumente oder gar Kontroversen diese anheizten. Dabei täte eine unaufgeregte Analyse der einzelnen Argumente, auf deren Basis eine Sportart medial hingerichtet wurde, not. Woher rührte also die allgemeine Aufgeregtheit?


Der Verweis auf eine angeblich drastische Zunahme von Regelverstößen verfängt nicht. Ob tatsächlich mehr gedopt wurde als früher, ist unbekannt. Selbst wenn: Wären Regelverstöße von Athleten ein hinreichender Grund, einen Sport zu ächten, so gäbe es keinen Sport. Regelverstöße resultieren aus dem Streben, die bestmögliche Leistung zu erzielen, zuweilen schießt man hier über das Ziel und den Rahmen des Erlaubten hinaus.
Deshalb werden Kontrollen durchgeführt. In Sportarten, in denen die Ausrüstung eine entscheidende Rolle spielt, umfassen sie auch deren Beschaffenheit. Das ist sinnvoll. In der Formel Eins macht derjenige am Ende das Rennen, der zusätzlich zum fahrerischen Geschick auch über das beste Gefährt und das leistungsfähigste Team verfügt. Das Prinzip „pimp my ride“ wurde hier erfunden, und es ist im Rahmen zulässiger technischer Grenzwerte ein anerkannter Bestandteil des Sports. Die Einhaltung solcher Grenzwerte ist einfach sicherzustellen: zu leicht, zu schwer, zu klein, zu groß, unzulässige Technik, zusätzliche oder fehlende Komponenten und Eigenschaften – all das ist bestimm- und messbar.


„Pimp my ride“: hui – „pimp my body“: pfui?
Problematisch wird das Kontrollregime jedoch, wenn es um den Körper des Sportlers geht. Für Boxer gibt es zwar Grenzwerte dafür, wie schwer oder leicht sie sein dürfen – wie stark sie aber zuschlagen können oder wie breit der Bizeps sein darf, ist nicht geregelt. Im Sprint werden Läufer, die zu schnell laufen, nicht disqualifiziert. Während also die Ausrüstung festgelegten Vorschriften zu entsprechen hat, um einen fairen Wettbewerb zu ermöglichen, soll diesen einzig die tatsächliche athletische Leistung des Einzelnen entscheiden.
An diesem Punkt setzt der Kampf gegen das Doping an. Er basiert auf der Vorstellung, es gäbe unterschiedlich zu bewertende Mittel und Wege, um eine Verbesserung der körperlichen Leistung zu erreichen. Hier unterscheidet sich die Dopingkontrolle grundlegend von der Zulässigkeitskontrolle der Ausrüstung, denn: Wie ein Sportgerät bearbeitet wurde, um den Bestimmungen zu genügen, ist nicht von Belang, es zählt einzig das messbare Ergebnis. Beim Doping ist es gerade umgekehrt: Nicht das Resultat der Behandlung – eine bestimmte Leistung – wird einer Bewertung zugeführt, sondern der Weg dorthin. Entscheidend ist nicht, wie stark die Fähigkeit des Blutes, Sauerstoff zu binden, verbessert wurde, sondern, ob dies über „legales“ Höhentraining oder über „illegale“ Methoden wie z.B. Eigenblut-Behandlungen erreicht wurde.

„Natürlicher Sport ist: kein Sport.“


Doping ist … verboten!
Theoretisch richtet sich der Kampf gegen Doping also gegen unlautere Methoden zur körperlichen Leistungssteigerung, nicht gegen die Leistungssteigerung als solche. Doch die Probleme beginnen bereits bei der Definition des als verboten geltenden Tatbestands. Im olympischen Antidoping-Code aus dem Jahre 2000 wird Doping definiert als „die Verwendung von Hilfsmitteln in Form von Substanzen und Methoden, welche potentiell gesundheitsschädigend sind und/oder die körperliche Leistungsfähigkeit steigern können“. Diese „Definition“ ist, gemessen an den Konsequenzen, die Verstöße nach sich ziehen, erstaunlich schwammig und auch fehlleitend. Der Verweis auf eventuelle Gesundheitsschädigungen verklärt die Realitäten des Leistungssports: Leistungssportler tun vorsätzlich viele ungesunde, aber leistungssteigernde Dinge, ohne deswegen unter Dopingverdacht zu geraten. Sie „verbrauchen“ ihre Körper vor den Augen der Öffentlichkeit, die diese im Gegenzug als Helden feiert. Mit Gesundheit hat das nichts zu tun – sie ist dem Leistungssportler kein Wert an sich, sondern, wenn überhaupt, Mittel zum Zweck.
Auch das seit 2004 in Deutschland geltende Regelwerk der Nationalen Anti-Doping-Agentur (NADA), das auf dem Code der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) basiert, kann den Tatbestand, den zu bekämpfen ihr Auftrag ist, nicht eindeutig definieren. Für sie ist Doping „das Vorliegen eines oder mehrerer der nachfolgend ... festgelegten Verstöße gegen Anti-Doping-Bestimmungen“. In den nachfolgenden Festlegungen dreht sich alles um als verboten geltende Substanzen und Methoden. Dies besagt nichts anderes, als dass Doping all das sei, was als verboten gelte. Nach welchen Kriterien Verbote ausgesprochen werden, bleibt unklar. Mit solchen Begründungen kann sich ein aufgeklärter Bürger (und Sportler) nicht abfinden. Regeln müssen nachvollziehbar sein, um nicht willkürlich zu sein.
Stattdessen wird Doping über den Umweg einer „Positivliste“ definiert. Somit ist dieser Tatbestand nicht nur ein sich stetig wandelndes Konstrukt ohne konkrete Gestalt, sondern auch eines ohne jeden Bindungscharakter. Ein solcher kann nur entstehen, wenn eindeutig klar würde, welche abstrakte Eigenschaft eine Handlung zu einer verbotenen machen. Da dies nicht der Fall ist, wird die Doping-Debatte zu einer rein moralischen, die den Athleten zum bloßen Werkzeug einer vermeintlich wertorientierten Grundhaltung degradiert.


Welche Leistungen sind „natürlich“?
Eine zentrale Prämisse für die Ächtung von Doping ist die Vorstellung, hierdurch würde die Leistungsfähigkeit von Sportlern auf unnatürliche Weise erhöht. Doch welche Leistungen des Menschen sind natürlich? Ist es natürlich, dass wir Sport betreiben, schnell laufen, Metallkugeln oder Speere in rückenschädigender Weise werfen? Ist es natürlich, sich auf Schlitten Eiskanäle hinunterzustürzen? Ist unser Leben überhaupt natürlich?
Die Antwort ist eindeutig: Wir leben gänzlich unnatürlich. Unsere Zivilisation sowie unsere Ziele und Hoffnungen basieren auf der permanenten Überschreitung als natürlich geltender Grenzen. Wir wollen älter werden als 36 Jahre, wir wollen im Winter nicht erfrieren oder von simpelsten Krankheiten dahingerafft werden, und wir wollen unser Dasein nicht wie unsere Vorfahren als Jäger und Sammler fristen. Es ist genau diese Abgrenzung von der Natur, die den Menschen menschlich macht. Menschlichkeit bedeutet: sich den Naturgesetzen nicht unterwerfen, sondern Freiräume erkämpfen, Potenziale erschließen und zu einer Verbesserung des Lebens nutzen. Jeder zivilisatorische Fortschritt basiert auf diesem Streben.
Die Verwendung von Werkzeugen aller Art liegt in der Erkenntnis begründet, dass wir unsere physischen Begrenztheiten überwinden können. Faustkeil, Rad, Hebel oder PC lassen uns Taten vollbringen, für die wir nicht vorgesehen sind. Kultur, Kunst, Sport, Wissenschaften – all dies wäre ohne das Abstreifen der Fesseln der Natur unvorstellbar. Ist daher die Vorstellung, dass ausgerechnet im Leistungssport – einer zutiefst künstlichen Erscheinung – plötzlich „natürliche“ Leistungsfähigkeit ausschlaggebend für seinen kulturellen Wert sein solle, nicht widersinnig? Die Messlatte der Natürlichkeit kann nicht übersprungen werden. Natürlicher Sport ist: kein Sport. Insofern entbehrt auch die Unterscheidung von leistungssteigernden Substanzen und Methoden in „natürliche“ und unnatürliche“ jeder rationalen Grundlage. Leistungssport ist per definitionem unnatürlich: Natur „leistet“ nichts, und sie ist auch nicht „sportlich“.

„Nicht der Radsport ist ‚verseucht‘ – vielmehr ist die Gesellschaft so stark von Misantrophie durchsetzt, dass nahezu alle Bereiche des Lebens misstrauisch beäugt werden. „


Fairness hat mit Gleichheit nichts zu tun
Als weiteres Argument gegen den Einsatz bestimmter leistungssteigernder Präparate wird angeführt, er widerspräche sportlicher Fairness. Diese basiere darauf, dass alle Sportler dieselben Voraussetzungen hätten. Doch beweist nicht jeder sportliche Wettbewerb, dass Sportler keineswegs dieselben Voraussetzungen haben? Ist es nicht das Prinzip des Leistungssports, die Voraussetzungen des Leistungssportlers permanent zu optimieren? Dass deutsche Olympioniken mehr Medaillen nach Hause bringen als ihre Sportskameraden aus Bangladesh, hat gesellschaftliche Gründe. Unsere Gesellschaft kann und will sich Leistungssport leisten. Und dennoch ist der Wettstreit mit Sportlern aus ärmeren Ländern „fair“, denn alle haben sich denselben Wettkampfregeln und -bedingungen unterzuordnen. Fairness hat mit Gleichheit nichts zu tun. Fairness beschreibt einen gleichberechtigten Umgang zwischen ungleichen Menschen, ist also eine Frage des Wettkampfverhaltens und nicht der Leistungsfähigkeit. Ist es „unfair“, dass der FC Bayern München zumeist gegen unterklassige Mannschaften gewinnt?
Doch nicht nur gesellschaftliche Gründe entscheiden: Dass Japaner im Hochsprung keine Weltmacht sind, liegt daran, dass sie sind im Durchschnitt schlichtweg kleiner sind als Athleten aus Hochsprungnationen. Ist es deshalb „unfair“, dass Japaner keine Hochsprungmedaillen einfahren? Läuft man nicht Gefahr, durch zwanghafte Gleichmacherei nicht nur die Basis für sportlichen Wettkampf, sondern auch für gesellschaftlichen Fortschritt im Allgemeinen zu untergraben?


Mit den Ereignissen bei der Tour de France ist die Dynamik der Doping-Debatte nicht zu erklären. Vielmehr stellt das Thema eine ideale Projektionsfläche für all die Ängste und Moralvorstellungen dar, die die Gesellschaft insgesamt beeinflussen. Das Unbehagen mit dem modernen, unnatürlichen Leben, das Misstrauen gegenüber dem Leistungsstreben, die Skepsis gegenüber Wissenschaft und Medizin und die über allem stehende Unterstellung allgemeiner Korruptheit – all diese das heutige Denken prägenden Momente finden sich in der Doping-Debatte hochkonzentriert wieder. Es ist nicht so sehr der Sport, der „verseucht“ ist – vielmehr ist die Gesellschaft so stark von Misstrauen, Missmut und Misantrophie durchsetzt, dass nahezu alle Bereiche des Lebens, da sie nicht natürlichen, sondern kulturellen und mithin künstlichen Ursprungs und gerade deswegen so „typisch menschlich“ sind, misstrauisch beäugt werden. Dieses Misstrauen in unsere Fähigkeiten, Errungenschaften und Leistungen sowie die Angst vor Veränderungen lähmt uns. Dagegen wäre die Freigabe von Doping ein positives Signal – ein Beleg dafür, dass man den Menschen und der Gesellschaft zutraut und Raum gibt, mit Freiheiten umgehen zu lernen und sich positiv entwickeln zu können. Ohne dieses Vertrauen machen Freiheiten, aber auch Appelle an Fairness und Sportlichkeit keinen Sinn.

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