28.07.2015

Die Zwangsjacke der Freiheit

Essay von Jon Holbrook

Die Naturrechte schützen die Bürger vor dem Staat. Mit ihrer Orientierung an Recht und Freiheit sind sie der Höhepunkt der Demokratie. Die „Menschenrechte“ hingegen nehmen den Bürgern ihre Mündigkeit. Sie stehen der Demokratie entgehen, findet Jon Holbrook

Menschenrechte werden heutzutage für alles Mögliche beansprucht. Gefangene fordern ihr Wahlrecht ein, weil sie dieses für ein Menschenrecht halten. Verurteilte Einwanderer, die sich gegen ihre Ausweisung wehren, behaupten ein Menschenrecht auf ihr Familienleben zu besitzen. Opfer fordern das Menschenrecht auf Schadenersatz, Reisende auf Mobilität, Sozialhilfeempfänger auf Wohlstand, Kranke und Alte auf medizinische und soziale Fürsorge und so weiter. Wenn heute jemand etwas haben möchte, kann er es für gewöhnlich als die Erfüllung eines Menschenrechtes darstellen, wenn er es bekommt.

Diese Forderungen beruhen auf der Behauptung, der Anspruchsteller hätte einen Rechtsanspruch auf eine Leistung vom Staat. Ob ein jeweiliger Anspruch berechtigt ist oder nicht, spielt keine Rolle: Es geht darum, dass er auf der Grundlage eines angeblichen Menschenrechts erhoben wird. Diese Menschenrechtsdebatte ist noch jung. Sie fand während des Zweiten Weltkriegs und im Anschluss daran Verbreitung, als Hersch Lauterpacht sein einflussreiches Buch An International Bill of the Rights of Man (1945) veröffentlichte, als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von den Vereinten Nationen (1948) und die Europäische Menschenrechtskonvention (1950) verabschiedet wurden.

„Zwischen Natur- und Menschenrechten tut sich eine tiefe Kluft auf“

Obwohl die Menschenrechtsdebatte für viele Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg im Abklingen begriffen war, rückte sie im politischen und juristischen Denken der letzten Jahre wieder in den Vordergrund. Das britische Menschenrechtsgesetz wurde 1998 von der Labour-Regierung mit parteiübergreifender Mehrheit verabschiedet. Die Konservativen bleiben der Menschenrechtsdebatte trotz ihres Zähneknirschens angesichts der Beschlüsse des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verpflichtet. Sie bevorzugen lediglich die britische anstelle der europäischen Variante. Vor einer Weile betonte der britische Polizei- und Justizminister Damian Green [1], dass „die Menschenrechte zweifellos auch ein konservatives Anliegen sind“. Wer den Wert der Menschenrechte bezweifelte, bekam seinen Zorn zu spüren. „Das ganze politische Spektrum in Großbritannien glaubt an Menschenrechte. Das sollte in einem Land wie Großbritannien kein politisches Thema mehr sein“.

Naturrechte fordern mehr Freiheit

Dieser breite Konsens über die Menschenrechte muss hinterfragt werden. Gerade dann, wenn uns die tiefe Kluft zwischen den Menschen- und den Naturrechten bewusst wird. Die Naturrechtsdebatte spielte sich zwischen europäischen und amerikanischen Autoren wie John Locke (1632–1704), Immanuel Kant (1724–1804), Tom Paine (1737–1826), Thomas Jefferson (1743–1826) und Alexis de Tocqueville (1805–1859) ab. Deren Ideen erzeugten das intellektuelle Klima, das die Entwicklung der westlichen Demokratien ermöglichte. Im Gegensatz zu den heutigen Menschenrechten forderten diese Vertreter der Naturrechte lediglich eines vom Staat: mehr Freiheit. Die Naturrechtler plädierten für eine Begrenzung der Macht des Staates, damit die Demokratie zugunsten von Individuen und der Gesellschaft erblühen konnte.

Mit ihrem Engagement für die Einschränkung des staatlichen Einflusses und für die Ausweitung der persönlichen Autonomie kämpften die Naturrechtsvertreter für die Gewissens-, Rede- und Pressefreiheit, für das Versammlungsrecht sowie für das Recht auf ein gerechtes Verfahren bei der Festnahme, bei der Verhaftung und im Strafprozess. Wenn ein Recht etwas vom Staat einforderte, so war das die Begrenzung der Staatsmacht. Dieser Ansatz findet seinen eindeutigsten verfassungsrechtlichen Ausdruck in der amerikanischen Bill of Rights, die 1791 in Kraft getreten ist. Die Macht des Kongresses wurde besonders mit dem Ersten Zusatzartikel im Zaum gehalten, der ihm untersagte, „die Rede- oder Pressefreiheit oder die Versammlungsfreiheit der Bürger einzuschränken.“ Der staatliche Zuständigkeitsbereich wurde nicht darum eingeschränkt, um den Staat zu schwächen, sondern damit sich das menschliche Potenzial ungehindert entfalten konnte.

Obwohl der Begriff „Rechte“ sowohl in „Naturrechte“ als auch in „Menschenrechte“ auftaucht, sind die zwei Konzepte grundsätzlich verschieden. Das eine versucht, die Macht der Regierung zu begrenzen und das andere, sie auszuweiten. Während Naturrechte Freiheit vom Staat verlangen, beanspruchen die Menschenrechte vom Staat mehr Schutz und Hilfeleistung. Wichtiger noch ist etwas, das von der heutigen Menschenrechtsindustrie selten anerkannt wird: Während die Naturrechte die Demokratie ermöglicht haben, wird sie durch die Menschenrechtsdebatte geschwächt. Demokratie kann sich nur dann entfalten, wenn drei Bedingungen erfüllt sind: (a) Der Mensch wird als Vernunftwesen behandelt, (b) die Staatsmacht wird begrenzt und (c) die Politik wird von juristischen Zwängen befreit. Während sich der Naturrechtler für jede dieser Bedingungen einsetzt, ist der Menschenrechtler der Auffassung, dass die erste Bedingung unmöglich ist und die anderen zwei unerwünscht sind.

Der vernünftige Mensch

Mit seinem Buch Rights of Man wollte Tom Paine – ein englischer Radikaler, der an der Amerikanischen Revolution teilgenommen hatte – die Verdienste der Französischen Revolution des Jahres 1789 hervorheben. Seine Würdigung der Naturrechte beruhte auf seinem Glauben an die menschliche Vernunft. Einmal ausgerissen kann die Unwissenheit seiner Ansicht nach nie wieder angepflanzt werden. „Nur durch den Mangel an Wissen“ ist ein Mensch ignorant. Aber: Ein Mensch „kann zwar unwissend gehalten, aber nicht unwissend gemacht werden“. Die Wahrheit, schrieb Paine, ist so unwiderstehlich, dass „alles was sie benötigt und alles, was sie möchte, die Freiheit ist, sich zu zeigen“.

Paines Anerkennung der menschlichen Vernunft brachte ihn dazu, die Naturrechte zu würdigen. Wenn sich die Wahrheit nur zeigen muss, um Unterstützung zu finden, dann benötigt der Mensch nur die Freiheit, sie zu suchen, über sie zu debattieren, sie zu fördern und danach zu handeln. Auf sich selbst gestellt, würde der Mensch die Wahrheit finden und mit seinen Mitbürgern zusammenarbeiten, um eine Gesellschaft zu erschaffen, die allen zum gegenseitigen Vorteil gereicht.

Aus der Sicht der Menschenrechte gilt der Mensch nicht länger als vernünftig. Wird der Mensch demnach sich selbst überlassen, dann kommt es zu allerlei üblen Folgen: Minderheiten werden in der Regel von Mehrheiten unterdrückt, die Schwachen werden von den Mächtigen ausgebeutet, die Verletzbaren leiden unter den Starken und die Armen werden von den Reichen ausgenutzt. Es gibt auf dieser Welt keinen Platz für Naturrechte, die Unterdrückung, Ungleichheit und Ausbeutung erlauben würden. Lord Bingham (1933–2010), einer der einflussreichsten britischen Richter der letzten Jahrzehnte, behauptet nicht ausdrücklich, dass der Mensch unvernünftig ist, aber die menschliche Unvollkommenheit ist mit Sicherheit der Hauptgrund für seine Verteidigung der Menschenrechte. Menschenrechte sollen ihm zufolge notwendig sein, um „die benachteiligten und ausgeschlossenen Mitglieder der Gesellschaft – Kinder, Geisteskranke, Einwanderer, Asylbewerber, verachtete ethnische Minderheiten, Gefangene und Kriminelle – zu beschützen.“ [2]

„Für die Naturrechtler soll sich der Mensch frei entfalten können. Die Menschenrechtler legen ihn in Ketten“

Die Menschenrechtsdebatte beruht auf der angeblichen Notwendigkeit, den Menschen vor sich selbst zu schützen. Es überrascht nicht, dass der Zweite Weltkrieg die Diskussion über Menschenrechte vorantrieb. Etwa 150 Jahre nach den Rights of Man von Paine veröffentlichte H.G. Wells 1940 sein eigenes Rights of Man. Dieses Buch ist allerdings keine Würdigung der menschlichen Vernunft. Wells forderte Menschenrechte, als er „eine tiefe Empörung über die Angriffe auf die Menschenwürde durch die Nazis“ empfand.

Paine, die amerikanischen und die französischen Revolutionäre befürworteten die Naturrechte, um die Menschlichkeit zu fördern. Die Europäische Menschenrechtskonvention wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von Politikern auf den Weg gebracht, die wie H.G. Wells von der Unmenschlichkeit des Menschen erschrocken waren. Als Churchill 1948 in Den Haag sprach, betonte er die Notwendigkeit einer Menschenrechtscharta [3], um das Übel „der totalitären Systeme, ob von Nazis, Faschisten oder Kommunisten“ zu vermeiden.

Eingrenzung der staatlichen Macht

Das Menschenbild beeinflusst die Größe des staatlichen Einflussbereichs. Ist der Mensch vernünftig, kann der Umfang des staatlichen Handelns begrenzt werden. Ist der Mensch unvernünftig, dann muss der Staat mehr eingreifen. In Common Sense (1776) wies Tom Paine auf die Beziehung zwischen dem Menschen und dem Staat hin, als er die Gesellschaft von der Regierung abgrenzte: „Jede Gesellschaft ist ein Segen, während sogar die beste Regierung nichts anderes als ein notwendiges Übel darstellt.“ Entzieht sich die Regierung den wachsamen Augen ihrer Bürger, wird sie „dem Charakter des Menschen seiner Vorzüge als soziales Wesen berauben“.

Obwohl der Staat „ein notwendiges Übel“ ist, so spielt er doch eine wichtige Rolle: Paine akzeptierte, dass sich Menschen zusammentun, um das zu erwerben, was nur der Staat bereitstellen kann. Sicherheit und Verteidigung sind naheliegende Beispiele. Der Staat muss für den gegenseitigen Nutzen seiner Bürger jedoch auch in anderen Bereichen involviert sein. Als Beispiel fertigte Paine eine Steuer- und Staatsausgabenreform in 14 Punkten an, die einen progressiven Steuersatz mit erhöhten Ausgaben für die Bildung von Millionen von Kindern durch die Armenfürsorge vorsah. Solche Eingriffe sollten ebenfalls der Entfaltung des menschlichen Potentials dienen. Wenn die Eingriffe vom rationalen Verhalten des Menschen ausgehen, dann werden sie klar begrenzt sein.

Menschenrechtsvertreter sind mit einem größeren Staat allerdings durchaus einverstanden. Lord Bingham bemerkt zutreffend, dass „die größte Auswirkung des Menschenrechtsgesetzes darin besteht, […] das Verhältnis zwischen Individuum und Staat auf eine subtile, aber bedeutsame Weise neu zu kalibrieren.“ Keir Starmer, der ehemalige britische Generalstaatsanwalt, erklärt diese neue Kalibrierung in einem Artikel näher, in dem er den Unterschied zwischen der Naturrechtsidee und den Menschenrechten hervorhebt. Die Naturrechte bezeichnet er darin als „Bürgerrechte“. Starmer schreibt: „Man geht häufig davon aus, dass Bürger- und Menschenrechte zwei Seiten derselben Medaille wären. Das sind sie aber nicht. Bürgerrechte schützen das Individuum vor dem Staat, indem sie die Eingriffe des Staates in die Angelegenheiten seiner Bürger beschränken. Menschenrechte schützen nicht nur das Individuum vor dem Staat. Sie verpflichten den Staat unter sorgfältig bestimmten Umständen auch dazu, positive Maßnahmen für den Schutz der Bürger zu ergreifen. Das Menschenrechtsgesetz verankert positive Verpflichtungen in unserem Rechtssystem.“ [4]

Starmer behauptet, dass die Staatseingriffe „unter sorgfältig bestimmten Umständen“ erfolgen. Wenn die Menschenrechtsvertreter den Menschen jedoch als misanthropisch ansehen, werden diese Umstände immer weiter ausgeweitet. Unter dem Einfluss der Menschenrechtsidee werden Individuen immer weniger tun und weniger Freiraum haben, damit der Staat immer mehr tun kann. Schließlich kann nur der Staat die notwendige Aufgabe erfüllen, die Bürger voreinander zu schützen.

„Ein ausartender Staat kann Demokratien verderben“

Der Staat wird durch seine im Namen der Menschenrechte gestifteten Gerichte, Gesetze und Vorschriften immer größer. So groß, dass Paine, laut dem „das zivilisierte Leben nur wenige allgemeine Gesetze erfordert“, sich im Grab herumdrehen würde. Für den Menschenrechtsvertreter beraubt die Regierung nicht „dem Charakter des Menschen seiner Vorzüge“, sondern sie gleicht seine charakterlichen Mängel aus. Das zivilisierte Leben wird derweil nicht durch wenige allgemeine Gesetze, sondern durch ein größer werdendes Netz allgemeiner Gesetze geregelt.

Alexis de Tocqueville erklärte im Jahre 1835, wie Demokratien von einem ausufernden Staat verdorben werden können. Ein solcher Staat behandelt seine Bürger, wie Eltern ihr Kind behandeln. Sein Ziel lautet, die Bürger in einem Zustand ewiger Unmündigkeit gefangen zu halten. Er könnte dieses Ziel erreichen, wenn er sich zu viele Aufgaben anmaßt. Zu diesen Aufgaben zählt Tocqueville: „Die Vorsorge für ihre Sicherheit, die Voraussicht und Erfüllung ihrer Bedürfnisse, die Zugänglichmachung zu ihren Vergnügungen, die Verwaltung ihrer grundlegenden Angelegenheiten, die Steuerung ihrer Produktivität, die Regulierung und Aufteilung ihres Erbes.“ [5]

Hat der Staat erst einmal alle Bürger „in seinen mächtigen Griff genommen“, dann „verstrickt er die Gesellschaft in ein Gewebe kleiner, komplizierter, peinlich genauer und uniformer Regeln, die die innovativsten Köpfe und die energischsten Persönlichkeiten nicht überwinden können, um aus der Masse herauszustechen.“

Die Beschreibung Tocquevilles, wie der ausufernde Staat den Menschen ihre Willenskraft aussaugen würde, ist besonders ernüchternd: „Der Wille des Menschen wird nicht gebrochen, sondern geschwächt, gebeugt und geleitet. Der Staat zwingt die Menschen nur selten zum Handeln, aber sie werden ständig in ihrem Handeln beschränkt. Eine solche Macht zerstört nicht, aber sie verhindert ein erfülltes menschliches Dasein; sie tyrannisiert nicht, aber sie verkleinert, schwächt, erlöscht und betäubt Menschen, bis alle Nationen aus nichts anderem als einer Herde umtriebiger Tiere bestehen, die ihre Regierung wie ein Schäfer hütet.“ [6]

Politik ohne rechtliche Grenzen

Eine Demokratie benötigt eine lebhafte und widerstandsfähige politische Debatte. In einer Demokratie muss die politische Sphäre durchsetzungsfähig sein. Insbesondere muss eine Regierung in der Lage sein, auf Grundlage ihres Regierungsauftrags zu handeln, um die Landesgesetze zu entwerfen und sie umzusetzen. In Rights of Man kritisierte Paine vor allem die aristokratischen Eliten, die eine Veränderung der Gesetze und Bräuche behindern könnten. Nach Paine muss „jedes Zeitalter und jede Generation ebenso frei sein, um für sich selbst in allen Angelegenheiten zu handeln, wie die Zeitalter und Generationen, die ihnen vorausgingen.“

Der Anspruch auf mehr allgemeine politische Souveränität wurde vom englischen Rechtsgelehrten William Blackstone erhoben. In seinen Commentaries on the Laws of England (1765–1769) schreibt er, dass das Parlament eine „unabhängige und uneingeschränkte Autorität bei der Verabschiedung, Bekräftigung, Beschränkung, Abschaffung, Aufhebung, beim Widerruf und bei der Erklärung eines Gesetzes“ haben sollte. Kurz gesagt erklärt Blackstone, dass das Parlament „alles, was nicht von Natur aus unmöglich ist, machen darf“. Der britische Rechtsgelehrte Albert Dicey (1835–1922) unterstützte in seiner Introduction to The Study of The Law of The Constitution die These Blackstones. Er betonte, dass das bürgerliche Recht und das Gerichtswesen dem Parlament unterstellt zu sein hätten: „Die gerichtliche Gesetzgebung kann als untergeordnete Gesetzgebung bezeichnet werden, die mit der Zustimmung und unter der Aufsicht des Parlaments durchgeführt wird“. Diceys Auffassung, dass Politik und Gesetzgebung zwei getrennte Disziplinen mit Vorrang der Politik sein sollten, hat die Beziehung zwischen britischen Richtern und dem Parlament bis vor kurzem gekennzeichnet.

Im Jahre 1885 schrieb Dicey, dass „ein moderner Richter nie auf einen Anwalt hören würde, der ein Gesetz des Parlaments in Frage stellt, weil es angeblich unmoralisch ist oder weil es über die Grenzen der parlamentarischen Autorität hinausgehen soll.“ Etwa 130 Jahre später würde ein heutiger Richter regelmäßig auf die Forderung eines Anwalts eingehen, wonach ein parlamentarisches Gesetz im Einklang mit den Menschenrechten interpretiert [7] oder als unvereinbar mit den Menschenrechten erklärt werden müsste. Heute weicht der Wille der Bürger häufig dem Willen von Richtern, die sich auf die Autorität der Menschenrechtsgesetze berufen.

Menschenrechte untergraben das Recht

Die Menschenrechte haben das angemessene Verhältnis zwischen Politik und Gesetzgebung untergraben. Bereits 1948 bemerkte Winston Churchill, dass die vorgeschlagene Europäische Menschenrechtskonvention „durch die Gesetze getragen“ würde. Das traf jahrzehntelang nur bedingt zu. Als sich Richter seit den 1970ern vor allem in Europa zu politischen Aktivisten wandelten, wurden diese durch die Gesetze getragenen Rechte benutzt, um politische Ideen und die Gesetzgebung zu behindern und sie als nichtig zu erklären. Vor einer Generation warnte ein britischer Richter des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs, Sir Gerald Fitzmaurice, vor den Gefahren jenes Gerichtshofs, der Regierungen in eine Zwangsjacke stecken würde [8]:

„Es ist geradezu ein Machtmissbrauch, der dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gestattet wurde: Eine Regierung oder eine exekutive oder richterliche Autorität eines Landes für eine Verletzung der Menschenrechtskonvention verantwortlich zu machen, wenn dies nur aufgrund der Existenz oder der Anwendung eines Gesetzes geschieht, das an sich nicht unvernünftig oder offensichtlich ungerecht und vielmehr in gewissem Maße sogar als erwünscht dargestellt werden kann. Dass es unterschiedliche Meinungen in Bezug auf das Gesetz und seine Auswirkungen in gegebenen Fällen geben mag, ist keine rechtliche Grundlage. Man kann nicht erwarten, dass eine Regierung oder eine andere Autorität in so einer engen Zwangsjacke handelt, in der sie keinen Ermessungsspielraum in einem vertretbaren Rahmen hat. Verletzungen der Menschenrechtskonvention sollten nur dann verurteilt werden, wenn diese Verletzungen offensichtlich sind und nicht, wenn sie nur durch komplexe und unverständliche Argumente etabliert werden können, die sehr kontrovers sind und ebenso richtig wie falsch sein mögen.“

„Dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof wurde ein Machtmissbrauch gestattet“

Das war im Jahre 1979. Drei Jahrzehnte später ist die Zwangsjacke immer noch angelegt und ihre Schnüre wurden fester gezogen.

Streitigkeiten, bei denen es eigentlich um Politik oder Ethik geht, werden immer häufiger in Gerichtssälen ausgetragen. Dort streiten sich die Prozessparteien darüber, was das Menschenrechtsgesetz besagt. Darum geraten die politischen und ethischen Probleme, die sich hinter diesen Fällen verbergen, in den Hintergrund. Die Gerichte sind nur mit den Erfordernissen des Menschenrechtsgesetzes beschäftigt, das oftmals nur wenig mit richtig oder falsch zu tun hat. Das Menschenrechtsgesetz schränkt Politik und Ethik als unabhängige Sphären ein. [9]

Auch der englische Philosoph John Gray hat darüber geschrieben, wie Menschenrechtsgesetze die Politik sterilisieren. Er beobachtete im Jahr 1995, wie besonders in Amerika „grundlegende Fragen über Freiheit und Freiheitsbeschränkung durch rechtliche und nicht durch politische Diskussionen entschieden werden; durch gerichtliche Normenkontrolle und nicht durch die Gesetzgebung.“ [10] Später stellt er fest, dass Menschenrechte zu einem Dogma gewordenen seien, das dazu benutzt wird, den schmerzhaften Dilemmata von Krieg und Politik zu entkommen. [11] Gray unterscheidet allerdings nicht zwischen Natur- und Menschenrechten. Naturrechte haben aber nichts mit dem zu tun, was Gray als „linksutopisches Projekt der Abschaffung von Politik“ bezeichnet. Im Gegenteil zeigt Paine, wie der Naturrechtsansatz eine lebhafte und unabhängige politische Sphäre unterstützt und benötigt. Grays Angriffsziel sind eigentlich die Menschenrechte und darum ergibt es keinen Sinn, wenn er sich in diesem Kontext allgemein gegen „linke“ Politik ausspricht.

Schlusswort

Zu viele Akademiker, Anwälte und andere Kommentatoren sind daran gescheitert, die Essenz der Menschenrechte zu identifizieren. Hat man erst einmal festgestellt, dass die Menschenrechte im Kern die Forderung eines Rechts auf eine Staatsleistung bedeuten, dann wird die Kluft zu den Naturrechten klar. Während Naturrechte Freiheit, einen begrenzten Staat und eine lebhafte politische Debatte fördern, sprechen die Menschenrechtsvertreter von der Schwäche des Menschen, von umfangreichen Staateingriffen und einer Politik, die von Gesetzen begrenzt wird.

Die Unterstützer der Menschenrechte behaupten auch, die Menschheit verbessern zu wollen. Sie glauben wahrscheinlich, dass die Menschenrechte das Leben unzähliger Menschen weltweit verbessert und geschützt haben. Auch eine schlecht formulierte und kaum verstandene Theorie führt immer zu einer bestimmten Praxis. Eine Theorie, die von einem unvernünftigen Menschen ausgeht, sucht nach menschlichen Irrtümern und Schwächen. Einmal gefunden, fordert diese Theorie, dass der Staat steuernd eingreift und das Problem beseitigt. Eine solche Menschenrechtstheorie wird in die Praxis umgesetzt, bis – um es mit Tocquevilles Worten zu sagen – „alle Nationen aus nichts anderem als einer Herde umtriebiger Tiere bestehen, die ihre Regierung wie ein Schäfer hütet.“


Dieser Artikel ist zuerst in der Novo-Printausgabe (#119 - I/2015) erschienen. Kaufen Sie ein Einzelheft oder werden Sie Abonnent, um die Herausgabe eines wegweisenden Zeitschriftenprojekts zu sichern.

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