01.05.2005

Die Welt muss erfahren, dass es auch im Iran Rockmusiker gibt

Reportage von Bijan Farnoudi

Furchterregend blicken die Totenköpfe, die anstatt der Sterne die amerikanische Flagge zieren, auf die Fußgänger herab. Die roten Streifen haben sich zu den Spuren niederfallender Bomben verwandelt. So porträtiert eine propagandistische Wandfassade entlang einer der großen Teheraner Alleen Amerika, den „großen Satan“. In der Bevölkerung erfreut sich jener Satan heutzutage allerdings großer Beliebtheit.

 Als amerikanische Helfer vor über einem Jahr in der vom Erdbeben erschütterten Stadt Bam im Südosten des Landes eintrafen, wurden sie, zum Missfallen der Mullahs, mit einer Welle der Sympathie empfangen. Bill Novek, 38, aus Minnesota, war damals als einer der ersten in die Katastrophenregion vorgestoßen. Er berichtete mir von Familien, die, obwohl sie alles verloren hatten, ihn und seine Mannschaft Tag und Nacht mit Tee und Früchten versorgten. „Anfangs wusste ich nicht, wer hier wem hilft“, erzählte er mir nach seiner Rückkehr.
 

„Es ist eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet der Iran der einstweilige Hauptnutznießer des amerikanischen Krieges gegen den Terror ist.“



Unter der bemalten Wandfassade bietet ein Straßenhändler eingeschmuggelte Pop-CDs und Poster westlicher Teenie-Bands zum Kauf feil. Der amerikanische Rapper Eminem sei der Renner, grinst er. Während der Sprechgesang des Detroiter Hip-Hop-Stars leise aus den Lautsprechern schallt, gesellt sich ein junges Mädchen, kaum älter als 15, zu uns. „Wenn ihr nach Hause zurückkehrt“, sagt sie, meinen Begleiter am Ärmel zupfend, „dann sagt den Leuten bei euch, dass wir hier auch gute Rockmusiker haben“, und sie fuchtelt ihm dabei mit einer alten Hörspielkassette vor der Nase herum. Verwundert blickt mein Begleiter erst das Mädchen, dann mich und dann wieder das Mädchen an. Bevor er etwas erwidern kann, verschwindet sie in der Menge der Leute, die noch schnell letzte Besorgungen für das anstehende iranische Neujahrsfest machen.


Teherans regierende Mullahs haben dieser Tage andere Sorgen. Die Iraner hätten erst dann Grund zur Beunruhigung, pflegte Ayatollah Khomeini zu sagen, wenn aus Washington freundlich gesinnte Signale zu empfangen seien. Dennoch sind Teherans Oberste seit Bushs ausgerufenem „Krieg gegen den Terror“ in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Bisher darf sich der Iran als der große Gewinner des Washingtoner Feldzuges fühlen, haben die Amerikaner doch vorzügliche Arbeit in der Beseitigung zweier ungeliebter Nachbarn – der Taliban und Saddam Husseins – geleistet. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet der verhasste Iran der einstweilige Hauptnutznießer des amerikanischen Krieges gegen den Terror ist.


„Get Iran out of the equation“ (Nehmt den Iran aus der Gleichung), verlangte deshalb jüngst der Bericht eines regierungsnahen Washingtoner Politikinstituts. Selbst der sonst eher moderate Colin Powell schloss sich mit ungewohnt scharfen Tönen in seiner Abschiedstournee dem allgemeinen Säbelrasseln an, und seine Nachfolgerin Condoleeza Rice wird nicht müde, vor der „Iranian Menace“ (iranischen Bedrohung) zu warnen. Ich erinnere mich an ein Telefonat mit einem iranischen Journalisten kurz nach Bushs berüchtigter Rede, in der er den Iran zur „Achse des Bösen“ zählte: „Wir sind alle geschockt“, erzählte er mir aufgebracht. „Das ist der Dank dafür, dass wir ihnen geholfen haben, die Taliban fortzujagen.“


So führt die aktuelle US-Regierung eine Tradition fort, den Iran genau dann zu düpieren, wenn Teheran sich gerade zu leisen Annäherungen durchgerungen hat. Schon Anfang der 90er-Jahre, als der Iran gerade seine postrevolutionäre und stark ideologische Phase mittels Neutralität im ersten Irakkrieg und vorsichtiger wirtschaftlicher Öffnung zu überwinden suchte, wurde diese Annäherung seitens der Clinton-Regierung mit dem Handelsembargo beantwortet. Auch spätere Versuche wie die des damaligen Präsidenten Ali Akbar Rafsanjani, der 1995 dem amerikanischen Öl-Giganten Conoco die Rechte für die Errichtung einer Raffinerie im Persischen Golf anbot, wurden von der US-Regierung durchkreuzt. Die Mullahs hatten unterschätzt, wie traumatisch die Geiselnahme amerikanischer Botschaftsmitarbeiter 1979 in Teheran für die amerikanische Psyche war und wie emotional gesteuert nicht nur die eigene, sondern vor allem auch die amerikanische Politik sein konnte – so erhielt beispielsweise der Kapitän der USS-Vincennes eine Militärauszeichnung für den Abschuss eines iranischen Passagierflugzeugs.


Den Konservativen in der Teheraner Regierung kommen Washingtons Drohgebärden hingegen gerade recht, dienen sie doch als optimale Rechtfertigung für die erneute Einschränkung vieler mit Blut errungener ziviler Freiheiten im Namen der nationalen Sicherheit. Auch wir bekommen die Einschränkungen zu spüren, als uns in der zentraliranischen Stadt Isfahan nachmittags der Eintritt zu einem der wunderschönen traditionellen Teehäuser verwehrt bleibt. „Ein neues Gesetz der Stadtverwaltung“, erklärt uns der sichtlich verlegene Inhaber. „Frauen dürfen in Isfahan nicht mehr in die Teehäuser“, bedeutet er und blickt dabei flüchtig unsere Begleiterin an. „Soviel zu unserer großartigen Reformbewegung“, murmelt ein Gast von einem der hinteren Tische herüber.


Dass Europa im Anschluss an die transatlantischen Fegefeuer des letztes Irakkrieges bemüht war, die Wogen mit Washington zu glätten und zu diesem Zweck einhellig in die Verurteilung Irans und dessen Nuklearambitionen einstimmte, besiegelte das Schicksal der zarten iranischen Reformbewegung endgültig. So weht ein neuer Wind im Iran, oder genau gesagt, der alte ist zurückgekehrt – vorerst zumindest. Im Frühjahr 2004 verwehrte der einflussreiche Wächterrat über 2500 reformorientierten Kandidaten die Teilnahme an den Parlamentswahlen. Ein konservativer Staatsstreich sei das gewesen, empörten sich damals Exil-Iraner weltweit. Seitdem dieses einzige gewählte Gremium der Regierung zwangsläufig wieder in konservative Hände gefallen ist, sind die Reformhoffnungen im Iran vorläufig gestorben. „Wenn die Reformbewegung tot ist, haben wir zu ihrer Ermordung beigetragen“, kommentierte der Brite Ali Ansari diese Entwicklung.
 

„Wenn Teheran anstrebt, in den elitären Klub der Nuklearmächte aufzusteigen, dann eher, um an politischem Gewicht zu gewinnen, und nicht aufgrund konkreter militärischer Kriegsplanungen.“



Amerikanische Ängste vor iranischen Nuklearambitionen sind freilich auf den ersten Blick leicht nachvollziehbar, predigen die regierenden Mullahs doch offen die Zerstörung Israels und skandieren zu jedem Freitagsgebet: „Tod, Tod den Amerikanern.“ Ein Blick hinter die Kulissen jedoch genüge, um die „iranische Bedrohung“ als Luftschloss zu enttarnen, verrät mir Ali, politischer Analyst und ehemaliger Kommilitone aus London. „Wir Iraner sind politische Tiere, keine militärischen Bestien“, fügt er erklärend hinzu. Die Statistik zumindest belegt Alis Einschätzung. Der letzte offensive Krieg des Landes ging 1739 von einem iranischen Monarchen aus. Seitdem befand man sich meist in der Defensive. In den letzten 200 Jahren haben die Iraner zwangsweise gelernt, mit politischen und diplomatischen Mitteln zwischen den Expansionsambitionen der Kolonialmächte zu navigieren. „Wir sind seit hunderten von Jahren Zielscheibe anderer Nationen“, schrieb kürzlich eine bekannte iranische Tageszeitung und bezifferte die Opfer der letzten gegen den Iran unternommenen Feldzüge jenseits der Millionen-Grenze: der Irakkrieg allein hatte rund eine Million iranische Leben gefordert, die wirtschaftlichen Sanktionen der USA fordern neben Menschenleben ein noch höheres Opfer: “Sie verdammen uns zur Mittelmäßigkeit.“


Wenn Teheran also anstrebt, in den elitären Klub der Nuklearmächte aufzusteigen, dann eher, um an politischem Gewicht zu gewinnen, und nicht aufgrund konkreter militärischer Kriegsplanungen, schlussfolgerten kürzlich mehrere Iran-Experten auf einer Konferenz zur iranischen Außenpolitik im nordenglischen Durham. Als „politische Tiere“ haben die Iraner gelernt, dass verdeckte Operationen, so zum Beispiel die Unterstützung verschiedener geheimer politisch aktiver Zellen, kostengünstiger und effektiver als pompöse militärische Feldzüge sind. Schon der Schah nutzte solche asymmetrischen Vorgehensweisen, als er Anfang der 70er-Jahre kurdische Oppositionelle im Irak unterstützte und so politischen Druck auf den ungeliebten Nachbarn ausübte. Seitdem richtete sich iranischer Terror allerdings meist gegen Dissidenten aus dem eigenem Lande (Salman Rushdie ist in diesem Fall die Ausnahme, die die Regel bestätigt). Darauf angesprochen, kommentierte Donald Rumsfeld unnachahmlich, dass die Abwesenheit von Beweisen kein Beweis für Abwesenheit sei.


Angesichts solcher immer wiederkehrender Washingtoner Logik verwundet es kaum, dass sich Teherans geistliche Anführer unter vorgehaltener Hand oftmals erstaunt zeigen, mit welch unberechenbaren und irrationellen Widersachern sie konfrontiert sind. „Die Geiselnahme haben sie uns immer noch nicht verziehen“, sinniert Amir, ein alter Bekannter und in Teheran ansässiger Autor eines Nachmittags bei der obligatorischen Tasse Tee. Als ich mich mit Amir über die Tragweite dieser im großen geschichtlichen Rahmen relativ unspektakulären Geiselnahme von 1979 unterhalte, überrascht mich dieser mit einem emotionalen Ausbruch: „Die Amerikaner haben über Jahrzehnte unser ganzes Land als Geisel gehalten. Was sind da schon 444 Tage und eine kleine Botschaft?“, ereifert er sich.


Amir spielte auf das Jahr 1953 an, dessen Ereignisse sich tief in das iranische Unterbewusstsein eingebrannt haben: In dem Jahr hatten der amerikanische und der britische Geheimdienst mittels eines Staatsstreiches die Regierung des beliebten Premierministers Mossadegh gestürzt und den Schah als alleinherrschenden Autokraten wieder an die Macht katapultiert. Als Marionette des Westens empfunden, wurde dem Schah nie die Wertschätzung derer zuteil, die nicht zu den oberen Zehntausend gehörten. Wie ein D-Zug, der die Fahrgäste vergessen hatte, raste der Schah in Richtung Modernisierung und ließ eine entfremdete Bevölkerung zurück. Bis die Iraner mit der Revolution von 1979 die Notbremse zogen. Die Geiselnahme empfanden viele als direkte Rache für den Staatsstreich von 1953.


In die seither währende Funkstille mischen sich nun Unverständnis für die andere Kultur, propagandistische Feldzüge und ein so genannter „Krieg gegen den Terror“. In Washingtons Korridoren der Macht, vertraut mir einer der wenigen hier ansässigen amerikanischen Journalisten an, kennt keiner die Sprache, Kultur und sozialen Verhältnisse im Iran. Der letzte amerikanische Diplomat war eine iranische Geisel, das letzte demokratisch gewählte iranische Staatsoberhaupt ein Opfer amerikanischer Verschwörung. So ist die rationelle und sachkundige Politik verhext von den Geistern der Vergangenheit. Eine militärische Eskalation ist in diesem Rahmen durchaus denkbar, schrieb kürzlich Ali Ansari: es bedürfe nur eines kleines Missverständnisses, beispielsweise eines Grenzvorfalls, um der angeheizten Atmosphäre eine Eigendynamik zu verleihen.


Das schwere Erdbeben in Bam hat für kurze Zeit den Kontakt zwischen Iranern und Amerikanern geebnet. Für einige Wochen arbeiteten Handwerker, Lehrer und Regionalpolitiker Seite an Seite, und fast schien es so, als seien die geschichtlichen Narben nur noch entfernte Relikte einer längst vergangenen Zeit. Inzwischen hat sich die Normalität gewordene Ausnahmesituation wieder eingestellt. Der Großteil der iranischen Bevölkerung jedoch ist bereit für den Dialog mit Amerika, er sehnt sich sogar danach, ergab eine 2002 im Iran durchgeführte Umfrage.


Als ich spät abends mit dem Sammeltaxi nach Hause fahre, erspähe ich in der Ferne wieder die Totenköpfe inmitten der amerikanischen Flagge, unter der das junge Mädchen uns von den hiesigen Rockmusikern erzählte. Sie hatte absolut Recht. Die Welt muss erfahren, dass es hier Rockmusiker gibt. Auch Akademiker, Maler, Schriftsteller und Modedesigner. Sie alle lechzen nach Austausch. Aus dem Kassettenrekorder im Auto ertönt der gedämpfte Refrain von John Lennons „Imagine“. Ein paar der Fahrgäste summen leise mit. Das nächste Lied ist ein Rocksong, ein iranischer.

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