04.08.2009
Die Verkehrung des Solidarprinzips
Von Tobias Prüwer
Die Leipziger AG SchwerPrekär lud 2007 zur Veranstaltungsreihe „‚Unterschichten‘ ‚Klassen‘ ‚Prekariat‘“. In Vorträgen wollten die Studierenden und Wissenschaftler ergründen, warum die Rede von der „neuen Unterschicht“ so rasch in Mode gekommen ist und was diese eigentlich sein soll. Um einige Beiträge erweitert, sind diese nun in einem Sammelband erschienen. Tobias Prüwer sprach mit Vertretern der AG.
„Neue Unterschicht“ und „Prekariat“ – was war der Anlass, euch mit diesen Begriffen zu beschäftigen?
SchwerPrekär: Wenn man es diskursanalytisch fassen will, dann gab es 2006 mehrere diskursive Ereignisse in der gesellschaftspolitischen Debatte, die mit diesen Begriffen aufgeladen waren. In einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung tauchte der Begriff „abgehängtes Prekariat“ erstmalig auf. Und Kurt Beck forderte einen Erwerbslosen auf, sich mehr und besser zu pflegen, dann fände er wieder Arbeit. An diesen Ereignissen und den sich darum entwickelnden Diskussionen wurde deutlich, was vermutlich schon länger eher implizit in der Gesellschaft gedacht wurde und bisher keiner öffentlich ausgesprochen hat. Diese neue Debatte wollten wir hinterfragen. Das Interessante daran ist, dass deutlich wird, dass das sonst unsichtbare gesellschaftliche Denken in diesen Auseinandersetzungen sichtbar wird. Problematische Zuschreibungen und Machtverhältnisse kommen so an die Oberfläche. Das galt es zunächst kritisch zu befragen und auf einer anderen Ebene auch begrifflich und theoriepolitisch zu ordnen.
Was ist falsch an der Bezeichnung „Unterschicht“? Ist es nicht besser, einen existierenden Missstand zu benennen, anstatt ihn zu deckeln?
SchwerPrekär: Natürlich gibt es gute Gründe, über ein gesellschaftliches Problem wie soziale Ungleichheit zu reden, weil man es erst dann als solches benennt und erkennbar macht. Die Art und Weise aber, wie über die „neue Unterschicht“ geredet wird, verknüpft kausale und kulturelle Zuschreibungen über Individuen und soziale Gruppen, die das Problem umdeuten. Das ist kein Aufmerksammachen auf die Ungerechtigkeiten und Schwierigkeiten, die hinter den individuellen Schicksalen stehen. Der Begriff „Unterschicht“ impliziert so unglaublich viel, weshalb er sich nicht kontextfrei und machtfrei zur Problembeschreibung verwenden lässt. Und historisch betrachtet wurde von „Unterschichten“ vor 50 Jahren in einem anderen Zusammenhang geredet als heute. Es wurden andere Dinge damit verbunden. Und nicht zuletzt ist es naiv zu denken, man könne den Begriff einfach so mit neuem Inhalt füllen und damit im Diskurs auf emanzipatorische Inhalte fokussieren.
Was macht den heutigen Begriff so problematisch?
SchwerPrekär: Es wird nicht mehr von materieller Armut ausgegangen, sondern von Armut im Geiste. Die betreffenden Menschen werden als Angehörige einer selbstverschuldeten Kultur der Unbildung dargestellt. Mangelnde Bildung sei das Hauptproblem, allerdings würden die Betroffenen von Bildung gar nichts hören wollen. Nach der Verantwortung der Gesellschaft wird dann nicht mehr gefragt und stattdessen werden immense Anforderungen an das Individuum gestellt: Was muss dieses tun, damit es sich selbst verbessert und integriert werden kann? Das ist eine Verkehrung der Ursachen.
Ist deshalb „Prekariat“ angemessener?
SchwerPrekär: Ja und Nein. Zunächst muss man wiederum klären, was mit diesem Begriff in den gesellschaftlichen Diskussionen jeweils gemeint ist. Denn es besteht die Gefahr, zu viele Entwicklungen unter den Begriff fassen zu wollen. Mit dem „Prekariat“ sind, folgt man zum Beispiel den Ausführungen von Mario Candeias, viele Dimensionen angesprochen: Gemeint sind Arbeits- und Lebensverhältnisse ohne existenzsichernde Einkommen, was auch unter der Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses beschrieben wird – was ja heutzutage schon wieder bis zum Phänomen der Tagelöhnerei geführt hat. Genauso dazu gehören aber auch fehlende Anerkennungsstrukturen für die Arbeit und die Person, die betriebliche und soziale Isolierung, die Zerstörung von Sozialkontakten, mangelnder Sozialversicherungsschutz, fehlende Planungssicherheit für den eigenen Lebensentwurf usw. Das betrifft aber die Menschen aus den sozialen Klassen ganz unterschiedlich: Leute aus dem akademischen Milieu, die Hartz IV bekommen, sind ganz anders prekarisiert als illegalisierte MigrantInnen. Und dennoch wäre zu fragen und zu schauen, ob und wo es Gemeinsamkeiten der sozialen Situationen zwischen den von Prekarisierung betroffenen Gruppen gibt. Es gilt auch, auf diese Gemeinsamkeiten hinzuweisen und Solidarisierungseffekte zu erzeugen und gemeinsame politische Handlungsfähigkeiten zu beleuchten.
Diese Sammelbezeichnung „Prekariat“ scheint von JungakademikerInnen dominiert, die nach dem Studium eine zeitlang beruflich zwischen den Stühlen hängen, aber dann doch auf den besseren Positionen landen.
SchwerPrekär: Ja, das Prekariat ist stark mit der so genannten „Generation Praktikum“ gekoppelt. Das wirkt dann oft so, dass die am lautesten jammern, denen es nur temporär schlecht geht. Natürlich müssen auch diese Gruppen gehört werden. Es darf aber nicht ausschließlich auf sie fokussiert werden, nur weil sie dank ihrer Ausbildung ihre Probleme vermeintlich besser artikulieren können.
Wie ließen sich die Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen „Abgehängten“ aufzeigen und sich diese eventuell zum gemeinsamen Handeln bewegen?
SchwerPrekär: Wir sollten erst einmal über die Voraussetzungen nachdenken die benötigt werden, um eine Grundlage für Solidarität zu schaffen. Als ein erster Schritt könnte es wichtig sein, überhaupt eine gemeinsame Sprache und Kommunikationsräume zu finden, wo Unterschiedliches wie Gemeinsames artikuliert werden kann. Die Euromayday Proteste scheinen ein Versuch zu sein, solches zu erzeugen. Und so kritisch man sie andererseits betrachten muss, gab es diese Räume auch ein stückweit bei den bundesweiten Demonstrationen gegen Hartz IV, auf denen gemeinsame politische Handlungsfähigkeit wie auch unterschiedliche soziale Situationen diskutiert wurden.
Worin erklärt sich für Euch das relativ plötzliche (Wieder-)Auftauchen von „Unterschicht“, der „neuen“ Armut etc.?
SchwerPrekär: Aus einer Akteurs- und Klassenperspektive kann man das schon als einen Umdeutungskampf um das Problem „soziale Ungleichheit“ und seine Lösung verstehen. Umverteilungskämpfe werden so zu Individualproblemen. Außerdem klingt darin vielleicht eine Art Warnung aus dem schwindenden Mittelstand an, der ja als ökonomische Stütze Deutschlands gilt, die die von Barbara Ehrenreich beschriebene „Angst vor dem Absturz“ über Distinktionsauseinandersetzungen austrägt. Nach dieser Interpretation wird Armut dann wie eine Krankheit mit Ansteckungsgefahr behandelt. Da kommt dann wieder die schon überwunden geglaubte Vorstellung von der Gesellschaft als „(Volks-)Körper“ zum Vorschein, in den wir uns einordnen sollen und den es vor Krankheiten zu schützen gilt. Das Epidemische als Analogie findet sich auch hinsichtlich der „neuen Unterschicht“: Die sich ausbreitende „verdorbene Kultur“ werde sich auf die Individuen der „Mitte“ übertragen und es wird gleichzeitig der kulturelle Verfall Deutschlands angestimmt.
Das mutet ja so an, als ob die Betroffenen freiwillig „Parallelgesellschaften“ aufbauen würden, die sich von der selbsternannten Normalgesellschaft abschotten?
SchwerPrekär: Ja, das kann man so sagen, aber in diesen Parallelgesellschaften sind sie genau betrachtet aber integrierte Ausgeschlossene. Auf der einen Seite werden sie als nicht normal dargestellt und symbolisch wie real aus der Gesellschaft ausgegrenzt, auf der anderen Seite aber in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs wieder einbezogen als kulturell und materiell verwahrloste Menschen, die sich durch Verhaltensänderungen wieder in die Gesellschaft eingliedern sollen. Die soziale Teilhabe sei möglich, so wird suggeriert, aber nur, wenn sie sich selber verändern und etwas fürs Kollektiv leisten. Hier wird der Solidargedanke umgekehrt. Man glaubt halt immer noch an das Modell der Mittelstands- und Leistungsgesellschaft, selbst wenn dieses nicht (mehr) funktioniert.
“Von ‘Neuer Unterschicht’ und ‘Prekariat’”
Die Vorurteile über die „Unterschicht“ sind allbekannt: asozial, ungebildet, faul sind nur einige Beispiele. Diesen Zuschreibungen gehen die 14 Beiträge des Bandes nach, der aus zwei inhaltlichen Schwerpunkten besteht. Im ersten Teil wird gefragt, wie bestimmte Begriffe die Vorstellungen von Gesellschaft dirigieren und welche Machtverhältnisse in diesem Kontext wirken. Die Suche nach neuen und adäquateren Konzepten, das soziale Gefüge zu beschreiben – ohne Zumutung für die Subjekte und mit Möglichkeiten der Emanzipation – bestimmt den zweiten Teil. Dabei argumentieren die eingenommenen Perspektiven vor sozialwissenschaftlichem, praktischem sowie künstlerischem Hintergrund.