01.05.2004

Die Vergangenheit hört nicht wirklich auf

Essay von Lutz Rathenow

Das Stasi-Thema ist verwirrend, anstrengend und entblättert immer neue Facetten. Und es scheint sich von Deutschland aus zu verbreiten.

Auch von manchem für erledigt erklärte Themen bleiben häufig länger brisant als erwartet. „Das Interesse an den Stasi-Akten lässt nicht nach“, so beginnt eine Presseerklärung der sie verwaltenden Behörde vom Januar 2004. Allein im Vorjahr stellten 95.100 Privatpersonen einen neuen Antrag. Tausend mehr als im Jahr 2002. 14 Jahre nach dem Ende der DDR warten immer noch Menschen darauf, zu erfahren, was das Ministerium für Staatssicherheit in seinen Dossiers über sie gesammelt hat. Seit Einrichtung der Stasi-Unterlagenbehörde wurden, so ihr Pressesprecher, 1,9 Mio. Anträge auf Akteneinsicht, Kopienherausgabe und Decknamenentschlüsselung bearbeitet – Decknamenentschlüsselung, was für ein zähes und abstraktes Wort. Einer jener neudeutschen Begriffe, die das Ende der DDR und die Aufklärung ihrer geheimen Machtmechanismen mit sich brachte. Besonders jene, die als Spitzel für diesen Dienst arbeiteten, wühlen die Gefühle der Menschen auf. Die Stasi nannte sie „IM“, „inoffizielle Mitarbeiter“. Jeden Tag könnte einer, der privat oder für die Wissenschaft in den über ganz Ostdeutschland verteilten Lese-Räumen dieser Behörde in jenen Akten eines zum Glück hinwegvereinigten Staates studiert, neue IMs entdecken. Was bedeuten jene fortwirkenden Spannungen aus DDR-Zeiten? Zunächst einmal Ärger und Aufregung, meist im unpassenden Moment.

Im Februar 2004 fand im thüringischen Oberhof die Biathlon-Weltmeisterschaft statt. Kurz vor deren Eröffnung wurde ihr Cheforganisator abgelöst. „Ski-Spitzel“ nannte ihn eine Zeitung. Sein Sohn startete für die deutschen Biathleten. Sein Trainer war durch seinen Vater, also den Manager a.D., bespitzelt worden. Was fällt diesem Trainer 14 Jahre nach dem Ende der DDR auf die Frage eines Journalisten dazu ein? Zwei Sätze: „Die Akte ist ein Wahnsinnsthema für mich ... Ich muss das jetzt alles weglegen.“ Zwei Sätze, die irgendwie nicht zusammenpassen; davor, zwischen ihnen und danach – Schweigen. Aus den Sätzen spricht große Betroffenheit und gerade deshalb der Wille, diese Geschichte zu verdrängen. In den vergangenen 14 Jahren klärten Artikel, Studien, Bücher vieles auf und erhellten Ursachen und Auswirkungen jener Willkür, die sich mit der DDR-Staatssicherheit verbindet.

Die Vergangenheit wegzulegen versuchen sie nicht nur in Oberhof. Auch Leipzigs Olympiabewerbung geriet durch eine Stasi-Mitarbeit in eine Krise, deren Fortgang dann allerdings eher finanzielle Unregelmäßigkeiten bestimmten. Das Stasi-Thema ist verwirrend, anstrengend und entblättert immer neue Facetten. Und es scheint sich von Deutschland aus zu verbreiten. Manchmal sogar rein künstlerisch zum Beispiel durch die erfolgreiche Broadway-Premiere eines amerikanischen Stückes über den Ostberliner Transvestiten Charlotte von Mahlsdorf. Der amerikanische Autor Doug Wright hatte dessen Akten in Deutschland angefordert, um eine skurrile Heldenrolle zu entdecken. Die vor knapp zwei Jahren verstorbene Charlotte von Mahlsdorf ermunterte dazu. Wright entdeckte stattdessen Mahlsdorf auch als IM, der sogar einen Kunstsammler ins Gefängnis gebracht hatte. Das Publikum in New York applaudierte dem verstörenden Stück heftig. Zur selben Zeit wurde in Deutschland ein mutmaßlicher Auftragsmörder der Staatssicherheit verhaftet. Jürgen G. brüstete sich, für den DDR-Regierungsapparat missliebige Personen liquidiert zu haben. Es gibt Spekulationen, er habe sich gegenüber einem vermeintlichen CIA-Agenten für den amerikanischen Dienst wichtig machen wollen. Generalbundesanwalt Kay Nehm hob jedenfalls den Haftbefehl wieder auf, ermittelt aber weiter.

14 Jahre nach dem Ende der DDR sind Mythen und Realitäten oft schwer zu unterscheiden. Und ehemalige IMs entwickeln oft erstaunliche Talente, sich missverstanden und eigentlich eher als Opfer zu fühlen. Gerade erschien auch eine Studie über die Zahl der Ausländer unter den IMs. Der wissenschaftliche Mitarbeiter der Aktenbehörde, Georg Herbstritt, kann mit ganz genauen Zahlen nicht aufwarten. Aber er geht davon aus, dass rund fünf Prozent der im Westen tätigen IMs Ausländer waren. Besonders Türken oder Westberliner mit türkischer Herkunft wurden nach einem so genannten „Ausländerbefehl“ im Jahr 1981 angeworben. Das irritierende Kürzel „Ausländerbefehl“ deutet also auf eine frühe Stasi-Skepsis gegenüber der sich in Westberlin entwickelnden multikulturellen Gesellschaft hin. Gerade der Chef des MfS, Erich Mielke, äußerte sich mehrfach abfällig über in Kreuzberg und Neukölln ansässige Türken. Nicht nur im Wort „Ausländerbefehl“ kommt eine Feindlichkeit allem Fremden gegenüber zum Ausdruck. Umso mehr wollte das MfS alles erfahren und suchte Kontakte zu diesen Kreisen. Eine Diskussion über solche konspirativen Abhängigkeiten gibt es in der türkischen Presse bisher nicht. Dabei hatte die Staatssicherheit auch logische und nachvollziehbare Motive. Noch einmal die Studie:

„Schon Ende der 70er-Jahre hatte die Stasi allein in Kreuzberg über 20 türkische faschistisch-nationale, rechtsradikale und religiös-fanatische Tarnorganisationen ausgemacht. In einer groß angelegten ‚Aktion Ankara‘ verstärkte das MfS im Sommer 1981 die Einreisekontrollen bei Türken und schickte viele von ihnen an der Grenze nach Westberlin zurück.“

Es handelte sich hier um Tagesbesucher, oft auf der Suche nach privaten Kontakten. Denn Westgeld verschaffte dem Besucher in Ostberlin Respekt. Manche wurden (auch weil sie Geld illegal tauschten) von der Stasi zur Mitarbeit angeworben oder erpresst.

Die Stasi-Akten öffnen auch Türen zu noch düstereren Vergangenheiten. Demnächst muss das Landgericht Gera über die emeritierte Medizinprofessorin Rosemarie Albrecht aus Jena urteilen. Die rüstige 88-Jährige wird des Mordes und der Beteiligung an Nazi-Euthanasie-Verbrechen bezichtigt. Auf ihre Spur kamen die Ermittler durch Akten aus der Unterlagen-Behörde. Die DDR wollte eigentlich dem bundesdeutschen Klassenfeind einen sorglosen Umgang mit der Nazi-Vergangenheit vorwerfen. Doch die für den Kalten Krieg vorgesehene Verbalmunition aus den Akten verschwand mit Sperrvermerk bis zum Ende der DDR. Denn vorher hätte man sich selbst mit der Nazi-Vergangenheit einer berühmten DDR-Wissenschaftlerin beschäftigen müssen. Wäre Frau Albrecht in der DDR politisch renitent aufgefallen, hätte sich das MfS sicher ihrer Akte erinnert. So aber schützte es diese Täterin aus nationalsozialistischen Zeiten vor ihrer Vergangenheit.

Es geht also um Papiere, die eine Altlast aus DDR-Zeiten darstellen. Und es geht um jene Behörde, die diese Akten verwaltet, auswertet und gelegentlich veröffentlicht. Und damit bekommt die Aufarbeitung der DDR eine eigene Geschichte, die erst mit dem Ende des Staates beginnt. Eine der Meldungen zu diesen Akten aus dem Jahr 2004: Da will das Berliner Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik der Behörde ein Angebot unterbreiten. Für nur sieben Millionen Euro soll ein Probelauf eines Computerprogramms zur Zusammensetzung zerstörter Dokumente stattfinden. Ursprünglich waren Kosten von 57,9 Mio. Euro für fünf Jahre vorgesehen, aber vom Bundestag nicht genehmigt worden. Es geht um die im Herbst 1989 (und vielleicht auch noch später) von Stasi-Mitarbeitern zerrissenen Seiten, so genannte „vorvernichtete Akten“, die in rund 15.000 Säcken auf ihr endgültiges Verschwinden warteten. Rund 250 solcher Papiersäcke voller Schnipsel haben Mitarbeiter im bayrischen Zirntorf per Hand zu lesbaren Blättern zusammengepuzzelt. Bei der jetzigen Geschwindigkeit mit den zur Verfügung stehenden Mitarbeitern würde es 600 Jahre dauern, bis die restlichen Säcke aufbereitet sind, erklärte Marianne Birthler. Sie leitet die Behörde, die manche noch Gauck-Behörde (nach ihrem ersten Chef Joachim Gauck) nennen. Der Originalname taucht nur auf den Briefbögen auf: „Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“.

Das IT-Verfahren aus dem Fraunhofer-Institut könnte mittels Scannen über Computer entscheidend zur Aufhellung der DDR-Vergangenheit führen. Die Stasi-Aktenbehörde verwaltet also ein längst noch nicht erschlossenes Erbe. Das Verhältnis von Rolle und Funktion dieser Hinterlassenschaften für unser demokratisches Gemeinwesen wäre zu klären. Sind sie nur ein notwendiges Übel oder lassen sich auch positive Erkenntnisse daraus gewinnen? Was bedeutet diese DDR-Vergangenheit für die gesamtdeutsche und vielleicht sogar europäische Zukunft?

"Wie stasi war die Bundesrepublik wirklich?"

Längst ist das Thema im Westen angekommen. Was Geheimdienste in der Öffentlichkeit lancieren, ist nicht immer falsch, nur der Falschheit verdächtig, weil solche Dienste nicht für eine Öffentlichkeit gemacht sind. Ein anstrengendes Thema. Die einen winken ab und wollen in die Zukunft blicken. Andere sehen in ihm ohnehin nur vielfältig gebrochene Echos aus der Vergangenheit und möchten lieber eine neue Überprüfung auf IM-Tätigkeit durchsetzen – auch im Westen. Aber auch die delegiert Verantwortung letztlich an eine Institution. Geheime Überprüfungen lösen das schwierige Erbe der DDR nicht auf. Wichtiger als die Zahl der echten und vermeintlichen IMs im Westen dürfte sein, was sie an Beeinflussungen durch die DDR ermöglichten. An was sie passiv oder aktiv mitwirkten. Wie stasi war die Bundesrepublik wirklich?

Darüber berichten die schriftlichen Hinterlassenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit präzise. Gelegentlich in der zur Abstraktion neigenden Verschwommenheit einer Behördensprache, die aber durch sehr lebendige Aktenteile (unter anderem die Berichte der Informanten) ergänzt werden. Allein die ständig neuen Zielvorgaben und die Intensität der Aktenführung lassen etwas vom durchregelten Fanatismus einer Ideologie ahnen. Zweihundert Kilometer ergeben diese Akten nebeneinandergelegt. Sie handeln vom Kampf für eine vollständige Kontrolle – von allem und über alles. In ihnen offenbaren sich die Innereien einer Macht, die sie nie preisgeben wollte. Sowjetische Systemvorgabe und preußisch durchherrschter Verschriftungsgeist gehen eine verblüffende und gleichzeitig sinnlose Allianz ein. Das DDR-System entblößt sich zu einer ihm eigenen spezifischen Kenntlichkeit. Gerade die Details dieser Akten sollten so öffentlich auswertbar wie nur irgend möglich bleiben müssen. Bei Personen der Zeitgeschichte auf jeden Fall, das im Gesetz vorgesehene Schwärzen wirklich intimer Daten immer vorausgesetzt.

Nur öffentliche Reflexionsmöglichkeiten helfen, Mysterien nicht zu verlängern. Und so gerät die DDR zum Beispiel für eine geschlossene Gesellschaft, die plötzlich offen vor uns liegt. Anhand der sich andere ähnliche Diktaturen besser erkennen, analysieren oder auch beeinflussen lassen. Welche Politik bewirkt was? Eine nicht nur bezüglich der Menschenrechtsverletzungen in China, Kuba oder Nordkorea aktuelle Frage. Offene und jeder Forschung zugängliche Stasi-Akten sind ein Beitrag zur Diktaturprävention – eine vorbeugende Analyse, um eine bestimmte Art des Machtmissbrauchs zu verhindern. Das gilt besonders für die ostmitteleuropäischen Staaten, die auch von den Gespenstern des Realsozialismus heimgesucht werden.

Zum Beispiel ist die ungarische Gesellschaft tief in zwei politische Lager gespalten. Man redet kaum miteinander. Der Streit bricht immer wieder über Ereignisse aus der Vergangenheit aus und an der Verstrickung einzelner Politiker in diese. Und an der heutigen Deutung von Verantwortung oder Schuld. Die Debatten dort verraten immer klarer: Man erhofft sich von Westeuropa eine Klärung dieser in Ungarn nicht mehr auflösbaren Vorwürfe. Als könne die EU nach dem Eintritt Ungarns so etwas wie eine unabhängige Richterrolle übernehmen. Die italienische Osteuropaspezialistin Barbara Spinelli schrieb in ihrem Buch Der Gebrauch der Erinnerung. Europa und das Erbe des Totalitarismus zur Frage „Warum Erinnern?“:

„Aus dem einfachen Grund, weil mit Erinnerung Politik betrieben wird – so wie man den roten Totalitarismus Zeit seiner Existenz nicht wirklich als Gefahr wahrnahm, so unfähig zeigte man sich nach 1989, mit seinen Folgeerscheinungen wie extremem Nationalismus und Chauvinismus adäquat umzugehen.“

Die Stasi-Akten können als Schlüssel zu einem Verständnis Osteuropas betrachtet werden. Die ganz aktuellen Mutmaßungen betreffen allerdings eher die alte Bundesrepublik.

Dank der Rosenholz-Dateien kam das Thema neu in die Diskussion. Was verbirgt sich hinter den Dateien aus den USA mit dem romantischen Namen Rosenholz? Der Name ist purer Zufall. Die CIA kaufte diese Daten über die DDR-Auslandsspionage offenbar einem russischen Überläufer ab. Es handelt sich um eine Sammlung von rund 317.000 verfilmten Karteikarten zu Personen und ca. 77.000 zu operativen Vorgängen. Besonders brisant sind die bis zu 20.000 Namen von inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit, die nicht aus der DDR waren. Deren Namen glaubte man bei der Stasi 1989/90 vernichtet zu haben. Seither schüren diese Daten Phantasien. Bundesdeutsche Ermittler durften vor Jahren schon Einsicht nehmen und veranlassten Verfahren, die zu Verurteilungen wegen Spionage führten. Einiges erwies sich als verjährt, mancher Fall nach dem Ende des Ostblocks als unerheblich. Erst im Sommer 2003 wurde die Geheimhaltung dieser Daten aufgehoben. Seitdem arbeiten die Kollegen von Marianne Birthler an ihrer vollständigen Überprüfung. Denn die Kartei wurde von den Amerikanern in eine Bildkartei umgewandelt. Fehlerquellen, schon bei der Namensschreibung, mussten geprüft und ausgeschlossen werden. Auch geht es um eine genaue Bewertung der auftauchenden Namen, nicht jeder ist ein IM.

Nach vorsichtiger Schätzung gäbe es, so Marianne Birthler bei einer Tagung des Innenausschusses, an die 6000 IMs. Von denen seien 2000 schon enttarnt. Da rund 40 Prozent aller IMs überwiegend in der Wirtschafts- oder Industriespionage tätig gewesen seien, könnten noch 1000 im öffentlichen Dienst sein, dort noch immer arbeiten. 1000, nur oder immerhin? Das hängt von den Erwartungen ab. Seit April 2004 stehen die Rosenholz-Dateien für alle Auskünfte zur Verfügung. Auch Bundestagsabgeordnete und öffentlicher Dienst werden dann nochmals überprüft. Es ist schon abzusehen, dass es weiterhin umstrittene Grenzfälle von Spitzeltätigkeit oder Abgeschöpftwordensein gibt. Mancher erwartet zu viel von Rosenholz. In der Bewertung von Personen geraten Einschätzungen und Bearbeitungspläne oft bösartig verzerrt. Auch das verrät viel über Handlungen und Absichten. Realitäten werden eben gebrochen widergespiegelt. Alle in den Stasi-Akten auftauchenden Dokumente, die die Staatssicherheit nicht direkt zu verantworten hat, sind für die historische Forschung besonders interessant: Abhörprotokolle, kopierte Dokumente, gestohlene Briefe etc. Das gilt auch für jene Akten-Teile, die Menschen aus dem Westen berühren. Die Geschichte der DDR gerät plötzlich zu einem Zerrspiegel westdeutscher Geschichte.

Die Rosenholz-Dateien werden das nuancieren, was grundsätzlich schon bekannt ist. Zum Beispiel durch den in Unna geborenen Historiker Hubertus Knabe. Der Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen (das zentrale ehemalige Stasigefängnis in Berlin) veröffentlichte Bücher zu diesem Thema. Sie verweigern die einfache Antwort auf die Frage, wie stasi die Bundesrepublik war. Um das Bild vom Licht-in-das-Dunkel-bringen aufzugreifen – sie zeigen diffuses Zwielicht und irritierende Beleuchtungsverhältnisse, die manchmal deutliche Fakten verdunkeln und undeutliche als Fata Morgana klar fassbar hervortreten lassen. Die Staatssicherheit rekrutierte ihre Mitarbeiter im Westen aus allen Lebensbereichen und sozialen Schichten. Fast jeder konnte für sie interessant sein oder werden. Eine Erklärung für ihre Anwerbungserfolge: das Aufbauen von Perspektivagenten, also Menschen, die ihre berufliche Entwicklung vor sich haben. Man spricht sie als Studenten an und nutzt Geltungssucht, Ehrgeiz, DDR-freundliche Überzeugung, Spaß am Versteckspiel oder Geldprobleme aus. Die Flexibilität der Stasi-Genossen war erstaunlich. Hubertus Knabe dazu:

„Während in früheren Zeiten immer wieder einmal weibliche Agenten mit den Waffen der Erotik zur Informationsbeschaffung eingesetzt wurden, machte es die Stasi zum ersten Mal umgekehrt – und entwickelte das Verfahren mit wissenschaftlicher Präzision zu einem regelrechten System der Agentenrekrutierung. Der Weg (...) war so simpel wie effektiv: Das gesamte Spitzelheer des MfS war gehalten, im Westen nach operativ interessanten Personen Ausschau zu halten. Neben Rechtsanwälten, Handelsreisenden und Studenten gehörten dazu vor allem Sekretärinnen.“

„Operativ interessant“ – das Wort ist charakteristisch für die oft in den Akten anzutreffende Sprache des MfS: ein Vorgang wird überhöht, scheinbar wissenschaftlich beschrieben und lässt bei der konkreten Realisierung den agierenden Mitarbeitern Handlungsfreiheit. Und die Zusammenarbeit der DDR mit der Sowjetunion funktionierte sehr eng. Vieles wurde (vor allem in der Wirtschaft) direkt für die sowjetischen Freunde ausspioniert. Allein der im Nato-Hauptquartier platzierte und innerlich vom Sozialismus überzeugte Rainer Rupp verriet, was an geheimen Militärplanungen an den Osten nur zu verraten war. Zynisch gesprochen: So richtig hätte sich die MfS-Vorarbeit im Kriegsfall ausgezahlt.

Schon ihr zweiter Schwerpunktbereich bietet eine widersprüchliche Erfolgsbilanz: die Wirtschaft. Ihr ökonomischer Nutzen blieb beschränkt. Die DDR war nicht in der Lage, alle Erkenntnisse umzusetzen. Manchmal fehlten zum Nachbauen bestimmte Teile. Oft jagte die Staatssicherheit dem technologischen und wissenschaftlichen Rückstand hinterher. So ergibt sich ein Grunddilemma der gesamten West-Arbeit, die über traditionelle Spionage hinausging. Eigentlich wollte man als Staatssicherheit der Vertreter des zukunftsverheißenden, überlegenen sozialistischen Systems sein, in der Praxis reagierte man nur auf den Westen. Es kamen keineswegs nur klassische Spione zum Einsatz, sondern die unterschiedlichsten Kategorien und Typen von Zusammenarbeit – ein hochkomplexes System verdeckter Verbindungen wurde geknüpft. Die konspirative Durchdringung der Bundesrepublik hieß die Aufgabe – es haben sich mehr Menschen im MfS und für das MfS mit Westdeutschland beschäftigt, als die bundesdeutschen Geheimdienste insgesamt Mitarbeiter hatten. Ein erstes Resümee der bisherigen Forschung könnte sein: Außerhalb der Wirtschafts- und Militärspionage war die Staatssicherheit um so erfolgreicher, je weniger sie klassische Spionage betrieb, je mehr sie auf das Verbreiten von Informationen und Stimmungen setzte, die dann Menschen multiplizierten, die sich nicht für Spione hielten.

In Deutschland will die Aktenverwaltungsbehörde die Zahl ihrer Standorte von 13 auf 5 reduzieren. Aber ihr internationaler Wirkungsraum könnte gleichzeitig wachsen. Es geht um Diktaturanalyse und eine Entwicklung von Demokratiekompetenz über den Osten und über Europa hinaus. Marianne Birthler plant eine Konferenz im Irak, um das Wirken ihrer Behörde vorzustellen. In Berlin warben Vertreter der „Iraq Memory Foundation“ für deutsche Berater beim Aufbau einer Organisation, die sich um die Millionen von Unterlagen von Saddams Geheimdiensten, seiner Polizei und der Baath-Partei kümmern soll. „Wir brauchen die Deutschen!“, betonte Kanan Makiya bei einem Pressegespräch. Wolfram Leytz fasste im Januar für die Tagesschau zusammen:

„Rund 300 Millionen Dokumente gibt es im Irak, in denen das Regime über Verhaftungen, Bespitzelungen und die Erhaltung der Macht Buch geführt hat... Jetzt kommen die teilweise brisanten Unterlagen nach Angaben von Makiya bereits wieder zum Einsatz. Die Dokumente oder das Wissen daraus werden im Kampf gegen politische Gegner und für Erpressungen eingesetzt.“

Die irakische Regierung solle schnell ein Gesetz verabschieden, forderte die irakische Delegation von Berlin aus, Vorbild sollte dabei das deutsche sein. Vor 14 Jahren dachte mancher, die Beschäftigung mit den Akten hätte sich bald erledigt. Doch sie scheint zum Lehrstück für praktizierte Aufklärung in einer Demokratie geworden zu sein. Mit einer positiven Ausstrahlung, die man diesen hässlichen Akten eigentlich nicht zugetraut hätte. Die Hinterlassenschaft einer Diktatur gerät zum Boten demokratischer Umgestaltungsmöglichkeiten.

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