23.12.2019

Die Souveränität der EZB und die Machtlosigkeit der Wähler

Von Alexander Horn

Die EZB will auch Klimapolitik betreiben. Sie übernimmt Aufgaben, für die sie kein Mandat hat. Als rechtlich unabhängigste Zentralbank der Welt unterhöhlt sie die national verfassten Demokratien.

Der gerade vollzogene Wechsel an der Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB) hat für viele Diskussionen über das EZB-Mandat geführt. Gewissermaßen als Abschiedsgeschenk hatte EZB-Präsident Mario Draghi auf der letzten von ihm geleiteten Sitzung des Zentralbankrats die Ausweitung der Anleihenkäufe und eine weitere Zinssenkung durchgesetzt, was sogar innerhalb des Zentralbankrats auf Ablehnung stieß.1 Nicht anders geht es der neuen EZB-Präsidentin Christine Lagarde, die nun beabsichtigt, im Namen des Klimaschutzes Geldpolitik zu betreiben. Unter Wirtschaftswissenschaftlern und Zentralbankern geht die Sorge um, dass die EZB durch ihre geldpolitische Ausrichtung ihre Unabhängigkeit gefährdet. Dies betonte nun auch der ehemalige EZB-Chefökonom Ottmar Issing im Hinblick auf Lagardes klimapolitische Ambitionen. Er sagte es sei für eine Institution äußerst riskant, Verantwortung zu übernehmen, wenn sie nicht über die Mittel für den Erfolg verfüge. Am Ende werde „die eigene Reputation nachhaltig beschädigt.“2

Die Kritiker der EZB sehen das Problem darin, dass sie ihr geldpolitisches Mandat sehr weitgefasst interpretiert hat und dadurch tief in den Hoheitsbereich der Politik eingedrungen ist. Bereits im Januar 2019 schrieb Jürgen Stark, ebenfalls ehemaliger EZB-Chefökonom, unter Draghi sei die EZB „zu einer mächtigen, hochpolitisierten und damit auch angreifbaren Institution“ geworden. Da sie eine enorme wirtschaftspolitische Verantwortung übernommen hat, ist es ihr kaum mehr möglich, sich aus dieser Rolle zurückzuziehen. Sie ist, wie viele Kritiker meinen, bereits heute zu einer Gefangenen der von ihr selbst geschaffenen Verhältnisse geworden. Wegen der Ausweitung ihrer Aufgaben könnte sie daher sogar in eine Situation geraten, in der ihre wirtschaftspolitische Rolle in Konflikt gerate mit ihrer eigentlichen Aufgabe, die Preisstabilität zu gewährleisten. So könnte die Übernahme von Aufgaben, die in den Aufgabenbereich nationaler Politik fallen, langfristig ihre Fähigkeit untergraben, als Hüterin des Geldwertes zu agieren. Durch die Verschiebung politischer Verantwortung auf die EZB ist jedoch ein weiteres schwerwiegendes Problem entstanden: Die Kehrseite dieser Überfrachtung der EZB mit politischen Aufgaben ist die Aushöhlung der Demokratie.

Politische Ziele der EZB

Die Schwächung der Demokratie erfolgt jedoch nicht etwa, indem die EZB Ziele verfolgen würde, die von denen der politischen Repräsentanten der Euroländer abweichen. Ganz im Gegenteil: Die gewählten Vertreter im deutschen Bundestag und im Europaparlament sowie die Bundesregierung und die EU-Kommission begrüßen und unterstützen die wirtschaftspolitische Agenda der EZB. Ein Problem für die Demokratie ist vielmehr, dass die gemeinsam von EZB und den politischen Repräsentanten getragene Agenda von der politisch unabhängigen EZB durchgesetzt wird. Die Entscheidungen sind damit dem Einfluss der Bürger entzogen. Hinzu kommt, dass diese Agenda nur noch darauf abzielt, eine Wirtschaft über Wasser zu halten, die die Fähigkeit zur Steigerung des Wohlstands der breiten Massen weitgehend verloren hat und damit ihren materiellen Interessen entgegensteht.

„Die Schwächung der Demokratie erfolgt nicht etwa, indem die EZB Ziele verfolgen würde, die von denen der politischen Repräsentanten der Euroländer abweichen."

Wie sehr sich die Ziele von Politik und EZB gleichen und wie weit die EZB politische Verantwortung übernommen hat, zeigte sich in aller Deutlichkeit während der Finanzkrise 2008, als diese einige Euroländer finanziell zu überfordern drohte. Da es den Regierungen der Euroländer nicht gelungen war, das zunehmende Risiko eines Zusammenbruchs der Eurozone zu verhindern, sprang die EZB in die Presche. Zuvor hatten die Regierungen „alle Regeln gebrochen“ um die Eurozone zu retten, wie die heutige EZB-Präsidentin und damalige französische Finanzministerin Christine Lagarde freimütig zugab.3 Als selbst das nicht reichte, erklärte der damalige EZB-Präsident Draghi 2012 auf dem Höhepunkt der Eurokrise „alles zu tun“, um die Eurozone zu retten. So beendete er auf einen Schlag die eskalierende Eurokrise. Es war nun klar, dass die „Länder zusammen [einstehen] für die Schulden der Angeschlagenen“, wie seinerzeit der Präsident der Schweizerischen Nationalbank kommentierte.4 Gegen die Interpretation von Draghis Handeln als faktische Schuldenvergemeinschaftung setzte sich keine Regierung der Eurozone zur Wehr, denn in diesem Fall wäre die Eurokrise sofort wieder aufgeflammt.

Mit ihrer Zinspolitik und dem im März 2015 gestarteten Anleihenkaufprogramm hat die EZB zudem faktisch die Finanzierung der Staatshaushalte der Euroländer übernommen. Diese Stabilisierung ist bitter nötig, denn von etwa 6 Billionen noch vor der Finanzkrise sind die Schulden der Euroländer auf inzwischen 10,5 Billionen nach oben geschossen. Sie hätten sich bis heute glatt verdoppelt, wenn die Zinsen auf dem Niveau von vor der Finanzkrise geblieben wären. So jedoch erzielten die Euroländer durch die Niedrigzinspolitik der EZB einen Zinsbonus von 1,4 Billionen Euro.5 Die EZB betreibt Staatsfinanzierung und letztlich sogar Fiskalpolitik. Auch dem deutschen Staat ist seit 2008 eine Zinsersparnis von mehr als 370 Milliarden Euro zugeflossen, was höhere Staatsausgaben ermöglicht hat, ohne die „schwarze Null“ zu gefährden.6 Dass die wirtschaftspolitische Verantwortung in der Eurozone inzwischen praktisch vollkommen auf die EZB übergegangen ist, stellte der damalige deutsche Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel selbstkritisch fest. Schon während seiner Amtszeit meinte er, die EZB sei zu einem „Ersatz-Wirtschaftsministerium“ mutiert.7 Wichtige wirtschaftspolitische Weichenstellungen mit enormer sozialer und gesellschaftlicher Tragweite sind so dem Einfluss der Wähler vollkommen entzogen.

„Faktisch hat die EZB zentrale wirtschaftspolitische Aufgaben von den Nationalstaaten und ihren jeweiligen Regierungen übernommen und greift dabei tief in die Souveränität von deren Bürgern ein."

Die neue EZB-Präsidentin Lagarde beabsichtigt nun sogar, Geldpolitik im Namen des Klimaschutzes zu betreiben, wie sie nicht nur auf ihrer ersten Pressekonferenz durchblicken ließ. Sie hoffe, „dass sich alle europäischen Institutionen im Rahmen ihrer Möglichkeiten im Kampf gegen den Klimawandel engagieren.“ Bei einer Anhörung im EU-Parlament im September hatte sie als oberstes Ziel der EZB die Preisstabilität genannt. Es sei aber dennoch legitim, weitere Ziele zu verfolgen. Und sie ließ nicht den geringsten Zweifel an ihrer Überzeugung, dass es ihr als EZB-Chefin obliegt, ihr Mandat selbst zu definieren: „Es gibt sekundäre Ziele, die nach meiner Überzeugung nicht sekundär sind. Und wenn Preisstabilität vorliegt, dann kann man sich auch weitere Ziele […] anschauen. Zum Beispiel kann die EZB gewiss das Ziel Umweltschutz mit aufgreifen.

Die EZB ist die „rechtlich unabhängigste Notenbank der Welt“, wie Issing zutreffend sagt. Obendrein hat sie kaum Hemmungen, ihr Mandat, das weit in nationale Souveränitätsrechte hineinreicht, weitgehend selbst zu definieren.8 Trotz ihrer gut abgeschirmten rechtlichen Unabhängigkeit von politischem Einfluss, ist sie die wohl politischste Zentralbank der Welt. Faktisch hat sie zentrale wirtschaftspolitische Aufgaben von den Nationalstaaten und ihren jeweiligen Regierungen übernommen und greift dabei tief in die Souveränität von deren Bürgern ein. Im Rahmen der Eurorettung ist sie sogar für politische Weichenstellungen verantwortlich, zu denen sich die nationalen Regierungen nicht durchringen konnten, weil sie hierfür kein demokratisches Mandat hatten.

Durchwursteln mit der EZB

Die EZB ist, wie auch andere Zentralbanken, ein wichtiger Bestandteil der jeweiligen Staatsmaschinerien, die in den entwickelten Volkswirtschaften seit Jahrzehnten darauf abzielen, eine geschwächte Wirtschaft auf den Beinen zu halten, indem sie versuchen, den Unternehmen kontinuierlich über die Runden zu helfen. Dennoch bleiben die Investitionen der Wirtschaft schwach und es gelingt daher kaum noch die Arbeitsproduktivität zu steigern, das heißt durch den Einsatz neuer Technologien in der gleichen Arbeitszeit mehr zu erzeugen. Die in Deutschland seit Jahrzehnten weitgehend stagnierenden Reallöhne sind die unmittelbare Folge.

Seit Jahrzehnten ist es in allen entwickelten Volkswirtschaften gelebte Praxis, den Unternehmen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten mit Konjunkturprogrammen und Subventionen unter die Arme zu greifen. Der deutsche Staat folgt in dieser Hinsicht sogar einem Auftrag, der sich aus dem Stabilitätsgesetz ergibt. Auch in Zeiten, in denen die Unternehmen wie gegenwärtig gute Gewinne machen, fließen allein in Deutschland jedes Jahr mehr als 200 Milliarden an Subventionen, um das heutige Waren- und Dienstleistungsangebot zu ermöglichen.9 Auch bei den Unternehmenssteuern liefern sich die Staaten seit Jahrzehnten einen Unterbietungswettbewerb, um die einheimische Wirtschaft zu entlasten. Ab 2020 steigt Deutschland in die steuerliche Forschungsförderung ein und die CDU strebt an, noch in dieser Legislaturperiode die Unternehmenssteuern zu senken. Wirtschaftsminister Altmaier hat jetzt eine Industriestrategie vorgelegt, mit der die Unternehmen vom Staat unterstützt werden sollen, damit sie „wirtschaftliche und technologische Kompetenz, Wettbewerbsfähigkeit und Industrie-Führerschaft“ wiedererlangen oder sichern können.

„Die EZB beflügelt die Finanzmärkte und hält die wertschöpfende Wirtschaft durch das viele billige Geld zumindest am Ticken."

Mit der Finanzkrise sind die Zentralbanken aller entwickelten Länder zu einem wesentlichen Stützpfeiler dieser staatlichen Ausrichtung geworden. Sie besteht darin, Wirtschafts- und Finanzkrisen jederzeit möglichst abzuwenden und immer heftigere wirtschaftspolitische Hebel einzusetzen, um eine fundamental schwache Wirtschaft dennoch in Gang zu halten. Schon lange vor der Finanzkrise hatte die US-Notenbank diese stabilitätsorientierte Ausrichtung zur Maxime ihrer Geldpolitik gemacht. Auf den Aktienmarktcrash im September 1987 reagierte der kurz zuvor in sein Amt als Chef der Federal Reserve eingetretene Alan Greenspan, indem er den Leitzins deutlich senkte. So gelang es ihm sehr erfolgreich, den Aktienmarkt zu beruhigen und den Aktionären Bewertungsverluste zu ersparen. Greenspan wiederholte diese Herangehensweise, als die Aktienkurse 1990 erneut ins Trudeln kamen und senkte den Zins bis 1992 um 4,8 Prozent. Nach Aktienkursrückgängen 1998 senkte er die Zinsen bereits präventiv, denn zu diesem Zeitpunkt zeigte sich in der Wirtschaft noch keine Abschwächung.

Bis dahin hatten die Märkte verstanden, dass sie sich im Fall von Krisen auf die FED verlassen konnten. Sie erkannten, dass die Geldpolitik wie eine Absicherung gegenüber Bewertungsverlusten funktioniert. Die Geldpolitik wirkte wie eine Verkaufsoption („Put“), die vor Verlusten schützt. Auch während des Aktiencrashs von 2000 bis 2002 und in der Finanzkrise 2008 reagierten FED und nun auch die EZB in der gleichen Weise und sorgten dafür, dass die Bewertungsverluste an den Aktienmärkten in kurzer Zeit mehr als wettgemacht wurden. Nicht nur Aktien, sondern die allgemeinen Vermögenspreise erreichen bis heute ein immer höheres Niveau.

„Das wirtschaftliche Siechtum hat die Eurozone noch fragiler als noch vor der Finanzkrise werden lassen."

So übernehmen EZB und andere Zentralbanken eine immer bedeutendere wirtschaftspolitische Rolle. Sie beflügeln die Finanzmärkte und halten die wertschöpfende Wirtschaft durch das viele billige Geld zumindest am Ticken. Zudem verschaffen sie den Staaten durch niedrige Zinsen und den Kauf ihrer Staatsanleihen zusätzliche fiskalische Spielräume. Sie müssen für Ihre Billionenschulden kaum mehr Zinsen zahlen oder verdienen wie Deutschland sogar Geld damit. Mit den ersparten Zinsen und dem gedruckten Geld können sie ihre Staatsschulden praktisch zum Nulltarif erheblich ausweiten. So können sie mit konjunktureller Stimulierung, Steuervergünstigungen und Subventionen dafür sorgen, dass die blutarme Wirtschaft keine Rückschläge erleidet. Zudem ermöglicht dies sozialstaatliche Umverteilungsprogramme, die darauf abzielen, die Wähler bei Laune zu halten, indem zumindest der Schein steigenden Wohlstands aufrechterhalten wird.

Machtbalance ohne Volk

Es ist eine finanzialisierte Wirtschaft entstanden, in der die Vermögenspreise der extrem schwachen Entwicklung der produktiven Kapazitäten der wertschöpfenden Wirtschaft davongelaufen sind. Die Geldpolitik befördert den Aufbau dieser Preisblasen, so dass die Finanzmärkte von der stimulierenden Rolle der EZB und anderer Zentralbanken zunehmend abhängig geworden sind. Das wirtschaftliche Siechtum hat die Eurozone noch fragiler als noch vor der Finanzkrise werden lassen. Die Staaten ächzen unter einer enormen Schuldenlast, die sie zu höheren Zinsen kaum mehr finanzieren könnten, die Banken sind so geschwächt, dass sie ihre faulen Kredite in Höhe von einer Billion Euro, die sie nach der Finanzkrise aufgehäuft haben, kaum abbauen konnten. Die Unternehmen verlieren ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit, weil es ihnen nicht mehr gelingt, die Arbeitsproduktivität zu steigern. Durch die so entstandene Fragilität wird die staatliche Ausrichtung auf wirtschaftliche Stabilität und die Vermeidung von Wirtschafts- und Finanzkrisen zu einer regelrechten Obsession.

Die EZB ist zum wichtigsten Stützpfeiler für die geschwächte Wirtschaft geworden. Den Regierungen der Eurozone verschafft sie den nötigen Spielraum, um weiter zu wursteln wie bisher. Während Vermögende von Wertsteigerungen profitieren und Unternehmen gute Gewinne einfahren, gelingt es nur bedingt, die Stagnation des Wohlstands der breiten Massen mit staatlicher Umverteilung zu kaschieren. Die Politik ist nicht gezwungen, die zugrundeliegenden wirtschaftlichen Probleme zu adressieren.

„Es hat sich eine Machtbalance herausgebildet, in der sich die Gerichte, die Exekutive und die EZB gegenseitig den Rücken freihalten."

Im Gegenzug halten die Regierungen der Euroländer und die Gerichte der EZB den Rücken frei, indem sie die politische Unabhängigkeit der EZB verteidigen und den Vorwurf von Mandatsüberschreitungen unter anderem über Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs kontinuierlich zurückweisen. Die EZB hat eine enorme Macht erlangt. Dabei verfolgt sie jedoch nicht etwa, wie noch immer viele Kritiker meinen, eine eigene Agenda, sondern die Agenda der Regierungen der Nationalstaaten. Das Problem dabei ist, dass die Verwaltung der wirtschaftlichen Stagnation der Eurozone zu wesentlichen Teilen auf die „rechtlich unabhängigste Notenbank der Welt“ transferiert wurde. Die Entscheidungen werden so von den Wählern abgekapselt. Obwohl sie in einer Demokratie der politische Souverän sind und von ihnen die Macht ausgehen sollte, werden sie zunehmend herausgedrängt, wie einige Kollegen und ich in unserem neuen Buch „Experimente statt Experten“ aufzeigen. Es hat sich eine Machtbalance herausgebildet, in der sich die Gerichte, die Exekutive (also die Regierungen und die EU-Kommission) und die EZB gegenseitig den Rücken freihalten. Die Wähler stehen daher der mehr oder minder freien Interpretation des EZB-Mandats durch ihre jeweiligen Präsidenten machtlos gegenüber.

 

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