18.06.2020

Die politisch korrekte Online-Uni

Von Philipp Bender

Dass Hochschulen in Corona-Zeiten ihre Lehre überwiegend ins Internet verlagert haben, könnte zum Dauerzustand werden. Denn die üblichen Aktivisten dürften darin mehr Vor- als Nachteile sehen.

Das Coronavirus und die Maßnahmen zu seiner Eindämmung graben den Lehr- und Lernalltag an den deutschen Hochschulen gehörig um. Flächendeckend und bis auf wenige Ausnahmen verschiebt er sich komplett in den digitalen Bereich, damit die Hörsäle, Bibliotheken und Mensen „kein zweites Ischgl“ werden. „Ischgl“ dürfte mittlerweile den Grad „Stalingrad“ als bedeutungsaufgeladene Ortsangabe der deutschen Geschichte erreicht haben. Zwar besteht in Universitätsräumlichkeiten weniger die Gefahr des Jagertee-Abusus und der Après-Ski-Mucke, dafür aber freut sich dort Freund SARS-CoV-2 über kontaktfreudige Verbreitung. Vorlesungen, (Pro-)Seminare, Lerngruppen, Vorträge, mündliche Prüfungen – seit Wochen alles in „Online-Meetings“, überwiegend ermöglicht durch pekinghörige Videokonferenzanbieter.

Die Universität Cambridge kündigte bereits an, ihre Veranstaltungen bis zum Ende des kommenden Hochschuljahres im Sommer 2021 (!) ausschließlich online abzuhalten. Weitere Hochschulen werden dem ‚beherzten‘ Vorgehen der altehrwürdigen Instanz aus England nachfolgen, sicherlich auch auf dem traditionell risikoscheueren Festland. Mit Blick auf das kommende Wintersemester deuten sich hierzulande hauchfeine Anzeichen einer breiter geführten Diskussion an: Nachdem unsere Universitäten und Hochschulen nun – überwiegend gezwungenermaßen – im Zeitalter der digitalen Lehre angekommen sind, warum dann eigentlich nicht viel mehr via Laptop, Smartphone und Internet veranstalten? Warum nicht nach und nach die alte Präsenz-Uni zugunsten der digitalen Online-Uni abwickeln? Die gängigsten Argumentationshilfen für die Pro-Seite seien hier exklusiv und mit hellseherischer Gewissheit vorgestellt.

Autofreier und fleischfreier Safe Space

Naheliegend, ja geradezu aufdringlich sind die Segnungen einer solchen Umstellung des Uni-Betriebs für das (Stadt-)Klima und die Umwelt im Allgemeinen: Gab es doch in der ein oder anderen Studierenden-Stadt noch ein paar Umweltsäue, die es tatsächlich wagten, aus den „Speckgürteln“ (igittigitt) und dem Umland mit dem Verbrennungsmotorgefährt täglich vorzufahren und den (Lasten-)Fahrrädern die kostbaren Stellplätze schmal zu machen. Man denke allein an die schönen CO2- und Feinstaubverringerungen, wenn jeder PKW-Nazi jetzt im heimischen Kinderzimmer sitzen bleiben muss! Und auch im „öffentlichen“ Personennahverkehr mit Bus und Bahn geht es längst derart entspannt zu, dass sogar das Hollandrad mit Gepäcktaschen und Einkaufskorb am Lenker mitreisen darf. Kein intoleranter Berufspendler oder Rollstuhlfahrer muckt mehr dagegen auf, weil der Berufsausübende nun im Homeoffice das Web designt und dem Rolli-Nutzer auch keiner mehr aus der Bude hilft. Halleluja, Corona!

Da in der schönen neuen Uni-Welt alles online und über PowerPoint abläuft, dürfen auch die Bäume im bundesdeutschen und brasilianischen Urwald weiterleben und müssen nicht für die Papierproduktion gehäckselt werden. Arbeitsblätter, „Handouts“ und Bibliothekskopien entfallen, einfach weil keiner mehr in Seminare und Bibliotheken darf oder jedenfalls nicht mit seinen Corona-verseuchten Griffeln an den Kopierern rumfingern soll. Andererseits haben die meisten größeren Pflanzen in unseren Breitengraden ohnehin wohl ihr Leben für die Herstellung von Klopapier ausgehaucht, da ein Großteil der Deutschen offenbar zuletzt der Auffassung gewesen ist, das Coronavirus komme wenigstens nicht durch den Abort in die Klinkerbutze geschwommen, wenn man das Abflussrohr dauerhaft verstopft hält. Schotten dichtmachen, denkt sich der seefahrterprobte Großhirn-Germane!

„Das übliche Body- und sonstige Shaming beim Schaulaufen im Unigebäude fällt aus.“

Bei der universitären Infrastruktur kommt man deutlich billiger weg, wenn alle Studis zuhause vor dem Rechner hocken: Mensen und Essensausgaben können im Grunde ganz abgewickelt werden. Jedenfalls wäre es ein überfälliger erster Schritt in eine bessere kulinarische Uni-Welt, den teutonischen Massenfraß wie z.B. „Schweineschnitzel Kursker Art in brauner Panzergrenadiersoße“ abzuschaffen und flächendeckend auf bio, vegan und fair umzusteigen. Bisher war dies der aufgeklärten Avantgarde gegenüber einer betonköpfigen Mehrheit von Fleisch- und Frittenfressern kaum vermittelbar, aber jetzt ist der gemeine Mensagänger einfach verschwunden, sogar ohne dass man ihn aus- oder wegsperren musste – das macht er ganz von alleine. Soll sich der Heimlerner doch seine Schnitzelchen im Toaster in den angemieteten vier Wänden grillen! Gibt’s ja mittlerweile alles.

Selbst die Bistros und Cafeterien kann sich das Studierendenwerk schenken, weil kein Studierender mehr kommt und jeder seinen vollendet veredelten Spitzenkaffee daheim direkt heiß aus dem Filter schlürft. Das spart dann wiederum diese notorischen Einwegpappbecher, die ansonsten in den Küstengewässern Malaysias dümpeln würden, wo sie Flipper und seiner Delfinschule die gierigen Rachen verstopfen.

Vor allem aber ist die Online-Uni im buchstäblichen Sinne saumäßig bequem. Wer in seinem WG-Zimmer das Lehrgeschehen netflixgleich konsumieren kann, der muss sich nicht frühmorgens verkatert unter die keimige Dusche schleppen oder sich gar des kommod eingesessenen Beinkleides aus der Abteilung „Joggingbedarf“ entledigen. Die postpubertären Jungmänner tragen ihr gut geöltes Shirt einfach noch eine weitere Woche am müffelnden Leib und die Damen kämmen die buttrigen Strähnen einfach zum Pferdeschwanz zurück. Fertig ist der Online-Uni-Look! Die in der Isolation ohnehin kaum wahrgenommene Außenwelt erstrahlt plötzlich in einem blautönigen, aber viel zarterem Licht als sonst, denn das übliche Body- und sonstige Shaming beim Schaulaufen im Unigebäude fällt aus. Niemand kann mehr sozial verächtlich gemacht werden, wenn man seinen Alltag mit einem Aussehen und Körpergeruch bestreitet, als hätte man die Nacht in der Pinkelrinne des Bahnhofsklos verbracht.

„Wo keine Menschen aufeinander treffen (dürfen), da haben Sexismus, Rassismus, Homo-, Trans-, Inter- und Islamophobie keine Chance!“

Richtig diskriminierungsfrei und beinahe „safe“ geht es dank der Internet-Veranstaltungen zu. Jedes Schneeflöckchen verbleibt in der Privatheit seines mikroaggressionsfreien Spaces und wenn der alte, weiße Professor mit seinen angestaubten Herrenwitzen nervt, dann verlässt man einfach das Online-Meeting und wendet sich interessanteren Angelegenheiten zu. Oder noch besser: Man ereifert sich zeitgleich zur Lehrveranstaltung in Chat- und Onlineforen über den Dozenten, der mit seinem „patriarchalischen Eurozentrismus ja wieder gar nicht geht“ und lädt zum Beweis noch einen kurzen Videoausschnitt des Hilflosen hoch, den man zuvor aus der Anonymität des Zuschauers heraus mit dem Handy vom Bildschirm abgefilmt hat. Diese Mechanismen der Denunziation sind freilich keine Neuphänomene der Corona-Zeit, doch mit der Online-Lehre geht’s noch mal so gut – schöne neue Triggerwelt!

Strukturell lässt sich überdies argumentieren: Wo sich weniger Menschen auf engerem Raum begegnen, da schwinden die Gelegenheiten für den offenen oder zumindest latenten Alltags-Rassismus und -Sexismus. Kein lüsterner Cis-Student glotzt mehr seine Mitstudent*innen im heteronormativ imprägnierten Hörsaal an und keine chinesischen Gaststudenten werden schnaubend angerempelt, wenn sie als Clique wie auf Kommando plötzlich alle nebeneinander im Haupttreppenhaus zur Hauptverkehrszeit stehen bleiben und ihre Handys zücken. Wo keine Menschen aufeinander treffen (dürfen), da haben Sexismus, Rassismus, Homo-, Trans-, Inter- und Islamophobie keine Chance!

Ohne Tampons und AStA

An dieser Stelle des Textes sollte der Leser innehalten, sich selbst erkennen und zwei denkbaren Gruppen zuordnen: Der erste Leser ist derjenige, der den bisherigen Darlegungen zustimmen kann, vielleicht sogar applaudieren möchte und der am liebsten für immer im schönen Utopia der Online-Uni bleiben möchte. Der zweite Leser hat die wahre Einstellung des Verfassers zur Hochschul-Digitalisierung als Dauermodell – trotz des sehr subtilen, kaum polemischen Sarkasmus – erahnt und ist zudem ebenso skeptisch. Herzlichen Glückwunsch! Gleichwohl kann auch der kritische Geist und Anhänger der guten, alten humboldtschen Präsenz-Uni manche Vorzüge des gegenwärtigen Status quo anerkennen.

Mit der Vereinzelung im studentischen Alltag setzt eine gewisse Verantwortungsübertragung ein und so manche quälend-zähe Debatte löst sich plötzlich in Luft auf. Zum Beispiel diejenige, ob nicht die Hochschulverwaltung gefälligst dafür Sorge zu tragen habe, dass auf jedem Treppenabsatz immerzu genügend Hygieneartikel für den weiblich determinierten Organismus zur Verfügung stehen; selbstverständlich „kostenfrei“ und in vaginal-sensibler Angebotsbreite: Nicht jeder Frau (oder was sich dafür halten mag) sei es schließlich zuzumuten, im Bedarfsfall auf die phallisch-penetrierenden Tampons zurückzugreifen! Also müsse von der Binde aus nachwachsenden Rohstoffen bis hin zur selbstgehäkelten Menstruationstasse alles vorhanden sein – „kostenfrei“ und nicht-diskriminierend, um es nochmals zu betonen. Wenn aber kein Mensch mit Vagina mehr das Campus-Gelände aufsucht, kann auch keiner dort menstruieren. Womöglich lassen sich die Binden zu Schutzmasken umbasteln und die Tampons in die Nase stecken. Nimm das, SARS-CoV-2!

„Behörden begehen niemals Selbstmord. So auch nicht die ‚verfasste Studierendenschaft‘.“

Wenn schon eine hygienisch gründliche Abwicklung der Präsenz-Uni, dann aber bitte auch ersatzlose Zerschlagung von subversiven Einrichtungen der sogenannten „studentischen Selbstverwaltung“, in denen nichts verwaltet wird außer das eigene absonderlich-abwegige Weltbild und wo weniger Studenten denn „Aktivist*innen“ ihr Rand-Dasein fristen. Dann bitte auch dafür sorgen, dass die sogenannten „Autonomen FrauenLesbenReferate“ und AStA-Referate zur „Bildungspolitik“ keine Steuergelder und abgepressten „Sozialbeiträge“ mehr verschlingen, um ihre Material- und Propagandamaschine am Laufen zu halten. Von denen nimmt der restvernünftige Otto-Normal-Studi ohnehin niemals Notiz. Spätestens mit dieser Utopie verliert die pandemische Seuche beinahe ihren Stachel.

Selbst der geneigte Leser mag am Ende dieses Beitrags einwenden: Alles überdrehte Gedanken im erhitzten Delirium; alles völlig realitätsentrückte Phantastereien eines frustrierten Miesepeters – so verquer kann doch kein Kopf drauf sein! Und ich gebe zu, dass das Szenario des vorangegangenen Absatzes wohl in der Tat unrealistisch bleiben wird. Dem liberalen Staatsrechtslehrer und Schöpfer des ersten Entwurfs der Weimarer Reichsverfassung, Hugo Preuß, wird die weise Feststellung zugeschrieben, dass Behörden niemals Selbstmord begehen. So auch nicht die „verfasste Studierendenschaft“.

Die – auch politischen und ideologischen – Denkanstöße und Debatten rund um die Vorzüge der „digitalen Universität“ werden jedoch in den nächsten Wochen und Monaten kommen. Sie klingelt schon lebhaft in den Ohren, diese in Takt, Intonation und Orchestrierung immer gleiche Melodie. Niemand sollte überrascht sein, den ein oder anderen hier skizzierten Gedanken wiederzutreffen.

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