01.11.2001

Die nutzlose Reise durch den Darm

Analyse von Ulrike Gonder

Ulrike Gonder hält das Tamtam um probiotischen Joghurt für Quark. Weder gesünder noch irgendwie besser sind die ACEs, Omegas, Actimels oder LC1s.

Heutzutage reicht es längst nicht mehr, wenn das Essen schmeckt. Es muss außerdem noch eine Portion Gesundheit und Wohlbefinden mitgeliefert werden – „all inclusive“, wie im Urlaub. Die Werbetrommeln werden kräftig gerührt: Da gibt es probiotische Joghurts, die den lästigen Mittagsspaziergang ersetzen, Omega-Eier, die das Blut in unseren Adern beschwingter fließen lassen, „Multi“-Säfte, die unseren Wohlstandskörper bei der Krebsabwehr unterstützen, Energy-Drinks, um für gute Stimmung zu sorgen und – besonders verlockend – Süßigkeiten, die unsere Vitaminspeicher auffüllen sollen.

Functional Food heißt das Zauberwort der Lebensmittelbranche, gemeint sind verarbeitete Lebensmittel, die einen gesundheitlichen Zusatznutzen versprechen. Genau dieser Zusatznutzen macht Functional Foods so attraktiv für die Lebensmittelwirtschaft, deren Umsätze stagnieren. In einem Land, in dem die meisten mehr als genug zu essen haben und viele mit der Figur kämpfen, ist es schwierig, immer neue Produkte an den Mann oder die Frau zu bringen. Functional Foods nutzen geschickt das Dilemma des modernen Menschen: Er isst zwar gerne, will aber gleichzeitig auch schlank, fit und gesund sein. Functional Foods nehmen ihm das schlechte Gewissen, weil sie vorgeben, genau das zu ermöglichen.

Dabei sind Functional Foods durchaus nichts Neues. Es gab sie schon, bevor der Begriff geprägt war. Denn Jodsalz, Multivitaminsäfte und Ballaststoff-Brote sind nichts anderes als Functional Foods, Lebensmittel eben, die durch die Anreicherung mit bestimmten Substanzen „gesünder“ sein sollen als die „Normalversionen“. Auch Lebensmittel, denen etwas entzogen wurde, können Functional Foods sein. Beispielsweise wird in Japan mit Hilfe der Gentechnik eine Reissorte entwickelt, auf die weniger Menschen allergisch reagieren.

Zu den Rennern unter den Functional Foods gehören unzweifelhaft die so genannten pro- und präbiotischen Milchprodukte, allen voran Actimel von Danone und LC1 von Nestlé, dessen Markteinführung sich der Konzern 16 Millionen Mark kosten ließ.

Probiotika: Werbung für den Darm

Probiotisch heißt soviel wie „für das Leben“ und bezeichnet Milchprodukte, denen speziell gezüchtete Bakterien zugesetzt werden, um die Darmfunktion positiv zu beeinflussen. Von Präbiotika spricht man, wenn zusätzlich noch „Futter“ für die Bakterien (so genannte Oligosaccharide) mit hineingepackt wurde.

Die Werbung verspricht, dass die probiotischen Joghurts unsere körpereigenen Darmbakterien, die sogenannte Darmflora, günstig beeinflussen und auf diesem Weg das Immunsystem stärken, vor Krankheiten schützen und das Wohlbefinden erhöhen sollen. Doch wenn es um Beweise für diese Versprechungen geht, wird die Luft dünn. Zwar sind die Bakterien in unserem Darm äußerst wichtig für unsere Gesundheit, doch sind die genauen Zusammenhänge noch so wenig erforscht, dass es derzeit nicht einmal möglich ist, sie in „gute“ und „böse“ einzuteilen, geschweige denn sie gezielt mit der Nahrung zu beeinflussen. Zumal sich eine gesunde Darmflora vehement gegen Neuankömmlinge wehrt. Deswegen können sich die probiotischen Keime aus den Joghurts nicht dauerhaft im Darm ansiedeln. Das heißt, wenn sie überhaupt wirken, dann nur „auf der Durchreise“. Unter Marketinggesichtspunkten ist das gar nicht schlecht, denn es bedeutet, dass die Produkte täglich verzehrt werden müssen.

Doch selbst auf ihrem Weg durch den Körper scheinen sich die probiotischen Keime nicht viel um die Gesundheitsversprechen der Hersteller zu scheren: Bislang gibt es nur eine nachgewiesene Wirkung: Bestimmte, virusbedingte Durchfallerkrankungen bei Kindern lassen sich durch bestimmte Probiotika um etwa einen Tag verkürzen. Bei allen anderen bisher getesteten Wirkungen versagten die Probiotika weitgehend: Sie verhinderten weder Allergien, noch konnten sie den Cholesterinspiegel senken. Da halfen auch präbiotische Zusätze nichts. Im Gegenteil: Das für den Menschen unverdauliche Bakterienfutter, meist aus Resten der Soja-, Zichorien- und Artischockenverarbeitung hergestellt, führte bei vielen zu Blähungen, Völlegefühl und Durchfällen.

Es gibt sogar Hinweise darauf, dass probiotische Bakterien die körpereigene Darmflora schädigen. Für die Chefärztin des Wiener Hanusch-Krankenhauses Elisabeth Pittermann war damit das Maß voll: Sie verbannte probiotische Produkte aus der Krankenhausküche. Verzicht übte auch die Andechser Bio-Molkerei Scheitz. Sie stellte ihre probiotische Linie aufgrund der unklaren Datenlage wieder ein. Von alledem hört der gesundheitsbewusste Verbraucher nichts. Auch nicht darüber, dass Probiotika in der Tierhaltung als „natürliche“ Masthilfsmittel getestet wurden. Zumindest bei Ferkeln verliefen die Tests erfolgreich: Sie nahmen ebenso gut zu wie mit Antibiotika.

Müssen sich die Probiotika-Konsumenten jetzt Sorgen um ihre Gesundheit machen? Vermutlich nicht, denn als man in der Schweiz handelsübliche Joghurts untersuchte, zeigte sich, dass sie meist viel zu wenig probiotische Bakterien enthielten, um eine Wirkung zu erzielen: Die kleinen „Lebenshilfen“ hatten zum Zeitpunkt des Verzehrs längst das Zeitliche gesegnet.

ACE-Getränke: mehr als saftig

Nicht nur der übliche Joghurt, auch der gute alte Apfelsaft hat offenbar ausgedient. Heute gibt es regelrechte „Multifunktionssäfte“: Angereichert mit Ballaststoffen regen sie die Verdauung an, Polyphenole aus grünem Tee versprechen dem Safttrinker die Gesundheit traditionell lebender Japaner. Sogenannte ACE-Getränke sollen freie Radikale fangen; so heißen aggressive Substanzen, die unter anderem für Herzinfarkt, Krebs und das Altern verantwortlich gemacht werden. Stoffe, die freie Radikale abfangen, werden als Antioxidantien bezeichnet. Diese Fähigkeit besitzen zwar sehr viele Substanzen, doch gilt das Interesse der Ernährungswirtschaft vorrangig den antioxidativ wirkenden Vitaminen A, C und E. Da es für den Zusatz von Vitamin A Obergrenzen gibt, wird stattdessen seine Vorstufe Beta-Carotin verwendet.

In hohen Dosen erwies sich genau dieses Beta-Carotin bei Gesunden als nutzlos und bei Rauchern als schädlich. Es erhöhte die Zahl der Lungenkrebsfälle und die Herzinfarktrate. Der Wissenschaftliche Lebensmittelausschuss der EU widerrief daraufhin den als akzeptabel geltenden Wert für die täglich Aufnahme (300 Milligramm bei 60 Kilo Körpergewicht). Die rund 2 Milligramm pro Tag, die wir mit herkömmlichen Lebensmittelzusätzen (E160b) aufnehmen, hält die EU weiterhin für unbedenklich. Das Bundesamt für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin (BgVV) in Berlin forderte die Lebensmittelhersteller im Januar 2001 auf, kein isoliertes Beta-Carotin mehr für funktionelle Lebensmittel und Nahrungsergänzungsmittel zu verwenden. ACE-Getränke können bis zu 36 Milligramm Beta-Carotin pro Liter enthalten.

Wer vitamin- und antioxidantienreich essen möchte, kann getrost bei Obst und Gemüse, Fisch, Fleisch, Käse, Brot, Kakao, Tee, Kaffee, Schokolade und Wein bleiben. Unsere herkömmlichen Lebensmittel reichen aus, um den Bedarf an Vitaminen, Antioxidantien und anderen „bioaktiven Pflanzenstoffen“ zu decken. Gleichzeitig ist es äußerst schwierig, sich damit eine Überdosis zuzuführen.

Margarine für‘s Herz?

Aber vielleicht können wir mit „funktioneller“ Margarine unser Herz vor dem Infarkt schützen? Um es kurz zu machen: Die Margarine ist bis heute den Beweis dafür schuldig geblieben. Da hilft es auch nicht, dass die Kunstbutter nun noch „gesünder“ werden soll: Der neueste Schrei unter den Functional Foods sind Margarinen, die mit pflanzlichen Sterinen angereichert sind. Indem sie die Aufnahme von Cholesterin im Darm verringern, sollen sie nach Berechnungen von Unilever 20 Prozent der Infarkte vermeiden.

Vorreiter waren Finnland (Benecol) und die USA (Take Control). Benecol von der Raisio-Gruppe wurde gar als „größter Beitrag der finnischen Wälder zum gelungenen Frühstück seit der Erfindung des Holzbrettchens“ gewürdigt. Der Grund: Rohstoff für die Gewinnung der pflanzlichen Sterole sind Kiefernspäne – um es vornehm auszudrücken. Genauer betrachtet handelt es sich um zähflüssiges, übelriechendes Tallöl, ein Abfallprodukt der skandinavischen Papierindustrie. Bisher wurde es für Asphalt, Lacke und Leime verwendet, jetzt soll es die Margarine gesundheitlich aufwerten.

Unilever in Deutschland setzt für seine neue „ProAktiv“-Margarine auf Extrakte aus Sojabohnen. Sojaöl ist der wichtigste Grundstoff für Margarine. Bei seiner Raffination werden Begleitstoffe wie die Sterole entfernt, weil sie den technischen Ablauf stören. Nun werden die einstigen „Abfälle“ werbewirksam wieder zugesetzt: als teure funktionale Additive für den gesundheitlichen „Zusatznutzen“.

Tatsächlich sind diese Margarinen in der Lage, den als ungünstig geltenden LDL-Cholesterinspiegel zu senken: 10 Prozent und mehr wurden in klinischen Studien erreicht. Ob durch diese Risikofaktor-Kosmetik tatsächlich die Zahl der Infarkte sinkt oder Menschen länger leben, ist damit allerdings nicht gesagt. Die endgültige Antwort werden wir erst kennen, wenn Hunderttausende über viele Jahre das Kunstfett verspeist haben. Angesichts der fehlenden Erfolge bisher üblicher cholesterinsenkender Diäten darf an den Unilever-Prognosen gezweifelt werden.

Omega statt Beta?

Gibt es denn gar kein Produkt, das uneingeschränkt empfehlenswert wäre? Wie sieht es mit den so genannten Omega-Broten und -Eiern aus, die bestimmte Fischöle bzw. Fettsäuren aus Fisch enthalten. Diese Fettsäuren (DHA und EPA) konnten bei Menschen mit koronarer Herzkrankheit oder einem bereits überstandenen Infarkt das Risiko eines (weiteren) Infarktes tatsächlich reduzieren und die Lebenserwartung steigern. Das funktionierte allerdings auch mit Nüssen und Rapsöl und natürlich mit dem Verzehr von fettem Fisch, also mit ganz normalen Lebensmitteln ohne „funktionales“ Image. Ungeklärt ist übrigens noch, ob auch Gesunde davon profitieren, die nützlichen Fisch-Fettsäuren in Form von Omega-Broten oder -Eiern zu essen.

Juristisch fragwürdig

Das Kurioseste an Functional Foods ist nicht, dass kaum eine der versprochenen Wirkungen belegt ist, sondern dass die Industrie gar kein Interesse daran haben dürfte, die Nachweise zu erbringen. Denn würden die Produkte halten, was die Werbung suggeriert, wären sie apothekenpflichtige Arzneimittel, die umfangreich geprüft und zugelassen werden müssten. Eine nachgewiesene therapeutische Wirkung wäre jedoch das Ende des Verkaufs im Supermarkt. Da investieren die Hersteller lieber in Werbekampagnen – und der Erfolg in den Supermarktregalen gibt ihnen im Grunde recht.

Was tun?

Wer gelegentlich zu Functional Foods greift, braucht sich keine Sorgen zu machen: Ein gesunder Körper hält viel aus. Doch im Grunde brauchen wir diese „neuen Lebensmittel“ nicht. Bei allergenarmem Reis, wie er gerade in Japan entwickelt wird, oder bei vitaminierten Lebensmitteln für Länder mit unzureichender Ernährung sieht die Bewertung sicher völlig anders aus. Auch für bestimmte Zielgruppen wie unterernährte Menschen oder Senioren mit Appetit- und Kaustörungen wären speziell auf diese Bedürfnisse angepasste Lebensmittel wünschenswert. Die unterliegen jedoch der Diät-Verordnung, die spezifische Kriterien vorgibt. Für überernährte Wohlstandsbürger sind Functional Foods eher als Marketingerfolg denn als Fortschritt für die Volksgesundheit einzustufen.

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