01.07.2007

Die Kinder sind gesund

Analyse von Thilo Spahl

„Sorgt ihr euch noch, oder lebt ihr schon?

Man sorgt sich um die Kinder. Nicht unbedingt um die eigenen, aber so im Allgemeinen. Besonders um die armen. Nicht weil sie arm sind, nicht weil sie krank sind. Weil sie nicht so leben, wie sie leben sollten. Das Gewicht stimmt oft nicht. Der Fernseher läuft zu viel. Sie bekommen nicht zu essen, was die gute Mutter kocht, sondern stattdessen Fast Food.

Seit mindestens zehn Jahren hören wir mit großer Regelmäßigkeit Forderungen, nicht nur den Planeten für unsere Kinder zu retten, sondern ein bisschen auch unsere Kinder vor dem eigenen Verfall, sprich, der Verfettung samt daraus resultierenden multimorbiden Neigungen, und, wenn es nach den lautesten Rufern ginge, dem Durchstarten auf der Überholspur, vorbei an den eigenen Eltern, hinein in den vorzeitigen Tod. Der englische Vorsitzende des nationalen Adipositas-Forums, Colin Wayne, hat es vorgesagt: „We are in danger of raising a generation of people who have a shorter life expectancy than their parents.“ [1] Und die deutsche kinderlose Übermutter Renate Künast hat es nachgeplappert: „Erstmals sterben fettleibige Kinder früher als ihre Eltern, weil sie noch vor dem Erreichen der Volljährigkeit ihre Körper verschlissen haben.“ [2]
Aber einfach nur so an die Wand malen geht eben auch nicht. Deshalb wurde untersucht, wie es um die Gesundheit unserer Kinder wirklich bestellt ist. Im Maiheft des Bundesgesundheitsblattes des Jahres 2002 erschien der Artikel „Die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – was wir wissen, was wir nicht wissen und was wir wissen werden.“ Fünf Jahre später haben wir nun das Mai/Juni-Heft 2007 vorliegen, in dem die Ergebnisse des in den Jahren 2003 bis 2006 durchgeführten Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) in 43 Einzelbeiträgen vorgestellt werden. Hintergrund für diese erste repräsentative Erhebung war nicht nur reines Erkenntnisinteresse. „Der zentrale Ausgangspunkt für den Kinder- und Jugendgesundheitssurvey war also die Forderung: Daten für Taten!“ schreibt Ute Thyen, Professorin für Kinder- und Jugendmedizin aus Lübeck im Editorial. [3] Es gehe darum, „evidenzbasierte Strategien in der Gesundheitsplanung“ zu entwickeln. Denn es wird ja schon lange vermutet, mit der Gesundheit der Kleinen gehe es in epidemischen Lawinen bergab.

„Von den Kindern, die bei KiGGS gemessen und gewogen wurden, waren 15 Prozent so dick wie die dicksten 10 Prozent der nicht so genau identifzierbaren Kinder, mit denen sie verglichen wurden. Alles klar?“

Du sollst gesund leben!

Die positive Botschaft. Es geht im Gesundheitssurvey nicht um Krankheit. Krank sind Kinder natürlich dann und wann, aber selten so, dass man sich sorgen müsste. Nur ein einziger Beitrag [4] beschäftigt sich mit Krankheiten im klassischen Sinne, also Erkältung, Angina, Bronchitis, Bindehautentzündung, Masern usw. In den anderen geht es um Tabak-, Alkohol- und Drogenkonsum, Lebensmittelverzehr, Gestilltwerden, körperlich-sportliche Aktivität, Nutzung elektronischer Medien, Mundgesundheitsverhalten, Körpermaße, Einflüsse während der Schwangerschaft, sexuelle Reifung, Allergien, Schmerzen, Verletzungen, Übergewicht, Jodversorgung, Durchimpfung, motorische Leistungsfähigkeit, Verhaltensauffälligkeiten, Essstörungen, „Risiken und Ressourcen für die psychische Entwicklung“, Lebensqualität, Gewalterfahrungen und Arzneimittelanwendung.
Vorwiegend also um Dinge, die wir mit Vorstellungen vom gesunden Leben verbinden, also alles, von dem weithin angenommen wird, dass es „gesund“ oder „ungesund“, präziser müsste man sagen, „der Gesundheit zu- bzw. abträglich“ sei.
Wie gesund leben also unsere Kinder? Jedenfalls so gesund, dass die oben genannten Zitate Unsinn sind, präziser gesagt: keine empirische Grundlage haben.
Im Großen und Ganzen hat KiGGS gezeigt, dass es den allermeisten Kindern gesundheitlich gut geht. Es geht ihnen gut. Aber so manches entspricht nicht den Wunschvorstellungen. Nach wie vor verzichten Jugendliche weder auf Alkohol noch aufs Rauchen oder auf Drogen, und sie essen nicht streng nach den Empfehlungen der deutschen Gesellschaft für Ernährung. Sie treiben nicht im vorgeschriebenen Maße Sport, sie putzen sich nicht alle dreimal täglich die Zähne, sie haben nicht alle Idealgewicht. Alles nicht weiter spektakulär.
Der KiGGS liefert keine neuen Daten für neue Taten. Es ist absehbar, dass die Politik auch nach KiGGS die Maßnahmen fördern wird, die dazu beitragen sollen, dass weniger Kinder zu dick oder zu dünn sind, weniger Drogen nehmen und trinken, mehr Sport getrieben wird, fünf Stück Obst und Gemüse am Tag und Hamburger und Pommes nur alle Jubeljahre einmal gegessen werden, die Glotze nicht ständig läuft, die Kinder sich im Schulhof nicht prügeln, möglichst nach jeder Mahlzeit die Zähne putzen usw.
Und dank KiGGS können sie dann in fünf oder zehn Jahren messen, wie sich das Gesundheitsverhalten, Größe, Gewicht usw. geändert haben. Was KiGGS nicht konnte, ist festzustellen, wie sich das alles in den letzten 10 oder 20 oder 30 Jahren verändert hat. Denn das war ja gerade der Hauptgrund für KiGGS, dass es bisher keine repräsentativen Daten für die meisten der erfassten Merkmale gab und alle Behauptungen, unsere Kinder würden immer dicker, fauler und kränker, nicht wirklich zu belegen waren. Nichts Genaues weiß man nicht.

„Der Zusammenhang zwischen Gewicht und Gesundheit ist nach wie vor sehr umstritten.“

Dicke Kinder

Aber da und dort wurde natürlich auch in der Vergangenheit gemessen und gewogen. Besonders, wenn es um vermeintlich so schwerwiegende Probleme, sprich Übergewicht, geht. Deshalb kann sich auch der KiGGS nicht den Erwartungen entziehen und vermeldet, dass der Anteil der übergewichtigen Kinder sich im Vergleich zum Zeitraum 1985–1998 um rund die Hälfte von 10 auf 15 Prozent erhöht habe, davon seien 8,7 Prozent übergewichtig und 6,3 adipös. [5] Vergleicht man diese Zahlen mit der 2004 von Renate Künast verbreiteten Behauptung, sage und schreibe 42 Prozent der Zehn- bis Elfjährigen seien übergewichtig, oder den ebenfalls in 2004 im „Childhood Obesity Report“[6] von der WHO behaupteten 24 Prozent übergewichtiger Kinder, so kann man entweder schlussfolgern, dass die Zahl der dicken Kinder seit 2004 wieder drastisch zurückgegangen ist, oder dass man nicht jeder Zahl zu trauen braucht.
Nun ist es interessant zu wissen, wie man bestimmt, ob ein Kind übergewichtig ist. Das Verfahren geht so: Man nimmt eine sogenannte „Referenzpopulation“, also eine bestimmte Gruppe von Kindern zu einer bestimmten Zeit. Man misst, wie groß und wie schwer die Kinder sind, und errechnet den Body Mass Index nach der Formel „Gewicht geteilt durch Größe zum Quadrat“ (ein sechsjähriger Junge, der 1,24 m groß ist und 22 kg wiegt, hat demnach einen BMI von 14,3). Dann definiert man die zehn Prozent mit den höchsten BMIs als übergewichtig und die drei Prozent mit den allerhöchsten als fettsüchtig (adipös). So hat man für jede Altersgruppe sozusagen zwei Grenzwerte. Es handelt sich um rein statistisch ermittelte Festlegungen, die den Ist-Zustand einer bestimmten Gruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt beschreiben. Zumindest theoretisch. Für die deutschen Grenzwerte lassen sich nämlich weder Gruppe noch Zeitpunkt klar eingrenzen. „Für Deutschland mussten die Referenzwerte in Ermangelung repräsentativer Daten auf der Grundlage von Körpergrößen- und Gewichtsmessungen bestimmt werden, die zwischen 1985 und 1998 in verschiedenen Regionen Deutschlands in unterschiedlichen Altersgruppen bei unterschiedlichen Stichprobenumfängen, mit verschiedenen Methoden und zu verschiedenen Zwecken erhoben wurden.“ [5]
Insofern kann man nur sagen: Von den Kindern, die bei KiGGS gemessen und gewogen wurden, waren 15 Prozent so dick wie die dicksten 10 Prozent der nicht so genau identifzierbaren Kinder, mit denen sie verglichen wurden. Das ist alles etwas vage. Es ist dennoch plausibel, dass es in den letzten beiden Jahrzehnten eine Tendenz hin zu mehr übergewichtigen Kindern und Jugendlichen gab. Die Prozentzahlen sind indes beliebig. Man könnte ja ebenso gut sagen: Wir nehmen die KiGGS-Studie als Referenz. Dann hätten wir eben im Jahr 2006 zehn Prozent übergewichtige Kinder. Oder man könnte die Kinder in drei Gruppen teilen: ein Drittel unter-, ein Drittel normal- und ein Drittel übergewichtig. Alles eine Frage der Definition. So teilt uns auch die Autorin des Kapitels zu Übergewicht mit, dass die Frage, welches Referenzsystem zur Definition von Übergewicht genutzt werden soll, noch offen sei, und fragt nicht ohne Grund: „Gibt es eventuell auch die Möglichkeit einer Definition von Übergewicht und Adipositas, die mehr als nur statistischer Natur ist und das Risiko für gesundheitliche Folgeschäden mit einbezieht?“ [5] Diesen Gedanken sollte man meiner Meinung nach weiterverfolgen. Solche Fragen sind zum Beispiel interessant, wenn man sich einen Kampagnennamen ausdenken muss. Vielleicht wäre ja auch statt „fit statt fett“, „dick und fit“ ganz geeignet, oder „schlau und gesund!“, oder „dick, aber oho!“ oder doch wieder das altbewährte „groß und stark!“, wie man es Kindern früher gemeinhin wünschte.
Welche Zusammenhänge es zwischen Gewicht und Gesundheit gibt, ist indes nach wie vor sehr umstritten. Und damit ist völlig unklar, ob wir uns nun um 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen sorgen sollen, oder um 6,3 Prozent oder vielleicht nur um die 0,2 Prozent der Jungen und 1,4 Prozent der Mädchen, die eine sogenannte androide Fettverteilung haben, also eine Konzentration von Fett am Bauch, die bei Erwachsenen inzwischen als wesentlicher Risikofaktor für eine Reihe von Krankheiten gilt. [7]

„Abnehmen per Diät ist, empirisch gesehen, langfristig praktisch ein Ding der Unmöglichkeit.“

Woher kommen die Extrapfunde? Wie gefährlich sind sie?

Für viele Politiker, aber auch Ärzte und zunehmend besorgte Eltern und verunsicherte Kinder, scheint felsenfest zu stehen: Übergewicht hat vor allem mit falscher Ernährung und mangelnder Bewegung zu tun. Wer (per Definition, die kaum einer genau kennt) übergewichtig ist, muss sich um seine Gesundheit sorgen.
Beides ist wissenschaftlich keinesfalls erwiesen. Es stimmt weder für Kinder noch für Erwachsene. Ein paar Pfunde rauf und ein paar Pfunde runter, das geht mit Sport und „bewusster“ Ernährung. Wer richtig dick ist und damit tatsächlich gesundheitliche Probleme bekommen kann, hat das größtenteils seiner genetischen Veranlagung zu verdanken. Der größte Risikofaktor für Adipositas sind schwergewichtige leibliche Eltern. Zwischen dem Gewicht von Kindern und ihren Adoptiveltern gibt es hingegen keinen Zusammenhang! Bei der Liste der Risikofaktoren für Übergewicht sind Ernährung und Bewegung nur zwei unter vielen. In KiGGS werden genannt: „Elterliches Übergewicht, hohes Geburtsgewicht, wenig Schlaf, wenig körperliche Aktivität, lange Zeiten vor Computer und Fernseher, Rauchen der Mutter in der Schwangerschaft, zu kalorienreiche Ernährung, psychische Faktoren.“ [5]
Abnehmen per Diät ist, empirisch gesehen, langfristig praktisch ein Ding der Unmöglichkeit. Der Jo-Jo-Effekt ist außerordentlich gut belegt. Übergewicht ist also kaum „therapierbar“. Da kann man von Glück sagen, dass moderates Übergewicht (unterhalb der Grenze zur Adipositas) das Sterberisiko in allen Altersgruppen nicht erhöht, sondern senkt. [8]
Übergewicht kann jedoch tatsächlich Leid verursachen. Es besteht Grund zur Annahme, dass die Obsession mit dem Körpergewicht und die aggressive Stigmatisierung von übergewichtigen Kindern (als asozial) erheblich zur Zunahme von Essstörungen beitragen. Und laut KiGGS sind diese inzwischen häufiger als nicht normgerechtes Gewicht. Insgesamt 21,9 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland zeigen demnach Symptome einer Essstörung. [9]

Arme Kinder

„Aus Sicht der Autorin ist jedoch die im Sinne von Public Health schwerwiegendste Erkenntnis die, dass Kinder aus sozial benachteiligten Familien nicht nur in einzelnen Bereichen von Gesundheit und Lebensqualität benachteiligt sind, sondern in durchweg allen. Hier findet man eine Häufung von Risikofaktoren, eine Häufung von Unfällen, eine schlechtere gesundheitliche Versorgung und häufiger psychische Auffälligkeiten.“ [10] So die Botschaft von Bärbel Maria Kurth vom Robert Koch-Institut, der Leiterin der KiGGS-Studie.
Mit anderen Worten: Arme Kinder sind schlechter dran. Diese Erkenntnis kann so neu nicht sein. Einem Erwachsenengesundheitssurvey dürfte es leicht fallen herauszufinden, dass auch arme Erwachsene gesundheitstechnisch suboptimal aufgestellt sind. Das Ergebnis könnte man zum Anlass für eine neue Kampagne nehmen. Slogan: „Lieber reich und gesund als arm und krank!“ Ich bitte darum, das ernst zu nehmen. Welcher Politiker traut sich?

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