01.05.2000

Die Grünen im Strudel der Inhaltslosigkeit

Analyse von Matthias Heitmann

Man könnte meinen, dass die Grünen aus den Affären der großen Parteien als strahlende Saubermänner hervorgingen. Doch die Ökopartei kann die Situation nur wenig nutzen und im eigenen Ideenvakuum nach Luft schnappt.

Selten ist ein runder Geburtstag einer Regierungspartei so vollständig unter den Teppich gekehrt worden wie der 20. der Grünen. Überraschend war das grüne Selbstbeschweigen freilich nicht – Gründe zum Feiern sind Mangelware: Mit 20 hat man eigentlich noch Träume. Die Grünen hingegen, einst angetreten, um mit frischem Wind die politische Landschaft aufzumischen, leiden unter akuter politischer Vergreisung. Auch die fortgesetzte Nabelschau fördert nichts Beglückendes zutage. Was bleibt, ist die Fähigkeit zu moralischer Entrüstung ob der vermeintlichen Verfehlungen Anderer. Diese wird kultiviert in der Hoffnung, darüber ein neues Profil entwickeln sowie den eigenen Sturzflug abfedern zu können. Kein Wunder also, dass sich grüne Politiker wie Hyänen auf alles stürzen, was “Affäre” und “Skandal” genannt wird.

Die Performance von Bündnis 90 / Die Grünen der letzten Monate offenbart das Ausmaß der politischen Sklerose, die die Partei spätestens seit der Regierungsübernahme der rot-grünen Koalition im Herbst 1998 befallen hat. Als schrumpfender Mehrheitsbeschaffer in die Regierung gehievt, deutete sich schon früh an, dass es die einstige Ökopartei schwer haben werde, ihr politisches Profil zu wahren. Die anfänglichen Zwistigkeiten um die Person Jürgen Trittins erscheinen rückblickend fast wie ein letztes politisches Aufflackern der Bündnisgrünen.
Nach anderthalb Jahren in Regierungsverantwortung ist die Bilanz aus grüner Sicht ernüchternd: Die Bank, auf die der Atomausstieg – einst gemeinsamer Nenner und “Gründungsauftrag” der grünen Partei – geschoben wurde, ist so lang, dass nur wenige der grünen Gründungsveteranen selbst noch ihr Ende sehen werden. Stattdessen hat die Partei ihren Frieden mit dem “gerechten Krieg” im Kosovo gemacht. Aber auch dies hauchte der Partei kein neues Leben ein: In Ostdeutschland ist sie eine Splitterpartei, und im Westen – wie zuletzt in Schleswig-Holstein – wenden sich insbesondere die jüngeren Wähler scharenweise ab.

“Die anfänglichen Zwistigkeiten um die Person Jürgen Trittins erscheinen rückblickend fast wie ein letztes politisches Aufflackern der Bündnisgrünen”

Inzwischen haben sich die Grünen als eine Partei mit Programmatik und Zielen von der politischen Bühne verabschiedet. Sei es bei der Beerdigung des Transrapids, der Einführung der Öko-Steuer oder in der Frauenpolitik – die Bedeutung der Umweltpartei zeichnet sich vor allem durch eins aus: ihre Nichtexistenz. Selbst führende Grüne sind sich dessen bewusst: Die (designierte) Parteisprecherin Renate Künast verortet ihre Partei irgendwo “zwischen Baum und Borke” und fordert, es müsse der Partei darum gehen, “wieder eine Vorreiterrolle in der Gesellschaft zu übernehmen” (taz, 7.3.00).
Dass die Grünen überhaupt noch in den Schlagzeilen zu finden sind, haben sie ihrem ausgeprägten Hang zur Selbstinszenierung zu verdanken. Doch selbst Parteitage, die immer für den einen oder anderen Farbbeutel gut waren, leiden heute unter ihrer Inhaltsleere. Die jüngste Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90 /Die Grünen im März 2000 offenbarte eine erstaunliche Lethargie. Von führenden grünen Persönlichkeiten sowie in Teilen der Medien als Prozess des Erwachsenwerdens einer Protestpartei gepriesen, kann die Gelassenheit, mit der die grüne Basis die fortgesetzten Häutungen ihrer Partei mit- und erträgt, auch als schwindende Lebendigkeit gesehen werden.
Die jüngste Debatte über die Trennung von Amt und Mandat legte dies schonungslos offen: Wurde hier früher mit grundsätzlichen und politischen Argumenten gestritten, ist heute der Blick nach außen gerichtet, dahin, wo sich noch etwas regt: Die Skandale der anderen Parteien seien eine Mahnung, nicht zu einer normalen Partei zu werden und daher eine Ämter- und Machtanhäufung zu vermeiden, sagten die einen. Die Entstehung informeller Strukturen wie in der CDU verhindern und deshalb kontrollierbare Machtverhältnisse etablieren wollten die anderen. Vertrauen in die eigene inhaltliche und personelle Stärke sieht anders aus. Bei den Grünen ist Misstrauen Trumpf, auch gegen sich selbst. Eckart Lohse kommentierte dies tags darauf in der FAZ treffend: “Nach stundenlanger Antragsschlacht wurde beschlossen, dass auch künftig dubiose Personen wie Landtags- oder Bundestagsabgeordnete, allemal Minister, nicht das edle Amt eines Parteivorsitzenden der Grünen einnehmen dürfen.” In dieser Gemengelage über kontroverse Inhalte zu streiten hieße da nur, ein neues Fass aufzumachen. So einigte sich der Parteitag letztlich darauf, Regierungspartei bleiben zu wollen. Zu einer konstruktiven oder gar kontroversen inhaltlichen Debatte scheinen die Grünen kaum noch in der Lage zu sein – auch in dieser Hinsicht ist die Partei in der tristen Wirklichkeit der deutschen Parteienlandschaft angekommen.

Das politische Ableben der Grünen wurde auch in der Debatte über den “CDU-Spendenskandal” sichtbar. So rief Außenminister Joschka Fischer zu Beginn des Jahres seine Parteifreunde in Schleswig-Holstein dazu auf, sich angesichts der prekären Lage der Landespartei im Landtagswahlkampf ausschließlich auf das “System Kohl” und den “Kohl-Zögling” Volker Rühe einzuschießen. In Anbetracht der inhaltlichen Stagnation fiel dies den Wahlkämpfern nicht schwer. Das hysterische Sich-Ereifern einzelner grüner Protagonisten sowie der Wettstreit um die maßloseste Vorverurteilung und Verleumdung offenbarten den Grad der Entpolitisierung und Moralisierung der “politischen” Kultur. Fischers Parteitagsappell an die eigene Basis, nun den Kampf gegen Jörg Haider stärker in den Mittelpunkt der eigenen Politik zu rücken, passt gut zu einer Partei, die jenseits ihres Empörungskultes wenig Aufregendes zu bieten hat. Tatsächlich ist inhaltlich von den Grünen als Partei sowie ihrem Frontpersonal wenig zu hören. Nicht zu Unrecht kritisierte Daniel Cohn-Bendit unlängst das Schweigen Fischers, Antje Vollmers, Jürgen Trittins und Konsorten zum CDU-Skandal und stellte fest, “ein Beitrag von intellektuellem oder gar politischem Gewicht war nicht zu vernehmen.” Nicht wenige Grüne sehen das ähnlich. Polemik und Emotionalität regieren, und diese lassen sich nur schwer in parteipolitischen und programmatischen Papieren zum Ausdruck bringen. Der Mangel an inspirierenden Politikkonzepten konnte auf dem Parteitag auch nicht durch das patzige Anschreien des Plenums kompensiert werden. Anstatt zu kritisieren und zu unken solle die Partei endlich ein “lustvolles Verhältnis” zu den eigenen Erfolgen und zum Regieren entwickeln, forderte Rezzo Schlauch, und auch Gunda Röstel wunderte sich, wo denn “der Beifall für unsere Erfolge” bleibe.

“Ein Beitrag von intellektuellem oder gar politischem Gewicht war nicht zu vernehmen”

In der politischen Sendepause der CDU-Spendenaffäre schlug die Stunde der Wadenbeißer aus der zweiten Funktionärsriege. Selbsterklärte Moralapostel wie Rezzo Schlauch, Angelika Beer oder Renate Künast eilten von Interview zu Talkshow und profilierten sich als die neue Riege grüner Saubermänner. Verbalradikalität war wieder en vogue, das “System Kohl” wurde als “Hort organisierter Kriminalität” und als “Verbrechersyndikat” bezeichnet. Dabei kannten Erregtheit und Naivität keine Grenzen: So wunderte sich Künast am 19.12.1999 öffentlich-rechtlich bei Sabine Christiansen, wie es sein könne, “dass Spenden aus der Wirtschaft nicht an alle Parteien gingen” (zur Erinnerung: Parteien sind als solche parteiisch und müssen daher nicht von jedem als unterstützenswert erachtet werden). Zwei Wochen später nutzte der baden-württembergische Fraktionschef der Grünen, Fritz Kuhn, dieselbe Bühne zu der Aussage, die “innere Verfasstheit” der CDU sei “verfassungswidrig” und damit “die ganze Demokratie gefährdet”. So einfach geht das. Dass sowohl Künast als auch Kuhn als “Hoffnungsträger” gehandelt wurden, sagt alles über den Zustand der Regierungspartei. Über das Niveau von Talkshows gehen die “inhaltlichen” Beiträge kaum noch hinaus. Auch im Bundestag ist man auf diesem Niveau angekommen: Rezzo Schlauch nutzte seinen dortigen Auftritt am 20. Januar, um sich als Saubermann erster Klasse ins Rampenlicht zu spielen. Der Spendenskandal sei nur “die vorläufige Endmoräne politischer Verwerfungen, ausgehend vom Jahre 1954”. Auch auf Länderebene sieht es kaum besser aus: Rupert von Plottnitz kritisierte die hessische CDU, die Wählerinnen und Wähler in Hessen “jahrelang belogen und betrogen” zu haben, vergaß aber wohl im Eifer des Gefechts, dass nicht die CDU in Hessen die letzten Jahre auf der Regierungsbank zubrachte, sondern er selbst.

Was hier wie ein altbekanntes Ritual erscheint, nämlich als das Hochstilisieren und Auswalzen so genannter Skandale, erlangt angesichts der politischen Erosion aller beteiligten Akteure eine ungeahnte Vehemenz und Impertinenz. Obwohl die Bündnisgrünen bislang aus den politischen Verwerfungen der letzten Monate keinen Profit ziehen konnten, erscheint die fortgesetzte Empörung dennoch als einziger Ausweg, die eigene Lähmung zu kompensieren und ein Profil vorzutäuschen. Ein Zurück zu einer rationalen Sachpolitik fällt gerade den Grünen schwer. Die fortgesetzte politische Zerstörungswut erscheint als das einzige Mittel, um weiter im Gespräch zu bleiben. Paradoxerweise hilft den Grünen hierbei gerade ihre bislang eher hinderliche Verwurzelung in der einstigen Sponti- und APO-Szene: Tatsächlich werden heute in allen Parteien Stimmen laut, die die Reform des politischen Systems nach den Maßgaben “ur-grüner Programmatik” fordern: Die neue CDU gibt sich “antipatriarchal” und “basisdemokratisch”, SPD-Altvordere wie Hans-Jochen Vogel fordern Plebiszite auf Bundesebene, und Freidemokraten wie Guido Westerwelle reden einer “Inventur des politischen Systems” das Wort. Was sich inmitten des Parteispendenskandals den Weg bahnt, ist jedoch nicht ein Revival grün-alternativer Politikansätze. Vielmehr tritt heute die eigentliche Grundsubstanz grüner Ideologie an den Tag: das grundsätzliche Misstrauen gegenüber den Wählern und ihren Wahlentscheidungen. Anders ist die Forderung nach gesetzlicher Begrenzung von Amtszeiten gewählter Funktionäre kaum nachzuvollziehen. Offenkundig will man das Schicksal der Politik nicht mehr ausschließlich in Wählerhände legen. Bei den Grünen wird auch die eigene Basis gering geschätzt: So beschrieb die Vorzeige-Grüne Antje Vollmer am Rande des Parteitages in einem Interview die eigene Parteibasis lediglich als “Parteischule”, in der Funktionäre trainiert würden. Angesichts einer derartigen Einstellung gegenüber den eigenen Parteigängern erscheint deren Misstrauen gegen die eigene Führung verständlich.

Auch die scheinbar “demokratische” Forderung nach Volksentscheiden ist eher Ausdruck des Verdrusses über ein System, in dem die Bürger per Wahl über grundlegende komplexe Politikkonzepte und nicht über einzelne Projekte entscheiden (siehe hierzu den Artikel von Sabine Beppler in diesem Heft). Dass die Abkehr von den Instrumenten der repräsentativen Demokratie heute bis tief in die etablierten Parteien hinein diskutiert wird, ist kein Phänomen, auf das man stolz sein sollte. Hier offenbart sich das Dilemma der Parteien: Sie fallen allesamt der von ihnen selbst betriebenen Skandalisierung und moralisierenden Selbstzerstörung der Politik zum Opfer. Ein Zurück gibt es nicht, auch nicht für die Grünen.

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