01.04.2001

Die Gesellschaft hat sich von ihrer Zukunft abgewandt

Essay von Frank Furedi

Menschenbild und gesellschaftliche Visionen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten zum Negativen gewandelt. Es ist Zeit für eine neue Aufklärung und eine Wiederbelebung der Politik im 21. Jahrhundert.

Die Politik ist sprachlos. In den Medien wird nach wie vor über Parteipolitik debattiert, obwohl mittlerweile den meisten klar ist, dass die Parteien von heute kaum noch etwas mit den Organisationen verbindet, die zuvor einhundert Jahre lang die politische Landschaft beherrschten. Die Mitgliedschaft der Parteien zerbröselt. Viele Noch-Mitglieder haben schon längst vergessen, dass sie einer Partei angehören; die Mehrzahl der Mitglieder sind Karteileichen. Häufig wird auch noch über die Stammwähler einzelner Parteien diskutiert. Die Parteifunktionäre versuchen, diese schwer fassbare Gruppe um jeden Preis bei der Stange zu halten. Ihnen ist entgangen, dass der Stammwähler, nach langer, schwerer Krankheit, irgendwann in den 80er Jahren das Zeitliche gesegnet hat.

Auch der Begriff des ”Wahlvolks” ist heute alles andere als klar. Die Wählerschaft ist zu einer stark fluktuierenden, vagen demografischen Kategorie geworden, die wenig besagt. Die Mehrheit des Wahlvolks wählt selten, wenn überhaupt. Der präsente Begriff ”Politikverdrossenheit” ist dabei noch eine saftige Untertreibung. Immer einmal wieder werden Pläne vom Stapel gelassen, die der Wahlmüdigkeit abhelfen sollen, z.B. verlängerte Öffnungszeiten der Wahllokale oder E-Elections. All dies stellt aber keine Lösung dar – im Gegenteil, hinter solchen Parolen verschwindet die eigentliche Bedeutung der Wahl vollends im Treibsand technischer Details. Wahlen sind heute wenig mehr als ein Ritual, das dazu dient, die kaum jemandem noch wirklich greifbare Tatsache zu zelebrieren, dass es so etwas wie demokratische Mitbestimmung gibt. Das Parlament selbst steht völlig im Abseits. Die Regierenden können mit ihm fast so wenig anfangen wie die Mehrheit der Bevölkerung, und auch die Abgeordneten selbst wissen oft nicht so recht, was der Zirkus noch soll. Viele sehen sich heute in erste Linie als eine Art Stadtrat, als Vertreter der Wähler in ihrem Wahlkreis. Die Vorstellung, das Parlament sei ein Forum für die entscheidenden politischen Debatten von nationaler und internationaler Bedeutung, ist eben das: eine Vorstellung.


Wie bedeutungslos das politische Vokabular der Vergangenheit geworden ist, zeigt sich, schaut man sich die Einteilung in Rechts und Links an. Vor längerer Zeit einmal bezeichneten diese Etiketten einen wichtigen Unterschied, nämlich den zwischen den Kräften des Fortschritts und denen der Reaktion. Ganz grob lässt sich sagen, dass die Linke die Gesellschaft verändern wollte und für die Emanzipation der Menschheit kämpfte. Die Rechte hingegen stemmte sich gegen den Wandel und versuchte das zu verteidigen, was sie für traditionelle Werte und Strukturen hielt. Heute hat die Rechte – und es gibt überhaupt nur noch sehr wenige Menschen, die sich als ”rechts” oder ”konservativ” bezeichnen – es aufgegeben, die Tradition zu verteidigen.

“Selbst Fuchsjäger, Privatschulen und Eliteuniversitäten betonen heute, dass sie modern und weltoffen sind.”

Bemerkenswert war in diesem Zusammenhang eine Äußerung des CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz vor dem deutschen Bundestag. Er verbat sich im Zusammenhang mit der Debatte um die ”Leitkultur” energisch die Bezeichnung der Unionsparteien als ”deutsche Konservative”. Die Traditionalisten befinden sich, so es sie überhaupt noch gibt, an allen Fronten auf dem Rückzug, es gibt nur noch ”Parteien der Mitte”. Selbst Fuchsjäger, Privatschulen und Eliteuniversitäten betonen heute, dass sie modern und weltoffen sind. Nicht einmal den Kirchen gelingt es mehr, fundamentale Fragen des Glaubens und der Kirchenordnung im Sinne ihrer Tradition zu erhalten.


So wie aber die Rechte die Tradition nicht mehr verteidigt, hat sich auch die Linke von Wandel und Fortschritt verabschiedet. Diejenigen, die sich heute noch ”links” nennen, sind fast immer die schärfsten Kritiker des Fortschritts. Experimente, speziell wenn es um Wissenschaft und Technologie geht, sind für sie eine Art Sündenfall. Früher einmal bekämpften Linke jede Form von Aberglauben. Die, die sich heute links nennen, bekreuzigen sich dreimal, wenn sie das Wort ”Hi-Tech” hören – um dann umgehend ihre Stoßgebete per Internet in alle Welt zu schicken.

Die Sprache der Politik hat jede Bedeutung verloren. Die Sprachlosigkeit zeigt, wie tief die Verunsicherung über die Gestaltung der Zukunft ist. Die Gesellschaft ist heute mit sich selbst nicht im Reinen, sie ist verzagt und nimmt deshalb jede Art von Wandel als Zerstörung von Sicherheiten wahr. Gleichermaßen ist die Gesellschaft aber auch von ihrer Vergangenheit abgeschnitten, weshalb keinerlei Konsens darüber herrscht, welche Traditionen und Werte verworfen oder erhalten werden sollen. Diese Gefühlslage findet ihren Ausdruck in Wechselhaftigkeit, Widersprüchlichkeit, Skeptizismus, Relativismus, Zynismus und Anti-Humanismus – allesamt Einstellungen, die Distanziertheit und Passivität ausdrücken. Politisch finden diese Strömungen ihren Ausdruck in einem – nennen wir es – ”Neuen Konservatismus”.


Dieser Neue Konservatismus hat wenig mit seinem historischen Vorläufer gemein. Vom alten unterscheidet er sich am deutlichsten darin, dass er keine Tradition zu verteidigen hat. Auch mit absoluten Werten kann der Neue Konservatismus wenig anfangen. Keines seiner Anliegen ist heilig, statt dessen ist der Neue Konservatismus ständig bereit zum Kompromiss und dazu, sich selbst zu ”modernisieren”. Die Verwurzelung in der Vergangenheit wurde gekappt. An die Stelle der Anti-Fortschritts-Argumente des klassischen Konservatismus ist ein neues, sehr relativistisches Vokabular getreten, das vor allem die im Munde führen, die man traditionell nicht als ”rechts” bezeichnen würde.

“Der Radikalismus von heute ist ein Radikalismus gegen Wandel und Fortschritt.”

Am stimmigsten wird der Neue Konservatismus von denjenigen formuliert, die in den letzten Monaten auf den Straßen Seattles, Washingtons und Prags ”gegen den Kapitalismus” protestierten. Edmund Burke, der Begründer des britischen Konservatismus und Hauptkritiker der Französischen Revolution, hätte an den Slogans und Argumenten der ”Anti-Kapitalisten” von heute viel Gefallen gefunden. Denn der Radikalismus von heute ist ein Radikalismus gegen Wandel und Fortschritt. Die Philosophie der Nachhaltigkeit, die Postulate der Risikotheorie, die Verherrlichung der Natur und der Reinheit alles ”Organischen” bezeichnen samt und sonders ein tief sitzendes Misstrauen gegen jede Art von Veränderung und Fortentwicklung.
Die Demonstranten in Seattle kämpften nicht für die Vision einer von Zwängen freien, selbstbestimmten Menschheit. Sie handelten vielmehr aus Angst vor der Zukunft und aus dem Wunsch, sich in eine mythische Vergangenheit zu verkriechen. Offenkundig fühlen sich die Anti-Kapitalisten von heute einer fernen Vergangenheit, die vorgeblich in Einklang mit der Natur lebte, mehr verbunden als der modernen Welt.


Solange die Gesellschaft so wenig mit Wandel und Fortschritt umgehen kann, wird die Politik in ihrem Winterschlaf verharren. Da sich die Gesellschaft von ihrer Zukunft abgewandt hat, kann sie auch keine Vorstellung mehr davon entwickeln, wie diese Zukunft gestaltet werden soll. Fehlen solche Ideen, wird es auch keine Visionen für die Gestaltung der Zukunft geben – und keine relevanten politischen Entscheidungen. Die Sphäre der Politik bleibt so trostloses Ödland. Lebendig ist Politik nur, wenn es Visionen gibt und die Möglichkeit, sich zwischen konkurrierenden Visionen zu entscheiden. Das Mindeste wäre die Wahl zwischen dem Status quo und dem Wandel. Da heute aber alle Parteien für den Status quo eintreten, gibt es auch nichts zu entscheiden. Mangels Wahlmöglichkeit ist die Politik ein Spiel, in dem Wiedergänger einige Tanzmuster wieder und wieder ablaufen.
Am deutlichsten ist heutzutage der Ideenmangel. Man muss einräumen, dass Tony Blairs New Labour-Partei in Großbritannien diese Ideenlosigkeit relativ klar als Problem erkannt hat. New Labour geht es wie einer am Neuen Markt gehypten Dotcom-Firma – sie ist beständig auf der Suche nach ”Content”, also Inhalt. New Labour veranstaltet seine beständigen Expertenhearings nicht bloß aus Kalkül und Zynismus. Die Partei sucht tatsächlich nach Ideen, die sie aufnehmen und in Politik umsetzen könnte. Es geht New Labour jedoch wie ihren Konkurrenten: Angesichts der veränderten Welt fehlen der Partei die Worte und Gedanken, die die Welt von heute erklären oder verändern könnten. Das scheint mir in Deutschland sehr ähnlich.Für Novo habe ich in den letzten Jahren wiederholt und gerne geschrieben, da das Magazin ohne Denkschablonen neue Ideen entwickelt. Heute, nach dem Ende der alten Politik, ist es von besonderer Bedeutung, eine neue, zukunftsträchtige Politik zu entwickeln, die dem vorherrschenden Neuen Konservatismus die Stirn bieten kann.Manche Novo-Autoren sagten mir, sie seien irritiert gewesen, weil ihre Ansätze und Überlegungen von Dritten mitunter als ”rechts”, ”konservativ” oder gar ”reaktionär” abgelehnt wurden. Dabei sollte es nicht überraschen, dass gerade diejenigen, die noch ganz in der Vergangenheit leben, nicht in der Lage sind, zu begreifen, welche Anliegen Novo verfolgt. Vereinfacht aus der Vergangenheit übernommene Kategorisierungen nach ”rechts” und ”links” hemmen jeden Versuch, die Gegenwart zu verstehen und zu verändern. Novo bekennt sich zu zahlreichen Errungenschaften vergangener Zeiten – zu Errungenschaften, die viele vermeintlich Progressive heute ablehnen oder nur noch halbherzig hinnehmen. Novo ist dabei aber nicht traditionalistisch, sondern tritt entschieden für Fortschritt und Wandel ein.


Schlagworte wie ”Machbarkeitswahn” und ”Fortschrittsgläubigkeit” zeigen, dass die Zweifel an den Fähigkeiten der Menschen das Zutrauen in die Möglichkeiten menschlicher Kreativität deutlich überwiegen. Deshalb ist es heute besonders wichtig, auf die Möglichkeit und die Notwendigkeit, Fortschritt zu gestalten, immer wieder hinzuweisen. Nur durch die Erweiterung des Wissens und durch Fortschritte in Wissenschaft und Technologie können wir dafür sorgen, dass die Welt sicherer, aufgeklärter und menschlicher wird. Das Problem, das wir heute zu bekämpfen haben, ist nicht ”die Arroganz der menschlichen Spezies”, sondern der Verlust jedes Vertrauens in die Möglichkeit, durch Experimente, Tatkraft und Risikofreudigkeit Fortschritte zu erreichen.
Heute muss zuallererst die Kultur des Maßhaltens, der Bescheidenheit und Verzagtheit angriffen werden, da sie dazu führt, dass jedes Experiment, jeder Fortschritt als ”nicht nachhaltig” abgelehnt wird. Eine aufgeklärte Gesellschaft muss für neue Ideen, für Experimente und für den Wandel offen sein.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Wandel offensichtlich unaufhaltsam ist. Trifft dieser Wandel jedoch auf allerlei Vorbehalte und Barrieren, wird er zu einem Zerrbild, einer Travestie. Viele geistige und kulturelle Neuerungen unserer Zeit zielen vor allem darauf, Wandel einzudämmen. Ein derartiges geistiges Klima führt notwendigerweise zu einer ängstlichen Ablehnung jeglichen Fortschritts und zu der Unfähigkeit, ihn positiv zu gestalten.

“Das kulturelle und geistige Klima richtet sich gegen die Aufklärung und ihre Errungenschaften.”

Das kulturelle und geistige Klima von heute richtet sich im Grunde gegen die Aufklärung und ihre Errungenschaften. Die Moderne wird dabei vorherrschend als Prozess der Zerstörung gesehen, der im Holocaust seinen Tiefpunkt fand. Vernunft und Rationalität gelten als problematisch und gefährlich. Beispielhaft drückt sich dies in der sprichwörtlich gewordenen Fehlübersetzung eines Mottos des Malers Goya aus. Hieß es bei Goya ”Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer” (El sueno de la razon produce monstruos), d.h. die Abwesenheit der Vernunft führe in die Katastrophe, so lautet die landläufig zitierte Fehlübersetzung heute ”Der Traum von der Vernunft gebiert Ungeheuer” – das genaue Gegenteil des ursprünglich Gemeinten. Am verhängnisvollsten ist, dass heutzutage die Besonderheit und Einzigartigkeit der Menschheit zur Disposition gestellt wird. Die singulären, schöpferischen Möglichkeiten der Menschen werden häufig abgetan oder bestritten. Manche gehen dabei so weit, den Homo sapiens des ”Rassismus” gegen andere Arten zu bezichtigen.


Hiergegen gilt es beständig die Möglichkeiten der Menschen zu betonen – nur so lässt sich Fortschritt erkämpfen. Eine Sicht der Welt mit dem Menschen im Mittelpunkt beinhaltet selbstverständlich auch die Einsicht, dass Menschen destruktiv sein können und dass Interessenkonflikte möglicherweise in einem Desaster enden. Die negativen, destruktiven und entsetzlichen Ereignisse der letzten zwei Jahrhunderte – die Weltkriege, der Holocaust – sind aber durchaus nicht der Preis des Fortschritts, sondern vielmehr eine Folge mangelnden Fortschritts. Die Probleme, denen wir uns heute gegenüber sehen, haben ihre Ursache gleichfalls nicht in Vernunft, Rationalität oder Wissenschaft, sondern in deren Abwertung. Dort, wo die Menschen die ihnen innewohnenden Möglichkeiten nicht umsetzen können, wachsen auch die Probleme.

Humanismus, Wissenschaft und intellektuelle Auseinandersetzung müssen hoch greifen und gleichzeitig offen sein – und zwar offen für alle Gedanken und Richtungen. Da heute die Meinungsfreiheit immer mehr durch allerlei Zensurmaßnahmen beschnitten wird, ist es von besonderer Bedeutung, sich ohne Einschränkung für offene Diskussionen und völlige Meinungsfreiheit einzusetzen.
Da heute sehr oft ”der Mensch” als das eigentliche Problem und Experimente und Risiken vor allem als Bedrohung gesehen werden, gilt es, die Bedeutung, die Einzigartigkeit und die unbegrenzten Möglichkeiten des menschlichen Subjekts besonders zu betonen. Eine Gesellschaft, die Opfer zu ihren Helden macht, die menschliches Verhalten zum Symptom von Syndromen und Süchten erklärt und zwischenmenschliche Beziehungen in erster Linie aus dem Blickwinkel von Gewalt und Missbrauch betrachtet, hat eine sehr geringe Meinung vom menschlichen Subjekt. In ebendiesem Geiste versuchen heute zahlreiche Institutionen – vom Erziehungswesen bis zur Arbeitswelt – uns darin zu schulen, möglichst selbstgenügsam, bescheiden und ängstlich zu sein. So wird nicht etwa versucht, Bedingungen zu schaffen, in denen Menschen sich selbst verwirklichen können. Stattdessen werden Programme angeboten, die das Selbstvertrauen heben sollen. In solchen Kursen soll man lernen, sich besser zu fühlen, ganz gleich, was man wirklich tun oder erreichen kann. Therapieangebote, Beratung und Betreuung für alle nur denkbaren Probleme, Notrufnummern und Selbsterfahrungsgruppen sind typisch für unsere Zeit. Sie sind typisch dafür, dass man sich von Ehrgeiz, Selbständigkeit und Eigeninitiative verabschiedet hat.

Anstatt Menschen die Möglichkeit zu geben, etwas zu tun, gibt man ihnen heute lieber die Möglichkeit, sich zu beschweren. Diesbezügliche Foren sind so zahlreich wie frei von praktischem Nutzen. Bemitleiden lassen kann man sich dort wegen zuviel Stress, zu wenig Liebe, wegen Kränkungen, Beleidigungen, Belästigungen und einer Vielzahl traumatischer Erlebnisse, die sich fast allesamt um Kleinigkeiten drehen, die früher als lästige Bagatelle galten.

Wesentliche Teile der Gesellschaft sind heute von Versagensangst geprägt. Einige Lehrer haben Prüfungen bereits als eine Form von Kindesmissbrauch bezeichnet. Um niemanden zu überfordern, werden allmählich die Normen im Bildungswesen heruntergeschraubt. Umgekehrt werden Erfolgsmomente und Leistungen von vornherein misstrauisch beäugt oder als fast krankhaft abgetan.
Damit Menschen ihre Möglichkeiten ausleben und verwirklichen können, brauchen sie mehr Spielraum und größere Autonomie. Will man für den Fortschritt kämpfen, muss man sich deshalb dagegen zur Wehr setzen, dass die Privatsphäre immer mehr eingeschränkt und reglementiert wird. Der Staat mischt sich in wachsendem Ausmaß in Dinge ein, die vormals Privatsache waren, da immer weniger davon ausgegangen wird, dass Menschen in der Lage sind, ihr Leben selbst zu regeln. Solche Eingriffe untergraben die Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit aber nur noch mehr. Letztendlich führt das Misstrauen, das allgegenwärtig gegen andere gehegt wird, dazu, dass wir nicht einmal uns selbst mehr trauen.

Auch der Trend, zwischenmenschliches Verhalten zunehmend zu regulieren, muss konfrontiert werden. Wie wenig heute der Mensch als mündiges eigenverantwortliches Individuum gilt, zeigt sich daran, dass Erwachsene immer öfter wie Kinder behandelt werden. Der Staat und parastaatliche Institutionen bieten mittlerweile eine Vielzahl von Kursen an, in denen Erwachsenen beigebracht wird, wie sie ihre Beziehungen führen oder ihre Kinder erziehen sollen. Die Gesellschaft geht heute nicht mehr davon aus, dass der Einzelne dazu in der Lage ist, mit seinen Gefühlen, Leidenschaften und Interessen selbstbestimmt umzugehen. Was vormals privat war, wird heute zusehends durch Benimmregeln kontrolliert.

“Therapieangebote, Beratung und Betreuung für alle nur denkbaren Probleme, Notrufnummern und Selbsterfahrungsgruppen sind typisch für unsere Zeit.”

Das Ende des politischen Lebens hat dazu geführt, dass der Staat und ein ausgedehntes Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen ihren Einfluss auf das öffentliche Leben weit ausgedehnt haben. Lobby- und Interessengruppen, häufig irreführend ”neue soziale Bewegungen” genannt, haben das öffentliche Leben übernommen und fungieren inzwischen als ”die Öffentlichkeit”. Die Folge ist, dass unser Alltag immer mehr verrechtlicht wird, dass Dritte sich immer öfter in persönliche Angelegenheiten einmischen und dass für jedes auch nur angenommene Problem eine Therapie bereitsteht – wobei die Teilnahme an solchen therapeutischen Maßnahmen immer häufiger auch erzwungen wird.


Die Annahme ist weit verbreitet, dass der Staat sich seit den 80er Jahren immer mehr zurückgezogen, sich immer mehr privatisiert habe. Die Annahme ist grundfalsch. Zwar wurde der Wohlfahrtsstaat ”zurückgebaut”, und Regierungen sprechen viel davon, immer mehr mit privaten Lösungen im sozialen und wirtschaftlichen Bereich zu experimentieren. Trotzdem haben die Eingriffe des Staats erheblich zugenommen. ”Im Zweifelsfall regulieren” könnte heute das Motto der Staatspolitik lauten. Regierungen geben heute gerne Richtlinien und Empfehlungen heraus, die ausführen, was und wie viel Eltern ihren Kindern vorlesen sollten, welche Art von Fleisch man essen darf und in welchen Mengen oder ob und wann man es Kindern überhaupt gestatten kann, mit dem Handy zu telefonieren. Es kommt uns in England schon fast normal vor, wenn staatliche Institutionen Mütter dazu anhalten, ihre Kinder zu stillen. Jede derartige Empfehlung oder Vorschrift mag für sich genommen trivial sein. In der Summe ist hier jedoch ein engmaschiges Regulationssystem am Wachsen, das Menschen jegliche Kontrolle über ihr Leben entzieht.
Wenn man Menschen nicht einmal mehr zutraut, dass sie die Ernährung ihrer Kinder selbst auf die Reihe kriegen, kann man sie dann als mündige Bürger behandeln, wenn es darum geht, die Zukunft zu gestalten? Es überrascht im Grunde wenig, dass Wahlen den meisten heute ziemlich egal sind. Eine politische Elite, von der sie als unvernünftige Kinder behandelt werden, gibt umgekehrt ebenso klar zu verstehen, dass es auf sie sowieso nicht ankommt.


Die Politik des Neuen Konservatismus ist die Identitätspolitik. Sie basiert auf der Annahme, dass entscheidend sei, wer man ist. Zufälligkeiten der Geburt, ethnische Zugehörigkeit oder eine Krankheit, eine Behinderung oder sexuelle Vorlieben werden hierbei mit großer Bedeutung aufgeladen. Eine Gesellschaft, die am höchsten das bewertet, was man ist und weit weniger das, was man getan oder erreicht hat, weist dem Individuum eine passive Rolle zu. Identitätspolitik ist somit nicht nur spaltend; Identitätspolitik verlangt vom Einzelnen nichts. Jeder muss nur darüber glücklich sein, dass er oder sie das ist, was er oder sie eben ist. Dieses Eigenlob für etwas, für das man nichts kann, wird dann Selbstachtung genannt.
Identitätspolitik spiegelt eine Bewusstseinsebene, die weit hinter das zurückfällt, was die Denker der Aufklärung vor langer Zeit erreichten. Die Aufklärung reagierte unter anderem gegen die altbackene Annahme, dass Menschen durch ihre Herkunft geprägt und festgelegt seien. Die Aufklärung postulierte, dass Menschen, indem sie Geschichte machen, auch sich selbst entwickeln. So entwickelte sich in dieser Epoche ein Bewusstsein, das über die spezifischen Erfahrungen Einzelner oder kleinerer Gruppen weit hinausreichen konnte. Heute, da jeder Forderung nach Universalismus fast nur noch zynisch begegnet wird, vergisst man leicht, dass grundlegende Prinzipien der Gleichheit und Gleichberechtigung erst mittels dieser Perspektive möglich wurden.


Es ist notwendig, sich heute für intellektuelle Positionen einzusetzen, die sich weitgehend vorbehaltlos der Zukunft zuwenden und den Wandel bejahen. Dazu gehört, Pessimismus überall anzugreifen, wo er auftaucht, und auf alle potenziell positiven Möglichkeiten und Entwicklungen hinzuweisen. Die Menschen müssen selbst erfahren, dass den Wandel abzulehnen ungleich gefährlicher ist als der Versuch, Wandel und Fortschritt zum Wohle aller zu fördern und zu gestalten.
Heute, da sich alle politischen Visionen erschöpft haben, ist es sehr einfach, pessimistisch in die Zukunft zu blicken. Ein solcher Pessimismus steht aber in keinem Verhältnis zu einer Welt, die sich auf vielerlei Art wandelt, entwickelt und die zahlreiche Gestaltungsmöglichkeiten bietet. Die Politik steckt in einer Sackgasse. Die Veränderungen aber, die die Moderne angeschoben hat, lassen sich nicht bremsen. Auch der Neue Konservatismus, diese Verzagtheit angesichts einer vermeintlich chaotischen Welt, kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen.


Die alten politischen Allianzen und Organisationen werden allmählich neuen Formen und Inhalten Platz machen. Es ist dabei recht wahrscheinlich, dass sich die neuen Bewegungen und Organisationen um gemeinsame Einstellungen gegenüber Wandel und Fortschritt bilden werden. Schon heute ist die entscheidende Frage nicht die nach Rechts oder Links, sondern die, ob man sich für den Fortschritt einsetzt oder ihn ablehnt.
In einer Zeit, die von Verzagtheit und Angst beherrscht wird, fällt es schwer, offen und fortschrittlich zu sein. Es gibt aber zahlreiche Menschen, die an das humanistische Projekt glauben und die bereit sind, sich gegen die misstrauische, ängstliche Mehrheitsstimmung von heute zu richten. Das kann nur schrittweise gelingen. Es ist daher besonders wichtig, die Vorstellungskraft der Menschen zu beflügeln. Hierfür ist Novo und sind andere Projekte von Bedeutung.

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