01.05.2006

„Die FIFA sollte die Schiedsrichter anweisen, weniger kleinlich zu pfeifen“

Kommentar von Novo-Redaktion

Eines der größten Probleme im modernen Fußball ist die kleinliche Regelauslegung.

NovoArgumente:Der Weltfußballverband FIFA hat die Schiedsrichter angewiesen, bei der WM in Deutschland bei Foulspiel, Spielverzögerungen und „Schwalben“ hart durchzugreifen. Eine gute Idee, oder?

Christoph Bausenwein: Eigentlich sollte man das denken. Ich befürchte aber, dass sich die FIFA-Anweisung im Verlauf des Turniers als kontraproduktiv herausstellen wird.

Worauf stützt sich Ihre Befürchtung?

Auf die Erfahrungen der letzten Jahre: Die FIFA greift seit etwas mehr als zehn Jahren so tief ins Regelwerk ein wie nie zuvor seit Beginn des 20. Jahrhunderts. 1993 mit dem Verbot der „Grätsche von hinten“ beginnend, führten diese Eingriffe vor allem zu einer verschärften Ahndung des Foulspiels. Die Folgen waren – und sind – mehr Pfiffe der Schiedsrichter und eine Zunahme von Frei- und Strafstößen. Dem Fußball haben diese Veränderungen wohl eher geschadet. Es kommt heute viel häufiger zu Unterbrechungen als früher, ein freies, fließendes Hin und Her ist immer seltener zu sehen. Außerdem gibt es immer weniger herausgespielte Treffer. Zu viele Spiele werden durch so genannte „Standardsituationen“ entschieden. Bei der WM in Deutschland wird das leider nicht anders sein.

Bei der WM 2002 wurden insgesamt 17 Platzverweise und 260 Verwarnungen ausgesprochen. Dazu im Vergleich die WM 1970 in Mexiko: kein Mal Rot, 52-mal Gelb. Ist die von Ihnen angesprochene verschärfte Ahndung des Foulspiels eine der Ursachen für die „Karteninflation“ im modernen Fußball?

Natürlich. Bis zur WM in Mexiko gab es ja noch nicht einmal gelbe Karten. Man hat sie eingeführt, um auch für leichtere Vergehen persönliche Strafen aussprechen zu können. Früher waren Platzverweise eine Seltenheit. Heutzutage werden bei fast jeder WM neue Kartenrekorde aufgestellt. Das wird auch bei der WM in Deutschland so sein. Obwohl man sich schon auch die Frage stellen kann, ob die Schiedsrichter in Deutschland überhaupt noch mehr Karten verteilen können, als sie es bei den letzten beiden Weltmeisterschaften getan haben. In Japan und Südkorea wurden pro Spiel durchschnittlich bereits mehr als vier gelbe Karten gezeigt, in einigen Begegnungen sogar zehn, also für jeden zweiten Feldspieler eine. Dazu gab es in beinahe jedem dritten Spiel einen Platzverweis. Lediglich zwei Gruppenspiele blieben „kartenfrei“.

Könnte es nicht auch sein, dass der moderne Profifußball einfach brutaler geworden ist?

Viele Karten bedeuten keineswegs mehr Brutalität. Man muss nur einmal alte Spielberichte oder Aufzeichnungen von alten Spielen ansehen, um festzustellen, wie hart es früher zuging. 1980, im Bundesligaspiel zwischen Leverkusen und Frankfurt, holte der Leverkusener Jürgen Gelsdorf den schnellen Bum-kun Cha so brutal von den Beinen, dass der nur knapp der Invalidität entging. So etwas kommt heute kaum noch vor.

Aber hat dann nicht die Verschiebung in der Regelauslegung auch ihre positiven Seiten?

Einerseits haben die angesprochenen Regeländerungen sicher dazu beigetragen, dass Fouls mit gravierenden Verletzungen praktisch nicht mehr vorkommen. Andererseits haben die ganzen Eingriffe ins Regelwerk aber auch eine ungesunde Eigendynamik entfaltet, die dem Sport an sich nicht wirklich gut getan hat.

„Nicht das wirkliche Foul ist heute ein Problem, sondern das vorgetäuschte.“

Inwiefern?

Franz Beckenbauer sagte einmal in einem Interview im Kicker: „Heute darfst du den Stürmer gar nicht mehr berühren, schon hast du Gelb.“ Beckenbauer übertreibt nicht. Das harte Tackling wurde verboten; die Verteidiger reagierten darauf, indem sie fortan ihre Gegner am Trikot zupften; daraufhin wurde auch das Zerren am Trikot schärfer geahndet. Diese Situation nutzen nun die Stürmer, um sich bei jeder Berührung theatralisch fallen zu lassen. Das machen sie mittlerweile so perfekt, dass man oft sogar in der Zeitlupe nicht mehr erkennen kann, wann nun tatsächlich ein Foul vorliegt. In Italien haben die simulierten Fouls derart überhand genommen, dass sich der Verband zu Beginn der Saison 2005/06 sogar genötigt sah, Foul-Betrüger nach Fernsehbeweis mit Sperren von mindestens zwei Spielen zu belegen. Nicht das wirkliche Foul ist heute ein Problem, sondern das vorgetäuschte. Das werden wir auch bei der WM in Deutschland wieder deutlich vor Augen geführt bekommen.

Mit anderen Worten: Auch wenn es heute sehr viel seltener auf dem Fußballplatz kracht, fairer läuft das Ganze nicht ab?

Richtig. Die Veränderungen im Fußball-Regelwerk sind eine Steilvorlage zum Simulieren – und das ist ja wohl das Gegenteil von fairem Verhalten.

Bleibt die Frage: Was hat die FIFA ursächlich dazu bewogen, so einschneidende Regeländerungen vorzunehmen?

Die Veränderungen müssen wohl vor dem Hintergrund der großen „Krise“ des Fußballs in den 80er-Jahren gesehen werden, als Hooligans und Stadionkatastrophen wie die 1985 im Heysel-Stadion von Brüssel den Fußball in Verruf brachten. Man säuberte zunächst die Ränge, baute dann neue, komfortable Stadien für ein „besseres“ Publikum und für die ganze Familie. Im Zuge dieser Veränderungen geriet dann auch das angeblich brutale Spiel selbst ins Visier: Man wollte nicht nur Ruhe auf den Rängen, sondern auch auf dem Rasen einen „sanften“ Fußball. Und das Ganze hat dann, wie schon gesagt, eine ungeahnte Eigendynamik entwickelt.

Fußballer werden heute auch für alle möglichen Kleinigkeiten mit einer Verwarnung bestraft: Zeitspiel, Ballwegschlagen, absichtliches Handspiel, zu frühes Herauslaufen aus der Mauer, übermäßiges Jubeln usw. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Dem Wohle des Fußballs dient es sicher nicht, wenn selbst nach dem Pfiff des Schiedsrichters noch einmal bestraft wird – etwa wegen Ballwegschlagen, übermäßigem Jubel oder irgendeiner Schimpferei. Wenn ein Team eventuell dezimiert wird durch ein lächerliches Vergehen, das nicht einmal aus dem Spiel heraus begangen worden ist, ist das oft nicht nur unverhältnismäßig, sondern es kann auch den Spielverlauf auf den Kopf stellen, und in jedem Fall schadet es der Atmosphäre. Was ist denn so schlimm daran, wenn Spieler ihre Emotionen herauslassen? Davon lebt doch der Fußball.

Wo mehr gepfiffen wird, gibt es also zwangsläufig auch mehr Fehlentscheidungen und mehr Kritik. Ist das die eigentliche Ursache für die alljährlich wiederkehrende Schiedsrichter-Schelte in der Bundesliga?

Schiedsrichter pfeifen heute mehr als früher: Nicht nur häufiger in absoluten Zahlen, sondern, aufgrund der Ausweitung des Strafkatalogs, auch in viel zahlreicheren Fällen. Dass sie dabei oft falsch liegen, kann man ihnen kaum zum Vorwurf machen. Selbst nach mehreren Wiederholungen im Fernsehen ist ein simuliertes Foul häufig kaum von einem echten zu unterscheiden. Man sollte also nicht die Schiedsrichter kritisieren, sondern die Vorschriften, deren Opfer sie sind.

Also sollte die FIFA die Schiedsrichter anweisen, wieder weniger kleinlich zu pfeifen?

Das wäre in der Tat ein erster Schritt in die richtige Richtung. Die Ausweitung des Strafauftrags hat in der Vergangenheit nur zu einer weiteren Ausweitung des Strafauftrags geführt. Seit 1999 können die Schiedsrichter nun auch eine „Schwalbe“ mit der gelben Karte ahnden. Das hat erneut die Zahl der Möglichkeiten erhöht, Fehlentscheidungen zu treffen. Ein Spieler kann bestraft werden für das Vortäuschen eines Fouls, das vielleicht tatsächlich eines war. Man wollte das Foulspiel reduzieren, aber genau das hat nicht geklappt. Heute wird so viel über Fouls – oder angebliche Fouls – diskutiert und gestritten wie nie zuvor.

Vielen Dank für das Gespräch.

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