01.11.2001
Die Fett-Saga
Analyse von Udo Pollmer
Die traurige, aber wahre Geschichte des bösen Nahrungsfetts hätte durchaus das Zeug, zu einem Vierteiler "Aufstieg und Niedergang eines Ernährungsmythos" verarbeitet zu werden. Udo Pollmer hat ein Drehbuch dafür geschrieben.
Erster Akt:
Wie alles begann – das Fettgespenst erhebt sich
Der Zweite Weltkrieg war vorüber;, allerorten blühte das Leben wieder auf, und Wohlstand breitete sich ausbegann sich zu entwickeln. Da tauchte plötzlich wie aus dem Nichts ein neues Gespenst auf und fällte scheinbar gesunde Männer mittleren Alters. Reihenweise Herzinfarkte aus heiterem Himmel! Woher kam diese Epidemie? Zu den ersten, die das Nahrungsfett verdächtigten, gehörte der Biochemiker Ancel Keys. Er forderte auch gleich, den Fettanteil in der Ernährung auf 30 Prozent der konsumierten Kalorien zu beschränken – ohne allerdings greifbare Beweise für diesen Zusammenhang zu haben.
Als Keys in seiner 1952 durchgeführten Sieben-Länder-Studie feststellte, dass die Herzinfarktrate um so höher ist, je mehr Fett in einem Land verzehrt wird, sah er sich bestätigt. (Wie wir heute wissen, lassen sich solche Ergebnisse durch Auswahl der „richtigen“ Länder nach Belieben erzeugen. Untersucht man die These dagegen innerhalb der Bevölkerung eines Landes, lösen sich die Korrelationen schnell in Luft auf.) 1961 leitete Keys aus den Daten der Framingham-Studie einen Zusammenhang zwischen der Höhe des Cholesterinspiegels und der Herzinfarktrate her. (zur Fälschungstechnik siehe Seite 79alt). Damit schaffte er es auf die Titelseite des Time Magazine.
Doch es gab auch Gegenpositionen, zum Beispiel von Edward H. Ahrens, der Grundlagenforschung zum Stoffwechsel von Fetten und Cholesterin betrieb. Er und einige Kollegen warnten 1969 in einem Bericht für das National Heart Institute davor, dass sich eine fettarme Ernährung negativ auf Nerven, Zellmembranen und Blutgerinnung auswirken könnte. Um Vor- und Nachteile einer solchen Maßnahme gegeneinander abwägen zu können, wären umfangreiche Studien mit Zehntausenden von Teilnehmern nötig, die man über Jahre hinweg beobachten müsste. Das amerikanische Gesundheitsministerium schätzte die Kosten einer solchen Untersuchung auf eine Milliarde Dollar und beschloss, für einen Bruchteil davon lieber ein paar kleinere Studien durchführen zu lassen.
Zweiter Akt:
Die Politik übernimmt die Initiative – oder Wwie das Leben so spielt
In dieser Situation traf es sich, dass Senator George McGovern vom Ausschuss für Ernährung und menschliche Bedürfnisse (Nutrition and Human Needs) gerade auf der Suche nach einem neuen Betätigungsfeld war. Dieser Ausschuss, der einst eingerichtet worden war, um die Unterernährung in den USA zu beseitigen, stand Mitte der siebziger Jahre kurz vor der Auflösung. McGovern wollte den Posten nur ungern aufgeben, und so widmete sich der Ausschuss dann eben der Überernährung.
McGoverns Ausschuss beauftragte den von wissenschaftlichen Kenntnissen völlig unbeleckten Journalisten Nick Mottern, die ersten Ernährungsrichtlinien für die Vereinigten Staaten zu verfassen. Dieser ließ sich zum Thema Fett von Mark Hegsted beraten, einem Ernährungswissenschaftler, der unerschütterlich an die Vorteile einer fettreduzierten Ernährung glaubte. Also schrieb Mottern, wie ihm geheißen, die Amerikaner sollten vorsorglich weniger Fett essen und vor allem tierische Fette meiden.
Als der Ausschuss Anfang 1977 seine „Dietary Goals“ (Ernährungsziele) veröffentlichte, hagelte es von allen Seiten Kritik. Edward Ahrens mahnte, solche Empfehlungen seien mit einem Großversuch gleichzusetzen, bei dem die Bürger die Versuchskaninchen darstellten. Es meldeten sich auch Vertreter der Molkereien und Fleischverarbeiter zu Wort, die aus nahe liegenden Gründen gegen die Richtlinien waren. Eine revidierte Ausgabe der „Dietary Goals“ erschien, die Kritik blieb. Nun hätten diese ersten Ernährungsrichtlinien mit der Auflösung des McGovern-Ausschusses Ende 1977 in der Versenkung verschwinden können, wenn sich nicht zwei amerikanische Einrichtungen bemüßigt gefühlt hätten, darauf zu reagieren – allerdings völlig gegensätzlich.
Carol Tucker Foreman vom Landwirtschaftsministerium, eine aktive Verbraucherschützerin, hielt es für die Pflicht ihrer Behörde, die Empfehlungen des McGovern-Ausschusses in Politik umzusetzen. Sie wusste um die laufenden wissenschaftlichen Kontroversen, aber sie vertrat den Standpunkt: „Ich muss jeden Tag essen und meine Kinder auch. Also sagt mir, was die Datenlage hergibt.“ Das hing natürlich davon ab, wen man danach fragte – und Carol Tucker Foreman fragte Mark Hegstedt. Entsprechend fielen die „Dietary Guidelines for Americans“ aus, die das Landwirtschaftministerium bald darauf herausgab.
Drei Monate später hielt die Ernährungssektion der amerikanischen Akademie der Wissenschaften (NAS Food and Nutrition Board) dagegen. Diese Institution erarbeitet regelmäßig die quasi amtlichen Empfehlungen für die Nährstoffzufuhr (Recommended Dietary Allowances). In ihrem Ratgeber „Towards Healthful Diets“ (etwa: Wie wir uns gesünder ernähren können) verlautbarte die Akademie, die einzige gesicherte Empfehlung, die man einem gesunden Menschen geben könne, sei die, aufs Gewicht zu achten. Alles andere, Nahrungsfett eingeschlossen, würde sich schon selbst regeln.
Dieser Rat wurde – vor allem von der Presse – äußerst ungnädig aufgenommen. „Unverantwortlich“ war der Tenor der Journalisten, die zuvor den McGovern-Bericht und die „Dietary Guidelines“ gelesen hatten. Als dann noch jemand aus dem Landwirtschaftsministerium gegenüber beider Presse durchblicken ließ, dass sich das Food and Nutrition Board aus Industriespenden finanzierte, gab es kein Halten mehr. Ein ungeheurer Sturm der Entrüstung brach los. Das Food and Nutrition Board hatte seine Glaubwürdigkeit verloren, und die „Dietary Guidelines“ von Mark Hegstedt wurden zur offiziellen amerikanischen Gesundheitspolitik erhoben. Motto: „Eat less fat. Live longer!“ (Iß weniger Fett und du lebst länger!)
Dritter Akt:
Wissenschaftlermühlen mahlen langsam
Anfang der achtziger Jahre konnten die ersten sechs Langzeitstudien, die beweisen sollten, dass weniger Fett ein längeres Leben bedeuten, ausgewertet werden. Aber sie brachten nicht das erhoffte Ergebnis. In Honolulu, Puerto Rico, Chicago und Framingham hatte man die Herzinfarkte gezählt, aber nirgendwo fand sich der Beweis, dass Männer, die weniger Fett essen, tatsächlich länger lebten oder seltener einen Infarkt erlitten. In einer anderen Studie (MRFIT) waren mehrere Risikofaktoren gleichzeitig untersucht worden: Die Teilnehmer aßen weniger Fett, hörten auf zu rauchen und nahmen Medikamente gegen hohen Blutdruck. Wenn aus den Ergebnissen überhaupt etwas abzulesen war, dann, dass der Verzicht auf Fett das Leben verkürzt.
Die sechste Studie versuchte, den Cholesterinspiegel der Teilnehmer zu senken – allerdings nicht via Ernährung, sondern allein mit Pillen. Nach sieben Jahren hatte man die Wahrscheinlichkeit, an einem Herzinfarkt zu sterben, von 2,0 auf geschlagene 1,6 Prozent gesenkt. Dieses Ergebnis wurde von den Autoren der Studie als der große Durchbruch gefeiert. Dass nur Männer mit exorbitant hohen Cholesterinspiegeln an der Studie teilgenommen hatten, hinderte die Autoren nicht an der Schlussfolgerung, von solchen Maßnahmen könnten genauso Frauen und Menschen mit niedrigeren Cholesterinspiegeln profitieren. Noch ungenierter war die Folgerung durch den Leiter der Studie, Basil Rifkin, dass eine fettarme Ernährung (zur Aufklärung dieses Irrtums siehe Seite 133alt) natürlich genauso gut sei wie Tabletten. Die Medien freuten sich über die klaren Aussagen des Professors und verbreiteten bereitwillig die Schlagzeile: „Es stimmt! Cholesterin ist wirklich ein Herzkiller.“
Doch es bröckelte auch an anderen Fronten: „Zuviel Fett löst Krebs aus“ und „Fettarme Diäten sind gut zum Abnehmen“ (siehe dort) waren zwei weitere beliebte Fettarien. Es dauerte 15 Jahre und kostete Hunderte Millionen Dollar an Forschungsgeldern, bis der World Cancer Research Fund zusammen mit dem American Institute for Cancer Research 1997 einen Expertenbericht mit dem Fazit veröffentlichte, es gebe weder überzeugende, ja noch nicht einmal wahrscheinliche Gründe für die Annahme, dass Nahrungsfett Krebs erzeuge. Und mehrere sorgfältig durchgeführte Abspeck-Studien kamen alle zum gleichen Ergebnis: Mit fettarmer Diät verlieren die Teilnehmer am Anfang ein paar Kilo, und nach ein, zwei Jahren ist alles wieder beim Alten.
Andererseits stießen die Forscher immer wieder auf böse Überraschungen. 1986, ein Jahr, nachdem die US-Gesundheitsbehörde NIH ihr nationales Cholesterin-(Um-)Erziehungsprogramm gestartet hatte, das alle Amerikaner ab dem zweiten2. Lebensjahr zu fettarmer Ernährung anhielt, reiste der Epidemiologe David Jacobs nach Japan. Wie er mit Erstaunen feststellte, riet man den Menschen dort, ihren Cholesterinspiegel zu erhöhen! Weil niedrige Cholesterinspiegel nämlich mit einem erhöhten Schlaganfallrisiko einhergingen. Wieder zu Hause, durchforstete Jacobs die Daten der MRFIT-Studie – und sah die Japaner bestätigt. Doch nicht nur das: Auch die Lebenserwartung von Männern mit weniger als 160 Milligramm pro Deziliter Cholesterin im Blut war deutlich verkürzt. Jacobs informierte das National Heart Lung and Blood Institute über seine Entdeckung. Auf einer Konferenz, die das NHLBI 1990 einberief, wurden 19 Studien aus aller Welt vorgelegt und diskutiert, die alle das Gleiche zeigten: Bei Frauen wird die Lebenserwartung nicht vom Cholesterin beeinflusst. Bei Männern verringern niedrige Cholesterinwerte zwar das Herzinfarktrisiko, erhöhen aber das Schlaganfallrisiko. Entscheidend: Insgesamt sinkt die Lebenserwartung (die Details finden Sie auf Seite 85alt). Die frühen Warnungen von Ahrens waren also berechtigt: Fettreduzierung kann sich nachteilig auswirken.
Letzter Akt:
Das Ende vom Lied oder Wo bleibt das Happy End?
Eine Ära ist zu Ende. 50 Jahre Fett-Hysterie liegen hinter uns. Jetzt gilt es, aus den Fehlern zu lernen und Schadensbegrenzung zu betreiben. Denn folgenlos ist die gesundheitliche Umerziehung nicht an den Menschen vorübergegangen. Der größte Denkfehler war vermutlich der zu glauben, man müsse nur die energiereichen fetten Nahrungsmittel vom Speisezettel streichen und dann würden die Menschen insgesamt weniger Kalorien aufnehmen. Aber es zeigte sich, dass sie mehr Kohlenhydrate essen, wenn sie auf Fett verzichten. Inzwischen kennt die Medizin ein neues Krankheitsbild mit Namen „Syndrom X“. Ursache ist offenbar die kohlenhydratreiche Ernährung, weil sie die Insulinresistenz fördert. Die Folge: ein stark erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen – also genau das, was man mit fettarmer Ernährung hatte verhindern wollen. Außerdem führt der Austausch von Fetten durch Kohlenhydrate zu einer hormonellen Fehlregulation des Hungergefühls und damit bei manchen Menschen zu Übergewicht.
Wie tröstlich, jetzt von einem der führenden Köpfe der American Heart Association (AHA) zu hören, es sei wissenschaftlich naiv zu glauben, dass eine einzige Ernährungsweise für alle Menschen gleich gesund sei. „Ob etwas so Komplexes wie die Nahrungsfette ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ ist, hängt letztendlich von den individuellen Gegebenheiten ab“, sagt Ron Krauss, Vorsitzender des Komitees für Ernährungsrichtlinien bei der AHA.