01.09.2002

Die falschen Freunde der Armen

Essay von Michael Miersch und Dirk Maxeiner

Ob Gentechnik, Regenwald oder Globalisierung: Authentische Respektspersonen aus den armen Ländern des Südens schmücken die Podien und sorgen für Aufmerksamkeit. So wurde die Inderin Vandana Shiva zum Importschlager der europäischen Protestindustrie. Doch von Indiens Bauern wurde sie nicht gewählt. Das und mehr berichten Dirk Maxeiner und Michael Miersch in ihrem neuen Buch "Die Zukunft und ihre Feinde", aus dem wir auf den folgenden Novo-Seiten ein Kapitel präsentieren.

Fortschritt ist eine messbare Tatsache. Er misst sich an Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, Alphabetisierung, Nahrungskalorien pro Kopf, Durchschnittseinkommen und vielen anderen Indikatoren. Welchen davon man auch immer nimmt, alle sahen vor 25, 50 oder vor 100 Jahren schlechter aus als heute. Die Welt ist besser geworden, entgegen aller Prognosen von Endzeitpropheten und kulturpessimistischen Intellektuellen. Heute haben weltweit mehr Erdenbürger genug zu essen, mehr Kinder gehen auf Schulen, mehr Völker können ihre Regierung wählen und mehr Menschen leben in Wohlstand und Freiheit als je zuvor in der gesamten Geschichte der Menschheit. Und das, obwohl Faschismus, Nationalismus und Kommunismus im 20. Jahrhundert die Entwicklung von Demokratie und Marktwirtschaft mit Strömen von Blut aufhalten wollten und momentan der Islamismus mit aller Gewalt zurück in die Vergangenheit drängt. Die Welt ist besser geworden, und sie kann in Zukunft noch viel besser werden, denn es gibt nach wie vor eine Menge zu tun. In zu vielen Ländern der Erde herrschen immer noch Armut und Unterdrückung. Im Jahr 2001 stellte die UN-Entwicklungsorganisation (UNDP) fest: Zwei Milliarden Menschen haben nicht mal eine Glühbirne in ihrer Hütte. Hundert Jahre nach Erfindung des Telefons hat in den am wenigsten entwickelten Ländern nur einer von 200 Menschen einen Telefonanschluss. Ein Drittel der Menschheit benötigt dringend billige und robuste Technik: Klärwerke und Computer, Solaranlagen und Impfstoffe, ertragreichere Getreidesorten und abgasärmere, billige Transportmittel. Doch die im Dunkeln sieht man nicht: Unter den 1223 neuen Medikamenten, die weltweit zwischen 1975 und 1996 entwickelt wurden, halfen nur 13 gegen Tropenkrankheiten, die in den ärmeren Teilen der Welt grassieren.

Anstatt aber dafür zu kämpfen, dass technischer Fortschritt und ökonomisches Wachstum auch in den Entwicklungsländern Einzug halten, empfehlen viele westliche Intellektuelle den Armen weiterhin, ihr Leben hinter dem Ochsenpflug zu verbringen. Nachdem nicht mehr geleugnet werden kann, dass die Computerindustrie in Schwellenländern nicht – wie vielfach vorhergesagt – Arbeitsplätze vernichtete, sondern Millionen von Arbeitsplätzen geschaffen hat, gilt die Sorge nun der grünen Gentechnik. Vor lauter Zukunftsangst machen sich die Feinde des Fortschritts kaum Gedanken über die ganz konkreten Probleme, die die Menschen in der Gegenwart bedrücken. Doch zum Glück gibt es ein paar Ausnahmen. Die findet man aber eher bei den Naturwissenschaftlern als bei den Geistesgrößen des Kulturbetriebs. Zum Beispiel die beiden Genforscher Peter Beyer und Ingo Potrykus. Sie entwickelten eine neue vitamin-A-reiche Reissorte, die speziell unterernährten Menschen und Kleinbauern in armen Ländern zugute kommt. Doch dieser Fortschritt gelang ihnen ausgerechnet mit Hilfe der Gentechnik – dem Schreckgespenst der Kirchen und Umweltverbände. Weltweit leiden über 100 Millionen Kinder an Vitamin-A-Mangel, ein bis zwei Millionen sterben daran, viele bekommen schwere Sehstörungen. Die neue Reissorte, wegen ihrer gelblichen Farbe »Goldener Reis« genannt, kann dieses Elend lindern, denn sie enthält besonders viel Vitamin A und Eisen. Die beiden deutschen Wissenschaftler haben von vornherein darauf geachtet, dass der Goldene Reis denen zugute kommt, die ihn am dringendsten brauchen. Im Januar 2000 verschenkten sie im internationalen Reisforschungsinstitut auf den Philippinen in einem symbolischen Akt ihre Erfindung an die Kleinbauern der Entwicklungsländer. Zuvor war es ihnen gelungen, sechs Weltkonzerne, darunter Bayer und Monsanto, zur Patentfreigabe der entscheidenden biotechnischen Verfahren zu bewegen. Dies war ein in der Wissenschafts- und Industriegeschichte bisher einmaliger Coup im Dienste der Menschlichkeit. Deutsche Politiker, die sich sonst gerne im moralischen Glanz anderer sonnen, blieben dabei merkwürdig stumm. Von Seiten der Gentechnikgegner empfingen die Wissenschaftler hingegen nur Häme und den Vorwurf, ein gefährliches »trojanisches Pferd« der Agroindustrie zu sein. Und dies, obwohl Potrykus und Beyer so ziemlich das Gegenteil von kalten Profitmaximierern sind, als die sie von ihren Gegnern gern hingestellt werden. »Unsere Reissorte wurde weder von der Industrie noch für sie entwickelt«, betonen sie. »Ihr Nutzen liegt ganz bei den armen Bevölkerungsschichten, sie wird kostenlos und ohne Beschränkung an bäuerliche Selbstversorger abgegeben. Jede Ernte kann zur Wiederaussaat verwendet werden. Sie schafft keinerlei neue Abhängigkeiten, und sie bietet reichen Landbesitzern keine Vorteile. Ebenso wenig beeinträchtigt sie die natürliche Artenvielfalt. Und sie hat, soweit erkennbar, weder negative Auswirkungen auf die Umwelt, noch birgt sie gesundheitliche Gefahren für die Verbraucher.«

Es wird Zeit, die Debatte um grüne Gentechnik neu zu führen. Denn bei genauerer Betrachtung ist es keinesfalls so, dass Gentechnikgegner die Moral für sich gepachtet haben. Nicht weil ohne Gentechnik die Menschheit verhungern würde, wie es aus den Propagandaabteilungen der Agrokonzerne tönt. Das trifft – jedenfalls zur Zeit – nicht zu, denn die Potenziale von Flächenerweiterung und konventionellen Züchtungsmethoden sind noch immer nicht ausgereizt. Ein Stopp der grünen Gentechnik wäre aus anderen Gründen verantwortungslos: Er blockiert ökologische Zukunftsoptionen. Noch sind die Forschritte der Gentechniker im Agrarbereich nicht besonders spektakulär. Aber manche Projekte, an denen Wissenschaftler derzeit arbeiten, könnten drängende Umwelt- und Menschheitsprobleme lösen. Der Goldene Reis ist nur ein Beispiel unter vielen. Dürretolerantes oder salztolerantes Getreide wären für trockene Regionen ein wahrer Segen. Eine wiederkehrende Reissorte, die wie ein Beerenstrauch jede Saison neue Früchte trägt, könnte die alljährliche Bodenbearbeitung überflüssig machen und damit Erosionsprobleme eindämmen. Ertragreichere Sorten retten Regenwälder und Savannen vor der Umwandlung in Ackerland. Denn nur, wenn auf gleicher Ackerfläche höhere Ernten erzielt werden, können die bisher ungenutzten Naturgebiete weiterhin geschont werden. Auch dies ist ein guter Grund, Kulturpflanzen gentechnisch zu verbessern.

Doch viele Politiker und Intellektuelle in den westlichen Ländern beziehen ihr Weltbild statt aus den Tatsachen lieber bei den Fortschrittsfeinden der Umweltverbände und Kirchen. Die wiederum schaffen es mit viel Geschick, ihre Gesinnungsfreunde aus den sich entwickelnden Ländern als Kronzeugen und Anwälte der Armen aufzubauen. So wurde Vandana Shiva zur wohl bekanntesten Inderin in Europa und Nordamerika (dicht gefolgt von ihrer Gesinnungsfreundin Arundhati Roy). Seit Jahren darf die »Öko-Feministin« (Selbstdefinition) auf keinem Podium fehlen, vom taz-Kongress bis zum Weltwirtschaftsforum in Davos. Sie verdammt den Goldenen Reis und empfiehlt ihren Landsleuten, sie sollten besser mehr Leber, Fleisch, Eigelb und Spinat essen. Wie sagte einst Marie-Antoinette? »Wenn das Volk kein Brot hat, soll es doch Kuchen essen.« In ihrem Heimatland wurde Frau Shiva dadurch bekannt, dass sie mit Hilfe einer Truppe aus einigen Hundert bäuerlichen Aktivisten und einigen Tausend städtischen Sympathisanten (so die indische Tageszeitung The Hindu) die Felder von Bauern verwüsten ließ, die gentechnisch verbesserte Pflanzen anbauen. Ende 1999 protestierte sie lautstark und mit großer Resonanz im Westen dagegen, dass die Opfer einer Flutkatastrophe ohne ihr Wissen von der »US-Regierung als Versuchskaninchen in einem gentechnischen Experiment« missbraucht worden seien. Was war geschehen? Ein Wirbelsturm hatte im Herbst 1999 mehrere Tausend Menschen im indischen Bundesstaat Orissa getötet, Millionen obdachlos gemacht und eine weltweite Hilfsaktion ausgelöst. Die USA schickten Güter im Wert von 6,5 Millionen Dollar, darunter Mehl aus gentechnisch verändertem Soja und Mais. Frau Shiva befand, dies sei »ein empörendes Verhalten, absolut unmoralisch. Leute, die Opfer einer Naturkatastrophe wurden, werden zum zweiten Mal zu Opfern.« Was sie nicht sagte, war, dass die gespendeten Nahrungsmittel auch in den USA und Kanada überall im Handel sind und seit Jahren von Millionen Nordamerikanern ohne Schaden verspeist werden. »Die Gentechnik«, so Vandana Shiva, »stellt jede Form des Kolonialismus, die wir bislang kannten, in den Schatten.« In einer Erklärung zum 11. September 2001 bezeichnete sie die Biotechnologie als »strukturellen Terror«, nicht weniger schlimm als die Attentate von New York und Washington. Solche Bekundungen machen sie bei vielen westlichen Bewunderern so beliebt, dass sie in Artikeln, Fernsehsendungen und auf Podien üblicherweise als die Stimme der indischen Bauern vorgestellt wird. Andere Inder halten diesen Ehrentitel indes für ziemlich abwegig, so als ob man Jutta Ditfurth und Sarah Wagenknecht als Botschafterinnen der deutschen Bevölkerung präsentieren würde. »Shiva spricht für eine städtische, intellektuelle ›Moralelite‹, die in noblen Vororten wohnt und glaubt, alles über indische Bauern zu wissen«, sagt Yazad Yal vom Centre for a Civil Society in Delhi. »Bitte erzählen Sie uns nicht, was wir Bauern tun und lassen sollen«, schrieb der Bauer Chengal Reddy in einem offenen Brief an Frau Shiva, »die Umweltaktivisten kennen die indische Wirklichkeit kaum.« Dass dieser Verdacht nicht ganz unbegründet ist, stellte Vandana Shiva in Texas unter Beweis. Dort protestierte sie mit Gesinnungsfreunden im November 2000 gegen die Agrofirma RiceTec, Inc. Vor einem Versuchsfeld erklärte sie der versammelten Presse: »Diese Reispflanzen sehen unglücklich aus. Unsere zu Hause sehen sehr glücklich aus.« »Das liegt daran«, kommentierte ein Firmensprecher, »dass dies kein Reis ist. Unser Feld wurde vor drei Monaten abgeerntet. Das ist Unkraut.«

Viele Bauern betrachten Frau Shiva keinesfalls als ihre Interessenvertreterin, sondern vielmehr als eine Bedrohung ihrer Zukunft. Zum Beispiel Baumwollbauern aus dem Bundesstaat Gujarat, deren Kulturen im Jahr 2001 auf Druck von Shivas Aktivisten durch Soldaten der Provinzregierung vernichtet wurden. Die Landwirte hatten es gewagt, eine gentechnisch verbesserte Baumwollsorte zu pflanzen, die resistent gegen ein gefürchtetes Schadinsekt ist, den Baumwollkapselwurm. Für die zerstörte Ernte erhielten sie keine Kompensation. Der Baumwollkapselwurm hatte in der Saison 2001 die gesamte Anbaufläche von Gujarat zerstört, bis auf die Felder, auf denen die genetisch veränderte Sorte (Bt-Baumwolle) wuchs. Dennoch ist sich Frau Shiva sicher: »Diese Form des Fortschritts ist falsch.« Statt grüner Gentechnik empfiehlt sie eine Abkehr von der Marktwirtschaft: »Freihandel in der Landwirtschaft ist ein Rezept für Hunger und Bauern-Suizid.« Sharad Joshi, Vorsitzender einer großen indischen Bauerngewerkschaft, sieht dies anders. Die Armut, sagt er, komme nicht von den gentechnisch veränderten Pflanzen, sondern von den Eingriffen der Regierung in die Märkte, die es den Bauern verbieten, die Preise zu fordern, die sie auf einem offenen Markt erzielen könnten. Erfahrungen mit Bt-Baumwolle in Südafrika haben gezeigt, dass Kleinbauern besonders stark von den verbesserten Pflanzen profitieren. Sie konnten fünf Sechstel der vorher eingesetzten Pestizidmenge einsparen und ihre Ernte um ein Viertel erhöhen. Großfarmer verbesserten ihre Ergebnisse ebenfalls, aber nicht so deutlich. Die Tageszeitung The Hindu kritisierte, dass Frau Shiva Indiens Bauern als rückständige, hilflose Kreaturen karikiere, die man vor der Versklavung durch die Technologie retten müsse. »In Wahrheit«, schreibt das Blatt, »ist auch der indische Bauer experimentierfreudig, und er muss es sein, wenn er überleben will.« Da Indiens Staatswirtschaft Freihandel weitgehend unterbindet, musste bisher auch kein Bauer wegen des Freihandels Suizid begehen, wie Frau Shiva prophezeite. Nach offiziellen Angaben verübten jedoch einige Hundert verzweifelte Baumwollbauern im Jahr 1998 Selbstmord, weil ihnen Schadinsekten die Ernte und damit das einzige Einkommen vernichtet hatten.

Aber was ist mit der Umwelt? »Das Wachstum des Marktes kommt dadurch zustande, dass die Natur und die Menschen ausgesaugt werden«, meint Vandana Shiva, »das ist ein sehr instabiles System und die Ursache für ökologische Krisen, Klimaänderungen, Pestepidemien und die Ursache für Armut auf der Welt.« Vor Marktwirtschaft werden Indiens Bauern durch ein enges staatliches Regelungsnetz geschützt, doch nicht immer zum Besten der Umwelt. So war es den Landwirten bis zum April 2002 verboten, Bt-Baumwolle anzubauen. Doch die genetisch veränderte Pflanze könnte ein Segen für die Ackerböden des Subkontinents sein, die den halben Pestizidverbrauch der Welt schlucken müssen. Rund 45 Prozent dieser gewaltigen Menge landet auf Baumwollfeldern. Wiederum 60 Prozent davon werden eingesetzt, um den gefürchteten Baumwollkapselwurm zu töten. So viel könnte durch resistente Bt-Baumwolle eingespart werden. Bt-Baumwolle wird seit Jahren in China, Australien, Mexiko und den USA angebaut, im Jahr 2000 auf insgesamt 1,5 Millionen Hektar. Ökologische Schäden wurden dabei nicht beobachtet. Einbußen drohen nur der Pestizidindustrie, die durch Bt-Baumwolle in Indien ein Zwei-Milliarden-Euro-Geschäft verlieren könnte. In China wird seit 1991 Bt-Baumwolle angepflanzt, zunächst experimentell und seit 1998 in kommerziellem Maßstab. Der Pestizideinsatz konnte dort um viele Tausend Tonnen reduziert werden und die Artenvielfalt auf den Feldern nahm zu und nicht ab. Während auf herkömmlichen Baumwollsträuchern im Durchschnitt 14 Insektenarten (darunter fünf Nützlinge) leben, zählten die Forscher auf den gentechnisch veränderten Pflanzen 31 Arten (darunter 23 Nützlinge). Doch, so weiß Vandana Shiva: »Die Gefahren sind dafür potenziell grenzenlos«. Diese Haltung findet der indische Ökonom Deepak Lal »atemberaubend arrogant und ignorant.« Die praktischen Effekte solcher Fortschrittsfeindlichkeit könnten »in vielen Fällen ruinös für arme Länder sein«. Vandana Shiva und Arundhati Roy seien die »Reis-Christen« von heute, sagt er. »Reis-Christen« nannten einst die Chinesen ihre Landsleute, die mit den Kolonialisten gemeinsame Sache machten. Und die Kolonialisten von heute sind nach Lals Ansicht die amerikanischen und europäischen Zukunftspessimisten, die Indiens Bauern vor dem Fortschritt bewahren wollen. Doch wo der Ökonom Fortschritt erblickt, sieht Frau Shiva die »Zerstörung der ökonomischen Basis der ländlichen Bevölkerung in der Dritten Welt«. Für den politischen Essayisten Sauvik Chakraverti aus Delhi ist dies das gleiche technikfeindliche Ressentiment, das bereits die europäischen Maschinenstürmer angetrieben hat, als sie im 19. Jahrhundert automatische Webstühle zertrümmerten. Doch bessere Technik, so die historische Erfahrung, steigert die Produktivität. Und erhöhte Produktivität führt zu mehr Wohlstand. Ein Vierteljahrhundert nach Einführung der automatischen Webstühle ergab eine Untersuchung des britischen Parlaments, dass die Zahl der Arbeitsplätze in der Textilindustrie nicht wie befürchtet abgenommen, sondern gewaltig zugenommen hatte. Dennoch ist der Trugschluss, technischer Fortschritt würde Arbeitsplätze vernichten, bis heute überaus populär (und das nicht nur in Indien). Chakraverti karikiert diese Haltung in einem Witz: »Zwei Männer beobachten einen riesigen Bagger bei der Arbeit. ›Wenn es diese Maschine nicht gäbe‹, stöhnt der eine, ›könnten Hundert von uns die Arbeit mit Spaten erledigen.‹ Darauf der andere: ›Oder eine Million mit Teelöffeln.‹«

Nicht alle Kleinbauern Indiens möchten ihr Land »mit Teelöffeln« bearbeiten, während ihre Landsleute in klimatisierten Büros sitzen und modernste Software entwickeln. Viele von ihnen möchten genauso am Fortschritt der Agrartechnik teilnehmen wie ihre Kollegen in Europa. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, wie notwendig dieser Fortschrittsoptimismus ist. Ohne die ertragreicheren Reissorten, die im Zuge der »Grünen Revolution« in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eingeführt worden sind, hätte die schnell wachsende Bevölkerung Indiens nicht ernährt werden können. Dank der »Grünen Revolution« gibt es heute so reichlich Nahrungsmittel auf der Welt wie nie zuvor in der Geschichte. Die Reiserträge in Asien stiegen seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts von 1,9 auf 4 Tonnen pro Hektar, die Weizenerträge von 0,7 auf 2,7 Tonnen. Im Jahr 2000 produzierte Indien 204 Millionen Tonnen Getreide. Mit den Techniken der sechziger Jahre hätte man die dreifache Fläche Ackerland dafür benötigt. Die traditionelle Lebensweise, die von Fortschrittspessimisten so bewundert wird, bedeutete hingegen auch, dass eines von drei Kindern vor dem dritten Lebensjahr starb.

Trotz dieser historischen Tatsachen gilt die Aufmerksamkeit des Publikums in Nordamerika und Europa Zukunftsfeinden wie Vandana Shiva, die gegen eine dringend notwendige »Zweite Grüne Revolution« zu Felde zieht, eine Produktivitätssteigerung durch gentechnische Methoden. Das Thema ist geschickt gewählt, weil es archaische Vergiftungsängste weckt. Zwar ist in Europa die Gentechnik in der Medizin weitgehend akzeptiert, weil fast jeder einen Bekannten hat, der ein lebensrettendes Genmedikament braucht. Dennoch grausen sich viele Menschen vor Gen-Soja und Gen-Mais im Essen. Die Anti-Gentechnik-Lobby weiß diese Ängste geschickt zu schüren und nimmt dafür Millionen von Spendengeldern ein. Wenn die westlichen Aktivisten damit erreichen, dass Menschen in Nordamerika und Europa gentechnisch veränderte Lebensmittel ablehnen, ist dies ihr gutes Recht. Wenn sie erreichen, dass gentechnisch veränderte Produkte gekennzeichnet werden müssen, ist das ein begrüßenswerter Beitrag zu mehr Transparenz im Supermarkt. Wenn Aldi und andere Supermärkte durch ihren politischen Druck Gentechniknahrung aus den Regalen nehmen, ist auch dies nicht weiter schlimm. Wenn sie jedoch erreichen, dass Forscher wie Potrykus und Beyer aufgeben, schadet dies den Menschen und der Umwelt. Ein Stopp der grünen Gentechnik wäre geradezu unverantwortlich, weil er Entwicklungsländern die überlebenswichtigen Zukunftsoptionen nehmen würde. »Den technologischen Durchbruch auf den Feldern der Medizin, der Landwirtschaft und der Information zu ignorieren«, sagte Mark Malloch Brown, der ehemalige Leiter des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP), im Jahr 2001, »würde bedeuten, Chancen zu verpassen, das Leben armer Menschen zu verändern.« Im Unterschied zu reichen Industrienationen, in denen das Thema ideologisch aufgeladen sei, so Brown, könnten viele Entwicklungsländer großen Nutzen aus genetisch veränderten Nahrungsmitteln, Kulturpflanzen und anderen Organismen ziehen. Der britische Wissenschaftsautor Fred Pearce hat Vandana Shiva deshalb als »den Mao Tse-tung der grünen Bewegung« bezeichnet. Ihre Rezepte, so Pearce, enthalten »genauso viel Potenzial für Hunger und soziale Verwerfung wie Maos ›Großer Sprung nach vorn‹.« Doch Pearce bleibt optimistisch: »Glücklicherweise hat sie kein Land, an dem sie es ausprobieren kann.«

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